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Die Zauberflöte

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Unter dem Berge mit all seinen prächtigen Laub- und Nadelbäumen gebe es ein Tor zu den Sternen, pflegte der komische, alte Kauz aus dem Haus am anderen Ende der Straße stets zu sagen. Alle anderen in der Gegend behaupteten, er sei ein wenig verrückt, aber ich fand das eigentlich nicht. Ich mochte Onkel Carl, wie ihn unser Dorf nannte, wahrlich gerne und verbrachte viel Zeit bei ihm. Meine Eltern hatten nichts gegen diese Beziehung einzuwenden und pflegten darüber zu sagen, dass Onkel Carl ein einsamer Mann sei, der kaum einen Menschen in seinem näheren Umfeld habe. Mit meinen Besuchen und durch mein offenes Ohr täte ich also jede Menge Gutes, was mir der Liebe Gott sicherlich eines fernen Tages anrechne.

Lange, lange lag das jetzt zurück.

Vor zwei Jahren war Onkel Carl im hohen Alter von einundneunzig Jahren gestorben, was meine Mutter mir per Telefon erzählt hatte, weil sie immer noch in jenem Dorfe in den waldigen Bergen des Mittelgebirges lebte.

Mit einem Anruf begann auch jene gar unglaubliche Geschichte, die ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, hier erzähle.

„Mein lieber Junge!“, begann sie das Gespräch. „Heute hat ein Herr Justus Förster bei mir an der Tür geläutet. Er ist der einzig lebende Verwandte von Onkel Carl, ein Neffe, und hat sich um den Nachlass gekümmert. Ich frage mich dabei, warum der Kerl über ein Jahr gebraucht hat, um die paar Sachen von Onkel Carl zu sichten, aber egal. Jedenfalls hat er dir was hinterlassen. Justus Förster ist beim Sichten der Gegenstände auf ein Paket gestoßen, worauf ein Zettel geklebt war, auf dem stand, dass du diese Kiste erhalten sollst. Herr Förster sagte mir, er habe sie nicht aufgemacht und wisse nicht, was sie enthielte. Tja, wer es glaubt. Der Kerl ist irgendwie künstlich und aufgesetzt. Er hat bestimmt geschaut und sich dann gesagt, dass er den Inhalt nicht zu Geld machen könne. Wie dem auch sei. Ich habe jedenfalls nicht reingeschaut. Soll ich das jetzt tun, bevor ich dir das Paket zusende?“

Nachdem sie meine Freigabe erhalten hatte, hörte ich eine Klinge über Paketklebeband ratschen und im Anschluss das Rascheln von Papier.

„Herrje!“, rief meine Mutter schließlich aus. „Da liegt eine Querflöte drinnen. Onkel Carl dachte wohl, dass du Ian Anderson von Jethro Tull bist, dabei ist mein Sohn eines der unmusikalischsten Geschöpfe unter der Sonne. Aber schick sieht sie immerhin aus. Die kannst du sicherlich gut in deine Vitrine in der Diele packen. Eine schöne Erinnerung an Onkel Carl ist sie dennoch. Dann liegt noch ein Brief bei. Den mache ich jetzt aber nicht auf.“

Die Sache mit dem Unmusikalischen meinte sie nicht böse, denn es war endlich ein Faktum. Wir vereinbarten, weil unsere Wohnorte gute zweihundertfünfzig Kilometer auseinanderlagen, dass Mutti bei ihrem nächsten Spaziergang in den Ort das Paket auf der nahen Post aufgebe.

Da sie diesen Weg nicht zu sofort machte, dauerte es eine Woche, bis die Sendung von einem grimmigen DHL-Muffel bei mir vor der Tür abgestellt wurde.

Im Wohnzimmer öffnete ich das Paket und zwischen zahlreichen Zeitungartikeln aus den 1980er-Jahren, die zerknüllt als eine Art Polster dienten, lag tatsächlich eine silbern blitzende Querflöte.

Einen Moment fragte ich mich, warum Onkel Carl mir das hübsche Instrument vermacht habe und ob er mir dieses bereits in den 80er-Jahren beiseite gepackt hatte, als mir der Brief einfiel, der von meiner Mutter in dem Telefonat erwähnt worden war. Ich fand ihn unter all dem Papier und erkannte nach dem Öffnen sofort die messerscharfe Handschrift des alten Freundes.

Mein Bester!

Du hast nie an meinen Worten gezweifelt, mich nie als einen alten Spinner abgetan, wie es die anderen stets getan haben. Daher sollst du meinen wertvollsten Besitz nach meinem Ableben erhalten.

Es würde zu weit führen, hier den endgültigen Zweck dieses zauberhaften Instrumentes zu erörtern. Außerdem kennst du ja meine ausschweifende Art in vielerlei Dingen.

Mit wertvollstem Besitz meine ich hier nicht das verwendete Material oder die Kunst der Fertigung bei diesem Instrument. Der wahre Wert, der wahre Zweck findet sich erst, wenn man eine bestimmte Melodie auf genau dieser Flöte spielt. Die Noten zu dieser Melodie findest du auf der Rückseite dieses Schreibens.

Ich hoffe, dass Dich meine Zeilen bei bester Gesundheit erreichen und dass es Dir, was immer aus Dir geworden sein mag, gutgeht.

Liebe Grüße

Dein Onkel Carl

Ich nahm das Musikinstrument in die Hände, fühlte dessen beeindruckende Schwere, betrachtete es eine Weile im Sonnenlicht, welches durch die Fenster fiel und mein Erbe silbern funkeln ließ.

Natürlich erwartete ich nicht, dass beim Spielen etwas Weltbewegendes passierte, aber mir erschien es angebracht, die paar Noten auf der Rückseite hörbare Musik werden zu lassen, weil dieses auf eine bestimmte Art und Weise wohl Onkel Carls letzter Wille zu sein schein.

Eine gute Freundin von mir hatte an der weltberühmten Musikhochschule zu Detmold studiert und war nun Mitglied des Symphonieorchesters der Großstadt, in welcher wir lebten. Dort spielte sie Violine, aber meines Wissens nach beherrschte Katharina mindestens zwölf weitere Instrumente.

Ja, bestätigte die strohblonde Geigerin mir auf Nachfrage per WhatsApp, Querflöte könne sie problemlos spielen und stelle sich gerne bereit, den letzten Wunsch meines alten Freundes Wirklichkeit werden zu lassen. Sie wolle dafür keine Gegenleistung haben, aber meine Einladung zum Abendessen nehme sie dennoch gerne an. Es gäbe ihrerseits jede Menge Neues zu berichten, und wenn mir der Kopf danach stünde, würde sie im Anschluss an das Abendessen selbstverständlich noch den einen oder anderen anständigen Cocktail bezahlen.

So trafen wir uns an einem Samstagabend bei mir daheim, um die Musik aufleben zu lassen und danach mit der U-Bahn in die Innenstadt zu fahren.

„Das sind ganz schön komplizierte Notenkombinationen. Ich habe so etwas zuvor noch niemals gesehen. ` sieht mir fast wie etwas Fernöstliches aus. Aber, ich werde es hinkriegen!“, sagte Katharina, nachdem sich ihr erster Blick von der Tabulatur abgewendet hatte.

Und Katharina bekam es nach einer kurzen Vertiefung in die Noten tatsächlich mit einer prächtigen, akustischen Leistung hin. Wundervolle, exotische Klänge erfüllten mein Wohnzimmer; geheimnisvoll, verschnörkelt, zauberhaft. Die Komposition begann zärtlich sanft, steigerte sich dann und endete endlich in einem dynamischen Finale.

Als die letzten Klänge dieser Darbietung noch im Raume schwebten, geschah das Unglaubliche.

Ein kleiner, roter Punkt, der mich an ein überdimensioniertes Glühwürmchen erinnerte, tauchte aus dem Nirgendwo oder einer anderen Dimension heraus auf. Sein Licht besaß gleißende Helligkeit und zu sofort überstrahlte es die Standardbeleuchtung des Wohnzimmers. Es wuchs heran, wurde zu einer Kugel mit der Größe eines Fußballs, um endlich seine Form zu ändern und bogenförmig zu werden. Aus diesem bogenförmigen Lichtgebilde manifestierte sich schließlich ein Bogen mit silbernem Rahmen, der fast bis an die Zimmerdecke heranreichte und in dessen Zwischenraum es violett funkelte und leuchtete.

Synchron standen Katharina und mir die Münder offen und kein Wort kam über unsere Lippen, wobei wir unfähig waren, uns zu bewegen. Doch schließlich schaffte ich es, an dieses obskure Objekt heranzutreten, welches seichte, rauschende Geräusche von sich gab, als lausche man einer kräftigen Brandung in der Distanz. Ich erkannte, dass das violette Scheinen eine Art Schleier darstellte, welcher leicht vibrierte, nachdem meine Hand ihn durchdrungen hatte.

„Das ist ein Schleier oder Vorhang, aber richtig fest ist er nicht. Es kribbelt leicht, wann man seine Hand durchsteckt. Ein bissle ist es so, als wenn einem der Fuß einschläft. Und, du siehst es ja selber, obwohl dieses Objekt nur dreißig Zentimeter tief ist, verschwindet mein Arm gänzlich in ihm und kommt nicht auf der anderen Seite wieder heraus. Das scheint ein Tor in eine gänzlich andere Welt zu sein. Ich möchte wissen, was dahinterliegt.“, kam es mir endlich über die Lippen und meine Stimme klang merkwürdig fremd in meinen Ohren.

Faszination und Neugier hielten ihre starken Arme entschlossen um mich.

„Du wirst doch nicht etwa durch diesen Schleier gehen und in dieses Ding da rein!“, rief Katharina mit entsetzter Stimme aus. „Wer weiß, was dahinterliegt. Es könnte dich umbringen durch Strahlung oder so!“

Da hatte sie selbstverständlich recht, aber es kam mir vor, als zöge eine unsichtbare Kraft im Kopfe nun die Fäden. Ich musste diese Schwelle einfach passieren!

„Geh nicht weiter! Bleib stehen!“, hörte ich sie noch und trat durch den Schleier und das schmale Tor.

Es kribbelte einmal kurz am ganzen Körper und dann war ich hindurch und schwebte in endloser Weite, wo es weder ein Unten noch ein Oben gab, keinen Grund und keinen Himmel, keine Farbe in dem Äther, in dem ich mich nun befand. Es herrschten wohlige Temperaturen. Ich wendete meinen Blick, doch das durch Flöte und Musik geöffnete Tor war verschwunden. Statt des Gedankens, dass nun vielleicht die Tür in die vertraute Welt auf ewig zugefallen sein könnte und über diese Vorstellung Angst zu empfinden, keimte grenzenlose Hoffnung allmählich in mir auf. Wie ein Vogel in der Luft, dem hohen Gefühl der Freiheit in mir, flog ich vor und zurück und zurück und vor. Dann öffneten sich die Trichter. Überall um mich herum tauchten sie buchstäblich aus dem großen Nichts auf. In ihren Öffnungen erstrahlten die intensivsten Regenbogenfarben und sie füllten die gesamte Unendlichkeit aus.

Kurz nach deren Auftun fuhr das Wissen des gesamten Kosmos in mich hinein, was ein wahrhaft atemberaubendes Gefühl darstellte. Nun wusste ich, dass jede Welt, jede nur denkbare Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihr eigenes Universum stets aufs Neue erschuf. Wahrscheinlich versagte bei der Gesamtzahl dieser Universen nicht nur die menschliche Vorstellungskraft, sondern scheiterte ein jeder Computer gleich von welcher Leistungskraft.

Zufällig flog ich auf einen dieser Trichter zu und als mein Flug eine gewisse Grenze zu diesem Objekt hin passiert hatte, zog eine leichte, doch bestimmende Kraft mich mit sich und in die bunte, flackernde Öffnung hinein. Ein knisterndes Geräusch drang an meine Ohren und ich musste an den Stromabnehmer einer Lokomotive denken, der bei strömendem Regen an eine triefendnasse Oberleitung kam. Alle nur erdenklichen Farben erschienen nun vor mir. Sie bildeten eine gleißende Röhre um mich herum, verschmolzen zu einer bunten Wand, die Struktur und Textur stetig änderte. Der Fallwind wehte durch meine etwas zu langen Haare, jedenfalls wenn es auf einen normalen Mann von Mitte vierzig bezog.

Dann stand ich von jetzt auf gleich am Ufer eines smaragdgrünen Ozeans im violetten Sand und sah, wie sich dessen magisches Wasser am Strande brach in silbern funkelndem Schaum. Den größten Teil des Himmels nahm ein tiefblauer Gasplanet ein, den ein prächtiges Ringsystem umgab, welches nicht minder silbern als die Brandung erstrahlte.

Hinter mir erhoben sich gewaltigen Dünen und die Luft besaß eine kaum beschreibbare Klarheit. Im Planetenlicht sahen die hier wachsenden Pflanzen orange und pink aus. Dahinter, jenseits der Düne, lag meine neue Heimat, das stand zweifelsohne fest. Das Schicksal hatte es immer schon so vorgesehen und so täte es nun auch kommen. Mir war weder bange noch einsam, hier lag die Wurzel meines Glückes, wobei ich noch nicht wusste, wie genau es ausschauen würde. Jedoch drängte die dahingehende Zeit auch nicht. Hier gab es keine Eile, keine Sorgen, keine Not, kein Leid.

Ich dankte Onkel Carl für all das, was geschehen war und noch geschehen sollte.

Bevor ich jedoch den Weg über die Dünen und in meine neue Welt hineintat, setzte ich mich in den warmen Sand am Ufer des smaragdgrünen Ozeans, um euch von dieser Geschichte zu berichten.

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