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APOCALYPSE NOW!

Über den Zusammenhang von Emanzipation und Kulturpessimismus

Die Furcht vor dem Weltuntergang hat viele Kulturen beherrscht. Nicht selten ist damit die Vorstellung vom Tag des Jüngsten Gerichts verbunden, wie in der Apokalypse des Johannes. Diese Gedanken entbehren nicht eines gewissen rationellen und höchst irdischen Kerns, der unter der religiösen Verkleidung schlummert; denn jede gesellschaftliche Elite, die auf der »Herrschaft des Menschen über den Menschen« (Marx) gründet und unter deren Leitung immer wieder Armut, Elend und Unterdrückung erzeugt werden, trägt in ihrem Herzen die ebenso heimliche wie gut begründete Furcht vor dem Tag der Rache. In der globalisierten kapitalistischen Postmoderne am Ende des 20. Jahrhunderts fürchten sich die liberalen Eliten zwar längst nicht mehr vor der Rache Gottes, aber doch vor der Möglichkeit einer neuen globalen Großkrise, in der die »unsichtbare Hand« ihres heiligen Marktes noch mehr Tod und Verderben bringen könnte, als sie es gegenwärtig ohnehin schon tut. Im Zeichen dieser Krise droht die Zerrüttung der Gesellschaft derartige Ausmaße anzunehmen, daß die heute scheinbar siegreiche Zivilisation des Geldes vielleicht schon bald ebenso von der Geschichte verschlungen wird wie vor kurzem ihr armer feindlicher Verwandter, der bürokratische Staatssozialismus. Jedes Ereignis, das in diese Richtung zeigt (wie soeben wieder die Krise in Asien), wird mit interessiertem Grausen aufgenommen.

Die liberale Welt hört sich die »Prophezeiung« der Krise zu ihrer Unterhaltung an wie eine Gespenstergeschichte. Aber weil die postmoderne Medienkultur sowieso nicht mehr zwischen Realität und »Film« unterscheiden kann, glauben ihre Adepten, daß alles nur ein Spiel ist, und hinterher geht man gemütlich zum Abendessen. Deshalb haben nicht nur die »Propheten« der Krise Konjunktur, sondern auch die postmodernen Propagandisten eines irren Frohsinns, die jede Warnung vor der Krise als irrationales, apokalyptisches »Milenniums«-Den­ken zu verspotten suchen. Die wahren Hofnarren des Kapitalismus sind heute nicht die Unglücksboten, sondern diese postmodernen »Entwarner«, die sich die abgelegten Klamotten des bürgerlichen Fortschritts aus der Mülltonne der Geschichte geholt und daraus eine »Second-Hand«-Mode gemacht haben.

Die Apokalypse ist nicht so eindeutig irrational und reaktionär, wie es die postmodernen letzten Clowns der liberalen Vernunft glauben machen wollen. Dieser Begriff hat schon immer nicht allein das Jüngste Gericht über eine nicht mehr lebenswerte Welt und deren Untergang gemeint, sondern gleichzeitig auch den Aufgang einer neuen, besseren Welt nach der »Katharsis« der großen Krise. Insofern war die präzise Krisentheorie von Marx mit ihrem logischen Nachweis einer absoluten inneren Schranke des Kapitalismus gewissermaßen das rationale apokalyptische Denken der Moderne, denn es enthielt auch die Hoffnung auf eine postkapitalistische Zukunft.

Das finstere reaktionäre Denken dagegen will immer nur einen absoluten Schlußpunkt der Vernichtung setzen: Wenn schon die alte Welt nicht mehr weiterleben kann, dann soll es auch keine neue Welt und keine andere Zukunft mehr geben. Oswald Spengler sehnte in seinem »Untergang des Abendlands« nur noch das »heroische« Ende einer universellen Gesamtkatastrophe herbei. Und als Hitler sah, daß der Krieg verloren war, wollte er die vollständige Auslöschung aller Menschen in Deutschland, weil sie sich seiner nicht »würdig« erwiesen hätten. Je deutlicher die neue Krise des Kapitalismus sich abzeichnet, desto militanter beginnt heute der globale Liberalismus eine ähnliche Haltung gegenüber der ganzen Welt einzunehmen: Wenn die totale Marktwirtschaft sich selbst zerstört, dann soll die Menschheit gleich mit untergehen und nichts Neues mehr unter der Sonne entstehen dürfen.

Der Postmodernismus als flankierende kulturelle Ideologie der marktwirtschaftlichen Globalisierung ist noch nicht ganz so weit; er möchte zuerst der kapitalistischen Kultur selber noch einen Fortschritt abkitzeln. Deshalb wird jeder neue Schub der Krise, der die moderne Zivilisation weiter zerstört und sie der Barbarei näher rücken läßt, zur »Chance« umdefiniert. Wir ersticken geradezu an einer Inflation von »Chancen«. Von einem solchen Standpunkt aus ist natürlich keine grundsätzliche Kritik der gegenwärtigen kulturellen Entwicklung mehr möglich. Emanzipatorische und reaktionäre Kulturkritik erscheinen als identisch, weil die jeweils neueste Tendenz auch automatisch die beste und ein Füllhorn von »Möglichkeiten« sein muß, mag sie auch real auf der Stufe des Schwachsinns angekommen sein.

Wie hinsichtlich der Krise oder der »Apokalypse« gibt es aber auch in der Frage der Kulturkritik diametral entgegengesetzte Inhalte. Was den Reaktionären an der Vergangenheit so gut gefällt, das ist eine Gesellschaft von »Herr und Knecht« mit einer autoritären Kultur eindeutiger Definitionen, in der niemand vom vorgeschriebenen Muster der bornierten Tradition abweichen darf. Nur im romantisierenden Rückblick auf solche Verhältnisse kritisieren sie die spätkapitalistische kommerzielle Massenkultur. Im Gegensatz dazu will sich eine emanzipatorische Kulturkritik natürlich nicht in irgendeine glorifizierte Vergangenheit zurück imaginieren. Umgekehrt kann sie aber auch nicht jeder neuen Konjunktur des Zeitgeistes hinterherzotteln und daraus irgendeinen Honig saugen wollen, denn eine solche Haltung ist nur die Kehrseite des reaktionären Romantizismus.

Stattdessen gilt es, die negative Dialektik der kapitalistischen Geschichte und ihrer Kulturen zu zeigen: Jeder Fortschritt wird mit einem Rückschritt erkauft, jede positive Möglichkeit in ihr eigenes Dementi verwandelt. Die babylonische Gefangenschaft in den agrarischen Traditionen wurde nur abgelöst durch die ägyptischen Plagen des totalen Marktes. Der Postmodernismus ist der jüngste und beste Beweis dafür, denn sein Imperativ lautet: Tu, was du willst, aber sei profitabel! Das ist die klassische Formel eines schizophrenen »Double bind« im Sinne von Gregory Bateson.

Diese negative Dialektik zeigt sich heute mehr denn je im krassen Mißverhältnis von wissenschaftlich-techni­schen Errungenschaften und globaler Massenarmut. Eine Weltmacht, die Spielzeugautos auf den Mars schickt, läßt elf Millionen ihrer eigenen Kinder hungern. Im Schatten der kühnsten Architekturen von fünf Erdteilen vegetiert ein Massenelend, wie es keine noch so bornierte vormoderne Agrargesellschaft hervorgebracht hat. Selbst im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte innerhalb des Kapitalismus ist der elementare soziale Rückschritt am Ende des 20. Jahrhunderts handgreiflich. Der postmoderne Barock liefert diesen Verhältnissen eine Ästhetik der Ignoranz, die Mitgefühl und soziale Empörung zur Geschmacklosigkeit erklärt, also geistig wieder auf das 18. Jahrhundert zurückgefallen ist.

Ein wenig erinnert die postmoderne Jugendkultur der Mittelklasse heute auch an das Verhalten der schönen degenerierten »Eloi« im kulturpessimistischen Zukunftsroman »Die Zeitmaschine« von H.G. Wells (1895), die ständig nach Spielzeug suchen, sich auf nichts mehr konzentrieren können und kein Interesse mehr für die wirkliche Lage ihrer Welt aufbringen. Wie es scheint, werden sämtliche Horrorvisionen und Negativ-Utopien der letzten 100 Jahre in der Postmoderne zu positiven Leitbildern geadelt. Daß sich eine Kultur der sozialen Apartheid und des ökonomischen Kannibalismus langfristig auch an den herrschenden sozialen Gruppen selber rächt, demonstriert allerdings der intellektuelle Abstieg des sogenannten Bür­gertums. Wenn irgendetwas »immer schlechter« geworden ist, dann das Bildungsniveau und die kulturellen Standards der kapitalistischen Eliten.

Der Kulturpessimismus der kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer lebte nicht von der Sehnsucht nach verstaubten Normen oder Traditionen, sondern er bestand in der Skepsis gegenüber der Hoffnung, daß den Herrschenden überhaupt noch irgendwelche nennenswerten Güter des Wissens und der Kultur entrissen werden könnten. Von einer Gesellschaft, die ihre Museen, ihre Bibliotheken und ihre Kulturdenkmäler ebenso wie ihre Universitäten und ihre Literatur verrotten läßt, um nur noch Autos zu verkaufen, gibt es auch nur noch Schrotthaufen zu erben. Die Konservativen, die in der Vergangenheit wenigstens klassisch gebildet waren, beziehen heute ihren eigenen Konservatismus aus Hollywood. Selbst ihre Villen könnten nur noch enteignet werden, um sie als Beleidigungen des menschlichen Auges aus der Landschaft zu entfernen. Wenn der sekundäre Analphabetismus in den höchsten Kreisen anzutreffen ist, welche Kultur sollte da noch zu transformieren sein? Die Eßgewohnheiten, Lesegewohnheiten oder überhaupt Lebensgewohnheiten der »upper ten« heute »für alle« zugänglich machen zu wollen, müßte dem Verdikt der Unappetitlichkeit verfallen.

Aber die Massenkultur! Könnte sie nicht emanzipatorische Potentiale enthalten? Sie könnte es, aber sie tut es gegenwärtig nicht. Es muß ja wirklich nicht immer nur die steifleinene klassische Bildung sein. Auch Comics können Witz und Wahrheit mobilisieren. Das Problem ist nicht die Massenkultur als solche, sondern daß deren Inhalt von der kommerziellen Form aufgesaugt wird. Die technischen Mittel sind nicht unabhängig von den sozialen Beziehungen, in denen sie praktisch erscheinen. In dieser Hinsicht erinnert die heutige Diskussion um die postmoderne Massenkultur an die Kontroverse zwischen Adorno und Walter Benjamin in den 30er und 40er Jahren. Adorno sah damals in den neuen künstlerischen Reproduktionstechniken (z.B. dem Film) vor allem eine neue Qualität der geistigen und kulturellen Enteignung der Massen von jeder selbständigen und kritischen Wahrnehmung der Welt; die Menschen würden durch die Macht des kapitalistischen Angebots zu passiven Konsumenten degradiert wie nie zuvor. Benjamin dagegen erblickte in den Techniken des Films eher die Möglichkeit für eine Erweiterung von sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten des Publikums.

Aber weder argumentierte Adorno gegen die neue Reproduktionstechnik als solche noch wollte sich Benjamin allein auf die technische Seite verlassen. Vielmehr sah er im bewußten »Anteil der Massen« an den neuen Kulturtechniken durch Formen der »kollektiven Apperzeption« eine emanzipatorische Möglichkeit, deren sozialen Hintergrund die damalige Arbeiterbewegung bildete. Auf die faschistische »Ästhetisierung der Politik« sollte die sozialistische »Politisierung der Kunst« antworten. Aber nach dem 2. Weltkrieg hat der Kapitalismus eine dritte Möglichkeit gefunden: die kommerzielle und mediale Individualisierung des gesamten Lebens, also auch von Politik und Kultur. Das Fernsehen war der Beginn einer neuen Massenkultur der »vereinzelten Einzelnen«, die heute in die postmoderne individuelle »Ästhetik der Existenz« mit ihren kapitalistischen »Technologien des Selbst« (Foucault) mündet, aus denen jede emanzipatorische Hoffnung getilgt ist. Es sind die ziellosen Amokläufer und Prominentenmörder, die heute am reinsten die postmoderne Ästhetik exekutieren.

Der Kapitalismus hatte in Wahrheit nie eine eigene Kultur, weil er nichts als die gähnende Leere des Geldes repräsentiert. Künstlerisch stellte dies unbewußt K.S. Malewitsch schon vor dem 1. Weltkrieg mit seinem berühmten »schwarzen Quadrat« dar. Danach konnten eigentlich nur noch diverse Abgesänge kommen. Was als kapitalistische Kultur erschien, waren schon immer entweder Reste vormoderner Kultur, die sich allmählich in Marktgegenstände verwandelten, oder Formen des kulturellen Protests gegen den Kapitalismus selber, die ebenfalls kommerziell adaptiert wurden. Heute hat der Kapitalismus alles aufgefressen und verdaut oder in Müll verwandelt. Damit ist die Moderne am Ende ihrer kulturellen Möglichkeiten angekommen, gerade weil es keinen Protest mehr gibt.

Der Postmodernismus bildet sich ein, er könne sich nun eklektisch die gesamte Kunstgeschichte verfügbar machen (»anything goes«); in Wirklichkeit wühlt er bloß verzweifelt auf dem Müllplatz und in den Exkrementen der kapitalistischen Vergangenheit, um vielleicht noch Reste für das kulturelle »Recycling« zu finden. Es könnte sein, daß gerade dieses postmoderne Recycling mit seiner popkulturellen Simulation einer oberflächlichen »guten Laune« jene reaktionäre Version der Apokalypse befördert, nach der keine neue Welt mehr aus den Trümmern der alten hervorgehen kann. Hoffnung gäbe allein eine neue soziale Massenbewegung, die sich die brachliegenden emanzipatorischen Potentiale der modernen Reproduktionstechniken selbständig gegen deren kommerzielle Form aneignet.

Weltkrise und Ignoranz

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