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DER TRAUMSCHAMANE AUS DER SCHWEIZ

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Wenn Sie wissen möchten, wie ein westlicher Traumschamane aussehen könnte, dann ziehen Sie Carl Gustav Jung und die neuen Enthüllungen in seinem Roten Buch in Erwägung. Das Material für Das Rote Buch - das mit seiner schönen Kalligraphie, den lebendigen Illustrationen und schmückenden Details einem bebilderten Manuskript aus dem Mittelalter gleicht - hat er aus den Tagebüchern und »schwarzen Büchern« geschöpft, die er in den Jahren seiner »Konfrontation mit dem Unbewussten« schrieb, als er die Gratwanderung zwischen Genie und Wahn machte. Wie er es schildert, hat der »Geist der Tiefe« ihn aus den bequemen, rationalen Anschauungen des »Geists unserer Zeit« gerissen und ihn Nacht für Nacht durch die unheimlichen Stufen der Initiation in der Unterwelt gezerrt.

Das Rote Buch ist nichts für schwache Nerven. Ja, es finden sich Passagen schillernder Schönheit, die vielleicht noch wundervoller sind als alles andere, was er geschrieben hat. Doch es enthält auch Sturzflüge in Abgründe des schieren Terrors und schreienden Wahns. Als ich es las, gab es einen Moment, in dem ich das Buch am liebsten quer durchs Zimmer geschleudert hätte - und das womöglich auch getan hätte, hätte es nicht den Umfang und das Gewicht eines Grabsteins, so dass zu befürchten war, dass meine Zimmereinrichtung Schaden erleiden würde.

In einem Krater einer dunklen, erschreckenden Welt in der Tiefe, wo schwarze Schlangen eine rote Sonne zu zerstören drohen, begegnet er dem Propheten Elias und dessen »Tochter« Salome, der bösen Schönheit, die die Enthauptung des biblischen Johannes des Täufers zu verantworten hat. Salome offenbart Jung - zu seiner Überraschung und Verwirrung -, sie seien Geschwister, die Kinder der Mutter Maria. Ungläubig und um seinen Verstand fürchtend schreit Jung sie an, dass sie und die Gestalt des Elias nur »Symbole« seien. Elias widerspricht ihm und weist ihn darauf hin, dass sie genauso real seien wie seine Mitmenschen. Indem er sie Symbole nannte, würde er gar nichts lösen. Wie Jungs Elias ihm außerdem sagte, seien Jungs Gedanken genauso außerhalb seiner selbst wie Bäume oder Tiere außerhalb des Körpers seien.14

Während C. G. Jung sich bemüht, weiterhin ein normales Leben als berühmter Psychoanalytiker und Vater von fünf Kindern zu führen, wird sein Realitätssinn durch die nackte Gewalt seiner nächtlichen Visionen und synchronischen Phänomene am Tag erschüttert, die ihm das Gefühl vermitteln, als würden die Mächte einer tieferen Welt an die Oberfläche kommen. Im Dezember 1913 hält er im gut geschnittenen Anzug vor der Psychoanalytischen Gesellschaft Zürich eine polierte Vorlesung. Drei Nächte später offenbart er Elias, ihm sei, als wäre er in der Unterwelt realer, doch er wolle nicht dort sein.15

Jung geht durch die Hölle. Er spricht mit einem roten Teufel. Er kämpft mit einem Stiergott und schrumpft ihn auf die Größe eines Hühnereis, das er in die Tasche stecken kann; dann lässt er den alten gehörnten Gott wieder aufleben. Er heult einen toten Mond und ein dunkles Meer wegen der Verbindung von Gut und Böse an, doch er traut seinen eigenen Rufen nicht.

In einem unheimlichen Waldsumpf gelangt er in eine Schlossbibliothek und hofft auf einen Ort des Rückzugs und der Reflexion. Als der Bibliothekar ihn auffordert, sich ein Buch auszusuchen, nennt er zum Erstaunen beider The Imitation of Christ von Thomas à Kempis, einem im Mittelalter beliebten Schriftsteller. Immer wieder merken wir, dass unser verzweifelter Reisender im mittleren Alter ist; vor wenigen Monaten wurde er vierzig. Er diskutiert mit dem Bibliothekar, was es heißen würde, heutzutage Jesus zu imitieren. Da Christus niemanden imitiert hat, findet er, dies würde bedeuten, seinen eigenen Weg zu gehen und einen hohen Preis für kreatives Schaffen von einer Art, wie sie noch keiner vor ihm aufgezeichnet oder angewendet hat, zu zahlen. Dann gelangt er in eine Küche neben der Bibliothek und spricht mit einer rundlichen, mütterlichen Köchin. Starke Unruhe liegt in der Luft. Ein Schwarm rastloser Toter fliegt durch den Raum und schreit etwas über »nach Jerusalem gehen«. Er fragt, warum die Toten nicht ruhen, und ihr Anführer weist Jung an, er solle ihnen das erklären. Jung sagt den Toten, sie könnten wegen dem, was sie im Leben versäumt hätten, nicht zur Ruhe kommen. Die Toten klammern sich an ihn und er ruft: »Lass los, Daimon, du hast dein Animalisches nicht gelebt« - womit er das instinktive, natürliche Leben der Sinne meint.

Das Geschrei dieses Streits wird so laut, dass die Polizei auftaucht und ihn in eine psychiatrische Anstalt bringt. Dort stellt ein dicker, kleiner Professor nach einer ganz kurzen Befragung »religiösen Wahn« fest. Er merkt an, dass das Imitieren von Christus einen heutzutage ins Irrenhaus bringe.

Jung wird zwischen zwei anderen Patienten - der eine ist in Lethargie verfallen und der andere leidet unter einem rasch schrumpfenden Gehirn - in einen Raum gesperrt. Jung vergleicht sich mit Jesus, der zwischen zwei Dieben gekreuzigt wurde, von denen einer hinauf- und der andere hinuntersteigen wird. Seine Gedanken wenden sich dem Problem zu, wie man mit den Toten umgehen soll. Ihre Anzahl ist viel größer, als er gedacht hat, wie die Küchenszene ihm gezeigt hat. Er merkt an, dass die Toten schon seit ewigen Zeiten durch die Luft geflattert und wie Fledermäuse unter unseren Dächern gewohnt hätten. Das erfordert »verborgene und seltsame Arbeit«, doch es ist ihm noch nicht klar, wie er das von seiner Zelle aus bewerkstelligen kann.

Er hört einer Stimme zu, die den Wahn anpreist, einer Stimme, die er als seine Seele identifiziert. Laut C. G. Jung ist Wahn eine besondere Form des Geistes, die sich an alle Lehren und Philosophien klammert, noch mehr jedoch an das tägliche Leben, da das Leben an sich unlogisch ist.

In der Nacht bewegt sich alles in seinem Zimmer in schwarzen Schwaden. Die Wände werden zu furchterregenden Wellen. Nun befindet er sich im Raucherzimmer eines großen Ozeandampfers, in dem der dicke, kleine Professor prachtvoll gekleidet wieder auftaucht und ihm einen Drink anbietet, während er ihm eröffnet, dass er, Jung, vollkommen verrückt sei und in eine Anstalt eingewiesen werden müsse. Sein apathischer Zimmernachbar taucht auf und verkündet, er sei Nietzsche und zugleich der Erlöser.

Jung schreibt, dass in dieser Nacht alle Dämme brachen, dass sich die Steine in Schlangen verwandelten und alles Lebendige erstarrte. Zurück in seiner verschlossenen Zelle im Irrenhaus kämpft er gegen verstrickende Spinnweben aus Worten und Gedanken. Er ermahnt sich, nichts, was er tut, zu einem Gesetz zu machen, denn das ist die Überheblichkeit der Macht. Dennoch merkt er, dass er ein Gesetz des Lebens nach dem anderen ausspricht, in der Art von Nietzsche, dessen Identität der Irre zu seiner Linken angenommen hat.

Jung weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist, als er einen rauschenden Wind hört und gleich darauf eine hohe dunkle Wand, die immer näher kommt. An ihr kriecht ein grauer Wurm aus Tageslicht entlang. Er hat ein rundes Gesicht und lacht. Jung öffnet die Augen und blickt auf in das fröhliche rundliche Gesicht der Köchin. »Sie haben fest geschlafen«, sagt sie zu ihm. »Sie haben über eine Stunde geschlafen.«

Jung glaubt zwar, wach zu sein, aber er befindet sich natürlich immer noch in einem Traum und entrückt von seinem physikalischen Zuhause. Anders als in den Klischeegeschichten, in denen das Unmögliche erklärt wird und die Handlung wieder aufgegriffen wird, sobald der Schlafende aus seinem Traum erwacht, gibt es hier nur das Erwachen innerhalb eines enormen, schnellen, unentrinnbaren Traums.

Der Augenblick, in dem ich nahe dran war, Das Rote Buch in die Ecke zu werfen, kam an dem Punkt, an dem C. G. Jung beschreibt, wie er von einer Frau, die sich seine Seele nannte, dazu gedrängt wurde, ein Stück der Leber eines ermordeten Mädchens zu verspeisen.16 Ich war angeekelt und hätte mich fast erbrochen. Doch ich zwang mich dazu, weiterzulesen, jeden Schritt mit Jung auf seiner beängstigenden schamanischen Reise durch die vielen Zyklen der Unterwelt zu gehen.

Wie Jung zugegeben hat, könnte jeder, der die letzten Kapitel von »Liber Primus«, dem ersten Teil des Roten Buchs, aus dem Zusammenhang gerissen liest, den Verfasser für verrückt halten. Zwar brillant und lehrreich, aber dennoch verrückt. Doch aus solchen gefährlichen Abenteuern jenseits des eingezäunten Gebiets des gesunden Menschenverstands leitete Jung seine Vorstellungen von »psychologischer Objektivität« ab, einem der stimulierendsten Elemente seiner späteren Arbeit. Aus seinen Dialogen mit seinen Traumfiguren und seinen Versuchen, die Kräfte, die mit ihnen einhergingen, zu integrieren und ins Gleichgewicht zu bringen, entwickelte er seine Praxis der aktiven Imagination. Wie er dem holländischen Dichter Roland Holst sagte, hatte er sein Werk Psychologische Typen aus dreißig Seiten seines Roten Buchs heraus entwickelt.17 Das waren offensichtlich die Seiten, auf denen die Begegnungen mit Elias und Salome stattfinden und auf denen - nachdem Jung so lange von einer riesigen schwarzen Schlange fest umschlungen wird, bis das Blut aus ihm herausspritzt und sein Kopf sich in einen Löwenkopf verwandelt - Salome zu ihm sagt: »Du bist Christus.«18

Auf diese Episode in seinem transpersönlichen Innenleben im Jahr 1925, die auf der Scheidelinie des katastrophalen Weltkriegs lag, den mehrere seiner Visionen vorausgenommen hatten, blickte C. G. Jung auf einem Seminar zurück, als er sagte, man könne sich dieser unbewussten Fakten nicht bewusst werden, ohne sich ihnen hinzugeben. Wenn man seine Ängste vor dem Unbewussten überwinden und sich fallen lassen kann, dann bekommen diese Fakten ein Eigenleben. Es kann passieren, dass man von den Vorstellungen so gepackt wird, dass man wirklich verrückt oder fast verrückt wird. Die Bilder formen einen Teil der uralten Mysterien. Es sind genau Fantasien, die die Mysterien geschaffen haben.19

In seinem Schlusswort zu Das Rote Buch schrieb er fast ein halbes Jahrhundert später, dass er tatsächlich verrückt geworden wäre, wenn er es nicht geschafft hätte, die überwältigenden Kräfte der ursprünglichen Erlebnisse zu absorbieren. Manche der Prozesse, die er dadurch entwickelte, sind für uns alle geeignet. Er schrieb sich durch die Phase hindurch, indem er alles notierte und dann seine Tagebücher schrieb. Er suchte nach und schuf Bilder der Ausgewogenheit und Integration, aus denen eine faszinierende Reihe von Mandalas wurde. Und er entwickelte die Technik, die er aktive Imagination nannte. Statt die Gestalten und Inhalte unserer Träume und Fantasien abzulehnen, arbeiten wir bei dieser Methode mit ihnen und tragen das Drama weiter zur Heilung und Erlösung.

Er sei ins Mysterium gefallen, sagt Jung, nachdem er von der schwarzen Schlange fast zerdrückt und von Salome salutiert wurde.20 Das Rote Buch zeigt uns den enormen Preis, den Jung für seine Erkenntnisse bezahlt hat, und das Ausmaß seines Muts und letztendlich seiner meisterhaften Selbstbeherrschung. Es ist die Dokumentation eines tiefgründigen schamanischen Abstiegs in die Unterwelt sowie eines langen Tests und einer ausführlichen Einweihung in Räumen des Dunklen, aus denen ein weniger starker Geist und eine schwächere Seele womöglich nie mehr den Weg zurück gefunden hätte.

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Aus der schamanischen Tiefe seiner persönlichen Erfahrungen, die auf der Wissenschaft, den Lehren und der analytischen Praxis beruhen, entwickelte Jung eine Tiefenpsychologie, in der Träume im Mittelpunkt stehen. Er erkannte, dass die meisten von uns nur ein oder zwei Stockwerke des Gebäudekomplexes bewohnen, aus dem unsere Psyche besteht, und sich der vielen anderen Ebenen und Räume gar nicht bewusst sind. Wie wir sehen werden, werden wir in unseren Träumen von Häusern (und anderen Träumen) wach für die Dinge, die sich auf den anderen Stockwerken befinden. Jung schuf den Begriff Individuation für den Prozess des Erkennens und Integrierens dessen, was in den restlichen Räumen unseres persönlichen Wohnhauses zu finden ist.

Außerdem erfand er einen Wortschatz für das, was auf den verschiedenen Ebenen dieser Wohnhäuser lebt. Viele Begriffe sind dank der Arbeit von Jungs Anhängern wohl bekannt, wenn auch nicht immer richtig angewandt. Es gibt die Schattenseite, die einen oder mehrere Teile unseres Selbst darstellt, den oder die wir nicht mögen, nicht kennen und auch nicht kennen lernen wollen. Der Schatten kann negativ oder positiv sein. Dann gibt es die Anima, die Frau im Mann, und den Animus, den Mann in der Frau. In seinen späteren Jahren sagte Jung, den Schatten zu erkennen sei das, was er die Lehre nennt. Aber sich mit der Anima auseinanderzusetzen sei das, was er das Meisterwerk nenne, das nicht viele erreichen würden.21 Konflikte unter den Hausbewohnern sind genauso unvermeidbar wie Konflikte und »Widersprüche« in unserer Welt. Es gäbe keine Auflösung, nur das geduldige Ertragen von Gegensätzen, die sich letztendlich aus dem eigenen Wesen ergeben, schrieb Jung in einem Brief. Man selbst ist ein Konflikt, der in sich und gegen sich wütet, um seine unvereinbaren Substanzen - das Männliche und das Weibliche - im Feuer des Leidens miteinander zu verschmelzen und so die feste, unveränderbare Form zu erschaffen, die das Lebensziel ist. Wir werden so lange zwischen den Gegensätzen gekreuzigt und der Folter ausgeliefert, bis das versöhnende Dritte Gestalt annimmt.22 Und was ist dieses »versöhnende Dritte?« Es ist die Bewegung auf das Selbst zu (das wir das Höhere Selbst nennen können). Es bezieht die »Annäherung an das Göttliche« mit ein, die Jung als das Herzstück seines Werks definiert hat. Wie er sagte, galt das Hauptinteresse seiner Arbeit nicht der Behandlung von Neurosen, sondern vielmehr der Annäherung an das Göttliche ... Für Jung war die Annäherung an das Göttliche die wahre Therapie und insofern man die göttliche Erfahrung macht, wird man vom Fluch des Pathologischen befreit. Sogar die Krankheit an sich nimmt eine göttliche Eigenschaft an.23

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In der Praxis übernahm Jung mehrere der charakteristischen Methoden des Schamanen, der weiß, dass das richtige Lied oder die richtige Geschichte das Verhalten des Körpers verändern und die Kraft der Seele anrufen kann. Einmal erklärte sich Jung bereit, eine Frau mit »unheilbarer Schlaflosigkeit« zu empfangen, bei der bisher kein Mittel gewirkt hatte. In ihrer Gegenwart erinnerte er sich an ein Gutenachtlied, das seine Mutter ihm in seiner Kindheit vorgesungen hatte. Er fing an, es laut zu summen. Das Lied handelt von einem Mädchen in einem kleinen Boot auf einem Fluss voller glänzender Fische. Es hat den Rhythmus von Wind und Wasser. Jungs Patientin war verzaubert. Seit dieser Nacht war ihre Schlaflosigkeit wie weggeblasen. Ihr Hausarzt wollte wissen, was Jungs Geheimnis war. Er fragt sich, wie er dem Hausarzt hätte erklären können, dass er einfach nur auf sein Inneres gehört hatte? Er war auf dem Meer. Wie hätte er dem Mann sagen können, dass er der Patientin nur mit der Stimme seiner Mutter ein Gutenachtlied vorgesungen hatte? Eine Verzauberung dieser Art sei die älteste Form von Medizin.24

Jung, der Traumschamane, wusste und bestand darauf, dass Träume uns zeigen, was die Seele im Leben will. In Erinnerungen, Träume und Gedanken schreibt er, ihm kämen den ganzen Tag über aufregende Ideen und Gedanken. Doch er beziehe nur die in seine Arbeit mit ein, zu denen seine Träume ihn leiten würden. Er war immer bereit, sich durch seine Träume in Bewegung zu versetzen und Kurskorrekturen von ihnen anzunehmen.

Während er heilige Stätten in Indien aufsuchte, wurde er plötzlich auf eine wichtige Mission zurück nach Europa geschickt. In seinem Traum befindet sich Jung mit Freunden auf einer Insel an der Südküste von England. Er steht unter dem Schutzwall eines Schlosses, das von Kerzen erleuchtet ist. Er erkennt das Schloss als Heimat des heiligen Grals. Doch der Gral ist noch nicht da. Im Traum erfährt Jung, dass seine Mission darin besteht, in der Dunkelheit zu einem leeren, abgeschiedenen Haus zu schwimmen, den dort versteckten Gral zu bergen und ihn zu seinem wahren Zuhause zu bringen. Jung deutet den Traum als Aufforderung, als westlicher Mensch zu sehen und zu handeln. Er schreibt, es sei, als würde ihn der Traum fragen: ›Was machst du in Indien? Suche lieber für dich und deine Mitmenschen das heilende Gefäß, salvator mundi, das ihr so dringend braucht.‹25

Ein Traum lieferte Jung ein Kraftbild zur Selbstheilung, als er nach einer Herzembolie im Jahr 1946 dem Tod nahe war. Er schrieb in seinem Bett mit Bleistift an einen englischen dominikanischen Priester (Victor White) über einen Traum, der ihm Hoffnung machte. Das Traumbild war ein bläulicher Diamant im Himmel, der sich in einem stillen, runden Teich spiegelte. Die ruhige Schlichtheit dieses Bildes nach den komplexen Stürmen seines früheren Lebens und seiner »Konfrontation mit dem Unbewussten« gab ihm Kraft und Zuflucht.

Nahe dem Ende seines Lebens wurde Jung von einem Traum zu einem entschiedenen Schritt angespornt, sein Werk Lesern außerhalb des recht kleinen Kreises von Akademikern, Wissenschaftlern und Analytikern zugänglicher zu machen.

Trotz des Überflusses an neuen Ausgaben und Auswahlbänden aus seinem Werk, die man in fast allen Buchhandlungen findet, lesen und verstehen heutzutage nicht viele Leute C. G. Jungs eigene Schriften (im Gegensatz zu jungianischen Erörterungen). Seine umfangreiche Lehre, einschließlich der Klassiker - deren Griechisch und Latein er für seine Monografien verwendet hat - ist für viele zu unförmig und abschreckend.

In seinem letzten großen Essay hat Jung es jedoch geschafft, seine besten und originellsten Ideen so zu formulieren, dass sie für eine breite Leserschaft einfach genug sind, ohne irgendetwas zu verwässern oder zu vereinfachen. Er tat dies aufgrund eines Traums.

1959 nahm Jung an mehreren sehr menschlichen gefilmten Interviews mit John Freeman von der BBC teil. Nachdem der Regisseur Aldus Books sie gesehen hatte, kam ihm eine glänzende Idee: Warum nicht Jung bitten, ein Buch für die Allgemeinheit zu schreiben? Als Freeman Jung auf Anweisung des Regisseurs fragte, war dessen Antwort ein glattes Nein. Er war mittlerweile über achtzig und wollte die Zeit, die ihm noch verblieb, nicht mit Bücherschreiben verschwenden. Doch dann träumte Jung, er würde an einem öffentlichen Ort stehen und vor einer bunten Menge von Menschen eine Vorlesung halten. Sie hörten nicht nur aufmerksam zu, sondern verstanden auch, was er sagte.

Durch diesen Traum änderte Jung seine Meinung. Er setzte sich an das Buch, das nach seinem Tod unter dem Titel Beiträge zur Symbolik des Selbst veröffentlicht wurde. Er sah es als ein Gemeinschaftsprojekt an und bat Kollegen, denen er vertraute - wie zum Beispiel Marie-Louise von Franz -, eigene Kapitel beizusteuern. Sein persönlicher Beitrag war ein langer Essay mit dem Titel »Annäherung an das Unbewusste« über das Unbewusste. Der Aufsatz ist das Einfachste, was Jung je verfasst hat. Das heißt, wenn Sie auf den ersten Seiten auf einen Begriff wie z. B. Misoneismus (Angst vor dem Neuen) stoßen, dann bleiben Sie gelassen.

In seinem Essay geht es hauptsächlich um Träume. Er hat ihn nur zehn Tage vor dem Beginn seiner letzten Krankheit verfasst; daher kann man diesen Text als sein Testament bezeichnen. Der Essay bezeugt vor allem die vorrangige Wichtigkeit, die Träume in Jungs Tiefenpsychologie und seiner Vision von der menschlichen Natur und ihrer Evolution einnehmen. Jung macht die unvergessliche Aussage, es sei eine uralte Tatsache, dass Gott hauptsächlich durch Träume und Visionen spreche.26

Traum-Heiler

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