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DIE MASCHINE DER SELBSTVERANTWORTUNG

Zur Geschichte der liberalen Ideologie

Schon in seinem Namen nimmt der Liberalismus den Begriff der »Freiheit« für sich in Anspruch. Das liberale Pathos beschwört die Eigeninitiative und die Selbstverantwortung des Individuums. Im ersten Moment klingt das immer gut. Wer wollte diesen schönen Begriffen widersprechen? Aber natürlich wissen wir als aufgeklärte Geschöpfe der Moderne, dass man den Worten nicht trauen darf. Als George Orwell seine Negativ-Utopie »1984« schrieb, machte er keineswegs zufällig eine öffentliche Sprache zum Thema, deren Begriffe grundsätzlich das Gegenteil von dem sagen, was sie offiziell bedeuten. Soweit es sich dabei um eine rhetorische Form der Beschönigung handelt, ist diese Ausdrucksweise schon aus der Antike bekannt und wird »Euphemismus« genannt. Die alten Griechen bezeichneten ihre dämonischen Göttinnen der Rache, deren Haare züngelnde Schlangen waren, aus purer Angst als »die Wohlgesinnten«. Vielleicht ist der Begriff des Liberalismus in einem ähnlichen Zusammenhang entstanden.

Um die Wahrheit über eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens herauszufinden, empfiehlt es sich immer, bis zu ihren Ursprüngen zurückzugehen. Der Liberalismus entstand als Opposition gegen die frühmodernen Militärstaaten der absolutistischen Monarchien und Fürstentümer im 17. und 18. Jahrhundert. Aber in derselben Zeit gab es auch noch eine andere, viel größere Opposition der Volksmassen, die mit dem Liberalismus gar nichts zu tun hatte. Und es ist sehr aufschlußreich, diese beiden Formen der Opposition zu vergleichen.

Der Absolutismus hatte damals die erste Stufe der modernen kapitalistischen Produktionsweise herausgebildet, indem er für die Bedürfnisse seiner riesigen Militärapparate und Bürokratien die moderne Markt- und Geldwirtschaft entfesselte. Von der großen Mehrheit der Menschen wurde diese Entwicklung als ungeheuerliche und obszöne Repression empfunden. Denn der alte »einfache« Feudalismus hatte die bäuerlichen und handwerklichen Produzenten der agrarischen Naturalwirtschaft nur äußerlich angezapft: Sie mußten den Feudalherren einen kleinen Teil ihrer Produkte abgeben oder bestimmte Arbeiten für sie verrichten. Ansonsten aber wurden sie vom Feudalismus weitgehend in Ruhe gelassen. Auf ihren Feldern und in ihren Werkstätten konnten sie sich nach eigenem Gutdünken betätigen, und sie hatten ihre eigenen Institutionen der lokalen Selbstverwaltung.

Der Absolutismus aber zerstörte diese begrenzte Autonomie und wollte die Menschen seiner zentralistischen Bürokratie unterwerfen, um sie bis aufs Blut auszusaugen und sie zum »Menschenmaterial« einer total fremdbestimmten abstrakten »Arbeit« unter dem Gesetz des Geldes zu machen. Gegen diese Zumutung setzten sich die europäischen Bauern und Handwerker mehr als dreihundert Jahre lang bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erbittert zur Wehr; und wenn sie in ihren zahllosen Revolten der Fahne der »Freiheit« folgten, dann meinten sie damit immer ihre soziale Autonomie sowohl gegen die Übergriffe der absolutistischen Bürokratie als auch gegen die Zwänge der neuen anonymen Märkte. Sie wollten nicht bis auf die Haut von einem fremden Prinzip bedrängt werden, sondern die Kontrolle über ihre unmittelbaren Lebensbedingungen behalten.

Der Liberalismus dagegen war die Ideologie der ökonomischen »Macher« auf dem Boden der vom Absolutismus entfesselten anonymen Markt- und Geldwirtschaft selbst. Es waren die neuen, unter dem Absolutismus aufblühenden Finanzkapitalisten, die großen Übersee-Händ­ler und Kolonial-Spekulanten, die vom Staat beauftragten Betreiber der Arbeits-Zuchthäuser und Gefängnis-Manu­fakturen sowie die Besitzer oder Verwalter der Latifun­dien für den entstehenden agrarischen Weltmarkt, die sich den ersten liberalen Ideen zuwandten. Mit dem sozialen Freiheitsbegriff der revoltierenden Bauern und Handwerker hatten sie keinerlei Berührung. Im Gegenteil stimmten sie mit dem Absolutismus vollständig überein in dem Interesse, die Masse der Produzenten zum »Menschenmaterial« der Weltmärkte zu machen, sie von der Kontrolle über die Produktionsmittel zu enteignen und zu bloßen »Arbeitnehmern« unter dem Diktat des Investi­tionskapitals zu degradieren.

Deswegen wären die frühen Liberalen nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, daß das »Menschenmaterial« der Marktwirtschaft irgendein eigenes Recht auf »Freiheit« haben könnte. Unter ihnen gab es sogar Sklavenhalter und Großgrundbesitzer, die gewaltsam Bauern von ihrem Land verjagten, um es in Viehweide zu verwandeln. Wenn sie von »Freiheit« sprachen, dann meinten sie damit immer nur ihre eigene ökonomische Bewegungsfreiheit als Investoren und »Unternehmer«, die sie durch die staatsbürokratische Bevormundung der absolutistischen Apparate eingeengt fühlten. Ihre Opposition gegen den Absolutismus hatte also einen ganz anderen Charakter als der soziale Widerstand der Produzenten. Deshalb machten sie auch immer gemeinsame Sache mit dem Absolutismus gegen die sozialen Revolten »von unten«. Der Konflikt der ursprünglichen liberalen Ideologie und ihrer Klientel mit dem »Gottesgnadentum« des absolutistischen frühmodernen Staates war immer nur ein relativer, innerkapitalistischer Familienstreit um die weitere Entwicklung der gemeinsamen Geschäftsgrundlagen.

Schon in dieser frühen Kritik der auf ihre bürgerliche »Freiheit« bedachten kapitalistischen Herren-Individuen an der gesellschaftlichen Kontrolle durch den autoritären Herren-Staat ist allerdings eine eigenartige logische Verkehrung der Standpunkte festzustellen, die auf den irrationalen Charakter beider Seiten verweist. Nicht nur der frühmoderne und monarchische, sondern jeder Staatsabsolutismus (auch der spätere sozialistische und faschistische) will zwar einerseits die ökonomische Betätigung der Individuen einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterwerfen; andererseits erhebt er damit aber auch den Anspruch, daß die menschliche Subjektivität, der mensch­liche Wille (in Gestalt des Monarchen, der Regierung, des »Führers« oder des Zentralkomitees) gewissermaßen »souverän« gegenüber dem System von Markt und Geld sein soll. Umgekehrt vertritt der Liberalismus zwar einerseits die ökonomische »Eigeninitiative« des kapitalistischen Individuums gegenüber dem Staat; gerade dadurch aber wird andererseits der Anspruch einer Souveränität des menschlichen Willens gegenüber dem System von Markt und Geld restlos aufgegeben. Dieses System verselbständigt sich also, es wird zum blinden Gesetz des Handelns und der Mensch zum Spielball »ökonomischer Strukturen« und ihrer ziellosen Dynamik.

Schon Adam Smith, der Begründer der modernen ökonomischen Theorie auf liberaler Grundlage, verherrlichte das System der totalen Marktwirtschaft als eine Art »gött­liche Maschine«, gesteuert durch den blinden »selbst­­regulativen« Mechanismus der Preise. Analog zum mechanistischen physikalischen Weltbild von Isaac Newton, der die Natur als eine einzige große Weltmaschine betrachtet hatte, verstand Smith die Ökonomie als automatische Weltmaschine der Gesellschaft, deren Räderwerk sich die Menschen unterwerfen müßten. In der Physik ist das mechanistische Weltbild inzwischen schon lange überwunden, in der Ökonomie aber steht die Menschheit immer noch (und heute mehr denn je) auf dem mechanistischen Standpunkt des 18. Jahrhunderts, der sich in den Formen der gesellschaftlichen Reproduktion »objektiviert« hat. Der Liberalismus ist auf diese Weise durch einen ungeheuren Widerspruch gekennzeichnet: Die gesellschaftliche »Freiheit« des Individuums ist immer identisch mit der bedingungslosen gemeinsamen Kapitulation aller Individuen vor einer blinden, nicht verhandelbaren Gesellschaftsmaschine, dem säkularisierten Baal des Kapitals.

Man kann es auch so sagen: Durch seine maßlosen Ansprüche an die Gesellschaft hat der Absolutismus das subjektlose Monstrum eines verselbständigten ökonomischen Automatismus hervorgebracht, das er selbst nicht mehr beherrschen konnte und das sich schon bald seiner »Souveränität« entzog. Der Liberalismus, der vordergründig die »Freiheit« des Individuums einklagte, hat in Wirklichkeit nur die Verselbständigung dieser »Maschine« exekutiert. Die Liberalen sind nichts anderes als die Priester eines automatischen Götzen, der dem »Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur« (Marx) einen irrationalen Ablauf nach mechanischen »Gesetzmäßigkeiten« diktiert.

Der Gegensatz von Liberalismus und Staatsabsolutismus ist auf keiner Seite emanzipatorisch besetzbar; er reflektiert immer nur die gesellschaftlichen Paradoxien des modernen warenproduzierenden Systems: Entweder muss sich die menschliche »Souveränität« gegenüber der Marktmaschine als autoritäre Kontrolle des Staates über die Individuen maskieren, oder die »Freiheit« der Individuen muß sich als totale Selbstauslieferung des menschlichen Willens an den blinden Lauf der Marktmaschine maskieren. Für die Mehrheit der Menschen ist der Gegensatz von Absolutismus und Liberalismus irrelevant: Es läuft für sie auf dasselbe hinaus, ob sie von einer Staatsbürokratie oder von den subjektlosen Mechanismen des Marktes drangsaliert und gedemütigt werden. Diese Erfahrung haben in den letzten Jahren die Menschen in Osteuropa gemacht, die vom Regen der staatssozialistischen Diktatur in die Traufe der sozialen Degradation durch den »freien« Markt kamen.

Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hatte der Liberalismus das Problem, dass er nicht nur den staatsbürokratischen Anspruch des Absolutismus beseitigen mußte, sondern auch die Ansprüche der Volksmassen auf soziale Autonomie. Es wurde bald klar, daß es unmöglich war, die Menschen allein durch Repression, Polizei, Militär, Galgen und Gefängnisse zu zwingen, sich selber zum Material der »Arbeitsmärkte« zu machen und die eigene abstrakte Arbeitskraft den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen. Deshalb begann der Liberalismus, die Repression mit Volks- und Industrie-»Päda­gogik« zu verbinden. Hatten die ersten Liberalen den Begriff der »Selbstverantwortung« nur auf sich selbst als »Macher« eines individuellen Kapitalismus bezogen, so wurde dieser Begriff nun auch auf das »Menschenmate­rial« ausgedehnt. Darin liegt ein ungeheurer Zynismus: Die von jeder Kontrolle über ihre eigenen materiellen und sozialen Lebensbedingungen restlos enteigneten Menschen sollen »selbstverantwortlich« gerade darin sein, dass sie sich freiwillig zum »Arbeitsvieh« der Märkte machen und würdelos nach »Arbeitsplätzen« gieren, selbst unter den miserabelsten Bedingungen.

Einer der großen Ideengeber für diese liberale »Volks­pädagogik« wurde Jeremy Bentham (1748-1832), der Be­gründer einer »Philosophie der Nützlichkeit«. Das »Stre­ben der Menschen nach Glück« sollte übersetzt werden in den Impuls, alle Äußerungen des Lebens in den Zweck der Kapitalverwertung zu integrieren. Um die Menschen dahin zu bringen, ihr eigenes »Glück« ausgerechnet darin zu sehen, sich in der kapitalistischen Tretmühle »nützlich« machen zu können, erfand Bentham eine besondere Zuchtanstalt, das sogenannte Panoptikon.

Was ist das Panoptikon? Bentham sagt selber, daß es sich um ein Prinzip handelt, das geeignet sei für Gefängnisse ebenso wie für Fabriken, Büros, Krankenhäuser, Schulen, Kasernen, Erziehungsheime usw. Architektonisch besteht das Panoptikon aus einem kreisrunden Gebäudekomplex, in dessen Zentrum sich die (mit Vorhängen versehene) Loge des »Inspektors« und an dessen Peripherie sich die voneinander abgetrennten Zellen der Gefangenen oder Zöglinge befinden. Viele Gefängnisse und »Arbeitshäuser« des 19. Jahrhunderts wurden nach diesem Muster gebaut. Der raffinierte Zweck der Anordnung ist es, daß die Gefangenen sich permanent beobachtet und kontrolliert fühlen, ohne zu wissen, ob die Loge des »Inspektors« wirklich besetzt ist. Die Insassen sollen sich allmählich »von sich aus« und automatisch so verhalten, als ob sie beobachtet würden, selbst wenn das gar nicht der Fall ist.

Das Panoptikon, für Bentham ein Modell der »idealen« marktwirtschaftlichen Gesellschaft, war nichts anderes als eine liberale »Selbstverantwortungs-Maschine«, um die Individuen für marktkonformes Verhalten zu konditionieren. Die Mechanismen der Unterwerfung und Selbst­verleugnung sollten zur »inneren Verhaltensspur« des Menschen werden. Diese liberale Erziehungsdiktatur objektivierte sich in architektonischen und organisatorischen Strukturen, in Zeichen und psychischen Mechanismen. Die kapitalistischen Imperative, so schrieb der Philosoph Michel Foucault in seinem Buch »Überwachen und Strafen« (1976) über das Panopticon, erscheinen »in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken, ... in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind«. Bentham feilte ununterbrochen an der Vervollkommnung seines sozialen Apparats der Dressur von Menschen. Er ist der Erfinder der Isolationshaft, der Identitätskarten, der Namensschilder und des Großraumbüros. 1804 schlug er vor, alle Engländer mit einer Nummer zu tätowieren.

Gleichzeitig war Bentham glühender Demokrat. Vom Dienstboten bis zum Minister sollten alle gleichermaßen mitwirken an der »öffentlichen Selbstkontrolle«, das heißt sich selbst und andere beobachten, um gemeinsam tagtäglich die Uhr der Selbstunterdrückung aufzuziehen. Kant, der größte Philosoph der Aufklärung, hatte gefordert, der Mensch solle »herausgehen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen«. In der Konsequenz von Bentham wird der geheime Sinn dieses liberalen Imperativs deutlich: jeder sein eigener Polizist, Erzieher, Gefängniswärter und Antreiber! Die selbstregulative Weltmaschine des Marktes braucht selbstregulative, »auto­­matisch« sich anpassende Individuen.

Bentham hat Orwells Alptraum von »1984« um fast 200 Jahre vorweggenommen, aber als reales Projekt. Ironischerweise versteht die liberal-demokratische Welt heute »1984« als Warnung vor dem (staatlichen) Totalitarismus, ohne zu erkennen, daß sie selber längst das Produkt einer totalitären liberalen Gehirnwäsche ist. Heute verhalten wir uns alle »selbstregulativ« als Roboter der marktwirtschaftlichen Selbstverantwortung. Jener ältere Begriff von »Freiheit« dagegen, der auf soziale Autonomie zielte, gilt als vorindustriell und primitiv. Natürlich können und wollen wir nicht zurück zu einer beschränkten agrarischen Lebensweise von Bauern und Handwerkern. Aber mußte der Preis des Fortschritts die soziale Entwürdigung des Menschen zu einem »Pawlowschen Hund« der Marktmaschine sein? Ist die Menschheit wirklich unfähig, die modernen Produktivkräfte durch soziale Selbstbestimmung und bewußte Verständigung zu regulieren, statt sich einem blinden ökonomischen Automaten auszuliefern? Der Absolutismus des Marktes ist keine Alternative zum Absolutismus des Staates. Wir haben die Aufgabe, für das 21. Jahrhundert den alten Begriff der »sozialen Freiheit« gegen die »Orwellsche Freiheit« des Liberalismus neu zu erfinden.

Weltkrise und Ignoranz

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