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REALISTEN UND FUNDAMENTALISTEN

Auf dem Weg zurück ins 17. Jahrhundert: Die ideologischen Selbsttäuschungen des Westens

In seinem Selbstverständnis ist der Westen die »freie« Welt, die demokratische Welt, die vernünftige Welt, kurz: die beste aller möglichen Welten. Diese Welt sei pragmatisch und offen, ohne utopischen und totalitären Anspruch. Jeder soll »nach seiner Fasson selig werden«, wie es die Toleranz der europäischen Aufklärung versprochen hat. Und die Repräsentanten dieser Welt sagen, daß sie Realisten sind. Sie behaupten, daß ihre Institutionen, ihr Denken und Handeln sich in Übereinstimmung mit den »Naturgesetzen« der Gesellschaft befinden, mit der »Realität«, wie sie nun einmal ist. Der Sozialismus, so hören wir, sei deswegen untergegangen, weil er »unrealistisch« war. Zusammen mit dem Sozialismus soll jede Utopie einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft für immer begraben werden. Und die ehemaligen Kritiker des westlichen »way of life« drängeln sich an der Kasse des »Realismus«, um noch rechtzeitig ihr Eintrittsbillett in die globale Marktwirtschaft zu lösen.

Diese Idylle der Toleranz und der globalen marktwirtschaftlichen Demokratie hat jedoch einen neuen Feind herausgefordert. Zwar ist der Sozialismus tot, aber dafür ist der religiöse Fundamentalismus in die Arena getreten. Der Fundamentalismus ist häßlich, viel häßlicher, als es der Sozialismus jemals sein konnte. Und in den Augen der westlichen Ideologen sieht er ziemlich arabisch aus. Das Pentagon hat in den letzten Jahren damit begonnen, den islamischen Fundamentalismus als historischen Ersatzfeind zu konstruieren. Als strategisches Kampfgebiet gilt jetzt der »moslemische Krisenbogen« von Pakistan bis Mauretanien. Wie in den Zeiten des kalten Krieges gegen den Sozialismus werden nun in der neuen Konstellation alle politischen Kräfte unterstützt, die sich für den Westen und gegen den Fundamentalismus erklären, auch wenn es sich dabei um noch so korrupte und grausame Regimes handelt. Aber die neue strategische Rechnung, mit der die westlichen Spezialisten für Feindbilder ihre weitere Existenz rechtfertigen wollen, geht nicht auf. Der Fundamentalismus ist kein rationaler, politisch definierbarer und in seinem Handeln kalkulierbarer Gegner mehr, wie der Sozialismus es war. Er hat auch kein eindeutiges Zentrum in der Welt, und vor allem beschränkt er sich keineswegs auf den Islam. In vielen nicht-mos­lemischen Regionen Afrikas und in ganz Lateinamerika sind fundamentalistische christliche Sekten in den letzten Jahren zunehmend an die Stelle der sozialistischen Bewegungen getreten.

Und derselbe gesellschaftliche Wahn des religiösen Fundamentalismus blüht auch in den westlichen Zentren des Weltmarkts selber. Für die USA war es ein Schock, als sich herausstellte, daß nicht ausländische islamische Terroristen es waren, die den verheerenden Bombenanschlag von Oklahoma City verübt hatten, sondern weiße US-Bürger mit der Ideologie christlicher »Gotteskrieger«. Schon seit Jahren wird »Gottes eigenes Land« von radikalen evangelischen Sekten überschwemmt, die übrigens auch die »Evangelisierung« Lateinamerikas steuern. In Deutschland sind für viele Jugendliche obskure religiöse Gruppen zum Ersatz für die Politik geworden; es gibt eine erregte öffentliche Debatte über den Einfluß von clandestinen Sekten wie der »Scientology«-Kirche, die Wirtschaft und Gesellschaft unterwandern. Und wer hätte gedacht, daß in einem Land wie Japan, das als Musterschüler des marktwirtschaftlichen Erfolgs gilt, eine radikale Weltuntergangsbewegung wie Aum Shinrikyo mit ihrem Führer Shoko Asahara so viele Menschen beeinflussen und sogar Anhänger in der japanischen Armee anwerben könnte?

Die »Verrückten Gottes« sind überall auf dem Vormarsch. Woher kommen sie? Von anderen Planeten bestimmt nicht. Sie kommen direkt aus dem Inneren der marktwirtschaftlichen Welt selber. Der neoliberale »Realismus« kennt in Wahrheit die Menschen sehr schlecht. Niemand kann heute mehr leugnen, daß sich in der liberalen Welt des Marktes die soziale Misere ausbreitet wie ein Flächenbrand. Nicht nur in Brasilien, sondern in der ganzen Welt zeigt sich die westliche Freiheit und Toleranz zynisch als eine »Demokratie der Apartheid«, wie sie Jurandir Freire Costa (Universität von Rio) treffend genannt hat. Gleichzeitig zerfallen die sozialen Bindungen nicht nur in den Slums, sondern in allen Klassen der Gesellschaft. Sowohl der reale Prozeß des Marktes als auch die neoliberale Ideologie tendieren dazu, alle menschlichen Beziehungen in die Ökonomie aufzulösen. 1992 erhielt der US-Ökonom Gary S. Becker den Nobelpreis für das Theorem, daß auch außerhalb des Marktes das gesamte menschliche Verhalten nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten ausgerichtet sei und mathematisch dargestellt werden könne, sogar in der Liebe.

Die »Realisten« haben auf die soziale Misere ebensowenig eine Antwort wie auf die Misere der menschlichen Beziehungen und der Gefühle in einer ökonomisch durch­rationalisierten Welt; sie zucken nur mit den Schultern und gehen zur marktwirtschaftlichen Tagesordnung über. Aber die Misere kann nicht stumm bleiben, sie muß eine Sprache finden. Und weil die rationale Sprache des Sozialismus tot ist, kehrt in der zerrütteten Gesellschaft die irrationale Sprache der Religion zurück; aber mit einer verwilderten, bösartig gewordenen Grammatik. Der ökonomische Neoliberalismus ruft »Marktwirtschaft«, und das pseudo-religiöse Echo ruft zurück: »Weltuntergang«. Es zeigt sich jetzt, daß der Sozialismus nicht nur eine Ideologie, sondern auch eine Art moralischer Filter gewesen war, ohne den die moderne Zivilisation gar nicht existieren kann. Ungefiltert erstickt die entfesselte Marktwirtschaft an ihrem eigenen moralischen Schmutz, der nicht mehr institutionell bearbeitet wird.

Fast 150 Jahre lang, bis in die 70er Jahre unseres Jahrhunderts, hatte jeder Schub der marktwirtschaftlichen Modernisierung gleichzeitig eine reformerische oder revolutionäre sozialistische Aktion der intellektuellen Jugend hervorgerufen. Immer wieder war die Solidarität mit den »Erniedrigten und Beleidigten« ein starker Impuls für Opposition und radikale Gesellschaftskritik gerade unter der »goldenen Jugend«, der »schönsten Jugend« der höheren Klassen in der Gesellschaft gewesen. Nach dem globalen Sieg des Marktes ist dieser Impuls erloschen. Die »golden boys« und »golden girls« der neoliberalen Ära wollen nur noch an der Börse spielen. Die Jugend der Mittelschichten ist narzisstisch demoralisiert und nicht einmal mehr intellektuell. Sie hat vor dem totalen Markt seelisch und geistig kapituliert. Ob in Ägypten und Algerien oder in Brasilien und Indien: die westlich orientierten Jugendlichen träumen davon, als Ingenieure und Ärzte oder als Fußballspieler und Leichtathleten Geld zu verdienen; für die soziale Misere empfinden sie keine Verantwortung mehr.

Und auch im Westen verfällt die Jugend der Mittelschicht in sozialen Zynismus. Bei manchen Jugendlichen in Deutschland, die teure Autos fahren, ist es chic geworden, einen Button zu tragen mit der Aufschrift: »Eure Armut kotzt mich an«. Die restlichen Intellektuelle ästhe­tisieren das Elend und schlachten es kommerziell aus; die Qualen der Verhungernden werden für Werbespots instrumentalisiert. Die seelische Orientierung an der Logik des Marktes hat sogar einen »Kult des Bösen« hervorgebracht. In seinem Buch über die »Renaissance des Bösen« sagt der deutsche Soziologe Alexander Schuller: »Nicht mehr der Fortschritt und die Vernunft okkupieren unseren Alltag und unsere Phantasie, sondern das Böse. Es gibt seit dem Fall des Sozialismus eine Vermehrung an empirisch meßbarer Grausamkeit, es gibt überall unverständliche Bosheit.« Wenn aber die Jugend der Mittelschicht moralisch verwahrlost, dann können auch die Kinder der Armen ihre Misere nicht mehr rational und moralisch anklagen. Bei einer Umfrage in Moskau unter 14-Jährigen nach dem »Traumberuf« antwortete die Mehrheit der Jungen »Mafioso« und die Mehrheit der Mädchen »Prostituierte«.

Der Fundamentalismus hebt diesen Zustand der Demoralisation nicht auf, er gibt ihm nur einen irrationalen ideellen Ausdruck. Wenn diese pseudo-religiöse Regression noch den Rest einer verlorenen Hoffnung aufgreift, die von der Geschichte unerledigt zu den Akten gelegt worden ist, dann ist es der blaß gewordene Wunsch, endlich von der Marktwirtschaft in Ruhe gelassen zu werden, zu einer in sich ruhenden Ordnung des Sozialen zurückzufinden und am Abend auf einer Bank vor dem Haus sitzen zu können, ohne voll Furcht an den nächsten Tag denken zu müssen. Aber der Fundamentalismus hat kein Programm für die soziale Emanzipation, sondern nur für die Ideologisierung der blinden Aggressionen, die das Mißlingen der Emanzipation zurückgelassen hat. Sein ganzes Programm erschöpft sich in einem religiös verkleideten Impuls, wie er in einer Redewendung der Jugendlichen in den Slums von Paris erscheint: »J‘ai la haine« – ich habe einen Haß. Die neuen Haßreligionen seien sie nun islamischer oder christlicher Provenienz, sind allesamt synthetischer, willkürlicher und eklektischer Natur. Mit den authentischen religiösen Traditionen, auf die sie sich berufen, haben sie kaum mehr als den Namen gemein. Sie sind ein Produkt der zerfallenden Moderne in den westlichen und in den verwestlichten Gesellschaften des Weltmarkts. Gerade weil sie keine historische Perspektive zu bieten haben, werden sie für die großen und kleinen »Führer« zu alternativen Möglichkeiten einer Karriere auf der Welle des Ressentiments.

Die Repräsentanten der offiziellen Gesellschaft und die Ideologen des Neoliberalismus reagieren auf diese Entwicklung, indem sie die Logik des Marktes mit den »konservativen Tugenden« verheiraten wollen. Die Menschen sollen egoistisch und gleichzeitig altruistisch sein, stark in der Konkurrenz und gleichzeitig demütig vor Gott, fixiert auf die abstrakte Kosten-Nutzen-Rechnung und gleichzeitig moralisch sauber. Mit dieser ethischen und pädagogischen Schizophrenie geht das Denken der marktwirtschaftlichen »Realisten« selber in die Lügen des Fundamentalismus über. Beide Ideologien werden einander zum Verwechseln ähnlich. Das ist nicht überraschend, denn den Hintergrund des Fundamentalismus bildet nicht nur die Armut, sondern auch die Furcht der Mittelklasse vor den Armen. Der pseudo-religiöse Wahn nistet sich in den Köpfen der Armen und der Reichen gleichermaßen ein. Und die religiös vermummte soziale Militanz der Mittelklasse ist nicht weniger gewalttätig als der Wahnsinn der Armen. In seinem Essay »Ausblicke auf den Bürgerkrieg« charakterisiert der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger diese Tendenz der »ehrenwerten Gesellschaft«: »Unauffällige Bürger verwandeln sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer, Serienkiller und Heckenschützen.«

Der Fundamentalismus ist »realistisch« und der »Realismus« ist fundamentalistisch. Beide besitzen dieselbe ideologische Struktur. Beide sprechen bekanntlich auch vom »Ende der Geschichte«, nur daß die Eschatologen des Marktes glauben, dieses Ende sei schon erreicht. Und beide bewegen sich in denselben Medien: Wie die Manager des Marktes sind auch die Prediger der angeblichen Erleuchtung scharf auf Geld, wie die Politiker sind sie scharf auf Präsenz im TV, und die »Gottesstaaten« sind scharf auf die Atombombe. Das sind alles westliche Medien. Die falschen Propheten besitzen keine Idee einer anderen gesellschaftlichen Form; sie müssen sich an der Erkenntnis messen lassen, die der kanadische Soziologe Marshall McLuhan schon in den 60er Jahren formuliert hat: »Das Medium ist die Botschaft«.

Umgekehrt kann auch der marktwirtschaftliche »Realismus« seinen quasi-religiösen Charakter nicht verleugnen. Haben wir nicht gesehen, wie US-Präsident Bush im Golfkrieg ebenso wie sein islamischer Feind Saddam Hussein den Gott einer militanten Religion an die Front geschickt hat? Das sind nicht bloß Äußerlichkeiten. Die Rationalität des Marktes ist religiöser Herkunft; sie ist nur insoweit rational, wie ein in sich geschlossenes irrationales System seine eigene Binnenrationalität hervorbringt. Das Resultat der modernen Geschichte, der totale Weltmarkt, ist das Resultat einer säkularisierten Religion, die in protestantisch-calvinistischer Gestalt ihren Anfang genommen hat. Gerade die USA, die letzte Weltmacht des Weltmarkts, sind bis heute tief vom calvinistischen Fundamentalismus des »Geldmachens« als Selbstzweck geprägt. Die westliche Toleranz ist nur eine besonders perfide Form der Intoleranz, denn auch der Gott des Marktes duldet keine anderen Götter neben sich; und er toleriert nur, was sich apriori und bedingungslos seinen Medien unterworfen hat.

Das Ende der Geschichte ist die Umkehr der Geschichte. Am Anfang der marktwirtschaftlichen Modernisierung standen die Religionskriege des frühen 17. Jahrhunderts. Diese Epoche wurde abgelöst durch den Absolutismus mit seinen staatsökonomischen, merkantilistischen Strukturen. Erst im 19. Jahrhundert blühte der Liberalismus des freien Marktes. Wie aber sollen wir das 20. Jahrhundert begreifen? Der Form nach hat es die Totalität des Marktes vollendet. Aber gleichzeitig war es ein Jahrhundert der Krisen, in dem die Geschichte begann, sich nach rückwärts zu wenden. Die staatlichen Kriegswirtschaften der beiden Weltkriege, der etatistische Sozialismus des Ostens wie des Südens und auch der Keynesianismus des Westens mit seinen staatsökonomischen Elementen können gewissermassen als Rückkehr in das merkantilistische Zeitalter auf einer höheren Entwicklungsstufe verstanden werden.

Jetzt, nach dem Bankrott aller Varianten der modernen Staatsökonomie, verspricht der Neoliberalismus ein neues goldenes Zeitalter des freien Marktes. Aber wenn die Geschichte sich wirklich nach rückwärts gedreht hat, dann steht uns ein ganz anderes Zeitalter bevor. Der US-Politologe Samuel P. Huntington (Harvard) sagt mehr, als er weiß, wenn er die Hypothese aufstellt, daß die Zeit der Konflikte zwischen Ideologien und Nationalstaaten abgelöst werde durch einen »Konflikt der Zivilisationen«. Was heißt das anderes, als daß der Prozeß der marktwirtschaftlichen Modernisierung, bevor er endgültig von einem schwarzen Loch der Geschichte verschluckt wird, zurückkehrt in das Zeitalter der religiösen Militanz und des Dreißigjährigen Krieges?

Der Neoliberalismus wird mit unwiderstehlicher Gewalt in diese Tendenz hineingezogen, weil er mit seiner »schwarzen Utopie« des totalen Marktes selber einen totalitären religiösen Kern besitzt. Der Sozialismus dagegen war nicht nur Staatsökonomie, sondern auch die Idee einer solidarischen Gesellschaft, die sich bewußt selbst reguliert statt irrationalen Prinzipien zu folgen. Wenn wir nicht wollen, daß das 21. Jahrhundert zu einer neuen Epoche der Religionskriege wird, dann müssen wir den Sozialismus in einer anderen, nicht mehr staatsökonomischen Form neu formulieren. Nur auf diese Weise ist es möglich, daß die Geschichte sich wieder öffnet.

Weltkrise und Ignoranz

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