Читать книгу Die neue (Ab)normalität - Robert Misik - Страница 10
MASKIERT
ОглавлениеDie anderen sind nicht nur mit einem Verdacht umgeben, sondern seltsam anonyme Gestalten, in der U-Bahn, im Supermarkt, im Zug, wo immer man Leuten begegnet, man begegnet keinen Gesichtern, sondern allenfalls noch Augen. Die Fremden sind fremder, wenn sie Mund-Nasen-Schutz tragen. Neutrums, die wir gar nicht mehr wahrnehmen, oder sie sind eine Art Fragezeichen, bei denen wir uns auf Basis weniger Merkmale und Gesichtsausschnitte eine Geschichte dazu denken müssen. Masken entziehen den Blicken die wichtigste Kontaktfläche: das Gesicht des Gegenübers.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich Menschen anstarre.
Es ist auch eine der Eigenarten dieser Zeit, dass das Tragen der Maske zu einem Politikum geworden ist. Wer die Krankheit ernst nimmt, trägt Maske. Wer sie für »ein kleines Gripperl« hält, trägt keine. An manchen Orten der Welt ist die Maske schon beinahe so etwas wie ein Parteiabzeichen. In New York trägt praktisch jeder Maske, denn wer sie nicht trägt, der hätte sich, jedenfalls bis zum Präsidentenwechsel, als Anhänger von Donald Trump zu erkennen gegeben. Die Maske, so tönten die, die Corona für eine Verschwörung hielten, würde uns unserer Individualität berauben, nicht nur unterwerfe sich aus ihrer Sicht der Maskenträger den Befehlen der Obrigkeit, er lösche auch sein Gesicht aus. Er uniformiere sich gleichsam als einer, der sich der herrschenden Macht unterworfen habe. Es ist keine unwitzige Pointe dieser Geschichte, dass im Lateinischen persona zugleich Maske bedeutete. Auch die antiken Griechen hatten dasselbe Wort für Maske und für Gesicht (prósôpon). Im griechischen Theater war die Maske das Merkmal des dargestellten Charakters, und wenn wir genauer darüber nachdenken, beschleicht uns der Gedanke, dass das mehr sein könnte als eine amüsante linguistische Pointe für Altertumswissenschaftler. Wir alle spielen auch heute Rollen in der Öffentlichkeit, und sei es nur in der alltäglichen Öffentlichkeit unserer engeren Kreise, und diese Rollen sind maskierten Charakteren nicht unähnlich. Persona ist eben gerade, auch heute, nie die unverstellte Individualität, sondern die Rolle, die oberflächlich gegenüber der Außenwelt eingenommen wird. Die dargestellte Individualität ist insofern gerade eine Maske. Viele von uns tragen Masken, damit sie unbehelligt durchs Leben kommen, damit man sie mag, akzeptiert und liebt. Womöglich kommt der Hass auf die Maske gerade daher, dass wir schon länger alle eine Entfremdung verspüren, eine Entfremdung von unserem Ich durch die metaphorischen Masken, die wir in der normalen Normalität tragen. In der neuen Normalität oder der neuen Abnormalität verunmöglichen die FFP1, FFP2 oder andere Masken gerade dieses Rollenspiel, das wir uns angewöhnt haben. Die Rolle, die wir einnehmen, verlangt nach Blicken, Gesten, die Zitate sind, Mimik, die von anderen deutbar ist, nach Interaktionen, kurzum: nach den Künstlichkeiten, die zu unserer zweiten Natur geworden sind. In unserem alltäglichen Rollenspiel sind wir plötzlich behindert. Wir wollen individuell und eigen sein, dafür haben wir uns unsere angewachsenen Masken zurechtgelegt, aber hinter der medizinischen Maske sind wir alle irgendwie gleich.
Die anderen sind mit einem Verdacht umgeben und wir nähern uns ihnen nur mit Vorsicht, das aber nicht nur aus medizinischen Gründen. Nach den ersten Monaten der Pandemie, als der erste Schreck überwunden und die erste Welle überstanden war, schieden sich die Geister. Die einen hatten genug von alldem und waren versucht, sich durch Verleugnung aggressiv das Thema vom Leib zu halten, andere hatten Angst zu sterben. Und das waren nur die beiden Pole, dazwischen gab es alle Graustufen, die dennoch ausreichten, Freundeskreise zu zerreißen. Man führte plötzlich Gespräche im Vermeidungsmodus und Vorsichts-Alert. Wenn jemand die Corona-Regeln ansprach, stand er im Verdacht, einer dieser durchgeknallten Verschwörungslügner zu sein, und man beobachtete sich dabei, dass man extra behutsam sprach, um die Sache – etwaig – nicht eskalieren zu lassen. Ich stellte an mir fest, dass ich, bevor ich ein Gespräch über Meinungen zum Thema begann, abtastete, was das Gegenüber denn meinen könnte, um gegebenenfalls rechtzeitig das Thema zu wechseln. Dass jeder abdriften kann, ist die ernüchternde Erfahrung dieser Monate. Der Verdacht gegenüber dem anderen ist eine Erscheinungsform der sozialen Distanzierung, des Zerreißen der Kette des Seins während der Pandemie.