Читать книгу Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620 - Robert Ralf Keintzel - Страница 10
Оглавление4.1 DER ARBEITENDE STAND
Es ist aber falsch, zu glauben, dass es den Bauern, Adel oder Klerus gab, die Standesgruppe waren sehr heterogen. Bei den Hörigen unterschied man bei der Grundherrschaft, ob durch den König, Kirche oder Klerus ausgeübt, der Rechtsstand wurde unterschieden, ob in Freiheit, Halbfreiheit oder Unfreiheit. Auch war diese Gruppe in ihrer Funktion ausdifferenziert. Bauern konnten in der Stadt oder auf dem Land leben, eine Amtsfunktion bekleiden oder eben nicht, viele oder wenige grundherrschaftliche Leistungen erbringen sowie beispielsweise eine große Wirtschaftsfläche oder eine kleine aufweisen.113 Das Bild in der Geschichtskultur vom hörigen Bauern, welcher komplett rechtlos ist und unter einem grausamen Herrscher leidet, kann so nicht pauschal bestätigt werden. So waren die Höhe der Sachabgaben und Frondienste wie auch andere Bereich im Leben von abhängigen Bauern nach Gewohnheitsrecht geregelt. Aus den kirchlichen und karolingischen Güterverzeichnissen kann entnommen werden, dass die Landwirtschaft die alles beherrschende Wirtschaftsform des älteren deutschen Reiches war. Danach gab es verbreitet Großgrundbesitz, welcher in das vom Gesinde bewirtschaftete Herrenland und anderseits in die Höfe der abhängigen Bauern eingeteilt war. Bei den Frondiensten existierten starke regionale Schwankungen und nach Vollrath kann eine pauschale Aussage, dass unfreie Bauern mehr leisten mussten als freie Bauern nicht getroffen werden. Auch befähigt die Quellenlage nicht zu einer exakten Antwort, dennoch kann festgehalten werden, dass die grundherrlichen Belastungen niedrig bis hoch sein konnten.114 Auch kann keine pauschale ungerechte Bevormundung der Großgrundbesitzer, welche Gericht sowie Verteidigung für abhängige Bauern organisierten, festgestellt werden. Zum einen war Grundherrschaft aufgrund von Erbteilungen oftmals verstreut und weniger auf ein Gebiet konzentriert. So lässt sich Dienheim bei Oppenheim in der Zeit des 8. und 9. Jahrhunderts anführen, hier existierten nach Urkunden 200 Landbesitzer, darunter sieben geistliche Institutionen, deren Herrschaftsrechte sich auf eine Einwohnerzahl von 200 bis 300 Bewohnern aufteilt. Daher muss sich die Frage gestellt werden, inwieweit ein striktes Grundrecht praktiziert wurde. Zusätzlich war der Grundherr auf die Arbeitskraft der Vasallen angewiesen, hierbei lassen sich aus Quellen Rückschlüsse auf einen Arbeitermangel schließen, so zeigt sich im Besitzverzeichnis des Bistums Augsburg, dass in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts 5,6 % der landwirtschaftlichen Güter aus Arbeitermangel nicht bewirtschaftet wurden. Dagegen lässt sich aus Quellen auf ungezügelte Gewalttaten gegenüber Hörigen schließen. So scheint Affektkontrolle wie auch Rationalität in dieser Zeit weniger verbreitet, hier lässt sich im Hofrecht aus dem Jahr 1024/25 von Bischof Burchard von Worms lesen:115
„weil oft um nichts, oder in Trunkenheit oder aus hochfahrender Prahlerei zwei wie wahnsinnig so in Raserei gerieten, daß im Laufe eines Jahres 35 Hörige unschuldig von anderen Hörigen umgebracht wurden; und die Mörder haben sich dessen eher gerühmt und gebrüstet, als daß sie Reue gezeigt hätten.“116
So zeigt sich das soziale Klima des Mittelalters bestimmt durch:
„Sich-Einfügen in die vorgegebene Ordnung einerseits und Ausbrüche von Brutalität und Gewalttätigkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft und gegen jedermann andererseits.“117
Das Mittelalter war eine brutale Zeit, aber eben auch eine Zeit, die arm an Macht war, da Machtausübung durch Institutionen durchgesetzt werden musste, sodass institutionelle Macht kalkulierbar wurde. Aufgrund des Mangels an durchsetzungsstarken Institutionen gab es kein Gewaltmonopol des Staates oder der Herrschenden.118 Hierbei muss aber wiederum differenziert werden, ob der adelige oder klerikale Grundherr unmittelbar mit den Lehensnehmern in Verbindung stand, heißt vor Ort lebte und damit direkten Einfluss nehmen konnte oder weit entfernt lebte und einen mittelbaren Einfluss ausübte. Die Aktivitäten des Königs und des Hofes selbst hatten meist nur einen geringen sowie mittelbaren wie auch zeitverzögerten Einfluss auf die meisten Menschen, da das Deutsche Reich lange keinen Staat mit nachgeordneten sowie weisungsbefugten Behörden darstellte. Vielmehr war das Reich zu dieser Zeit ein Personalverband von institutionellen Flächenstaaten, so begriffen sich auch die einzelnen Stände als Bestanteile des Ganzen, wo jeder seinen Beitrag leistete. Dies änderte sich erst mit dem Investiturstreit.119 In der Zeit der Karolinger wurde die Grundherrschaft stark ausgedehnt, sodass freie Bauern die Ausnahme und nicht die Regel waren. Die Gesellschaft des Mittelalters war eine Agrargesellschaft, eine Gesellschaft von Abhängigkeit und Ordnung, so auch im Denken, auch wenn mit regionaler Differenzierung und Ausnahmen. Technologie und Wissenschaft waren voneinander getrennt und Wachstum konnte nicht aufgrund der Verbesserung von Technologien, sondern aufgrund von Expansion stattfinden.120 Dies führte ab Ende des 11. Jahrhunderts zu einer Beschleunigung der Ausbreitung von Landwirtschaft, unfreie Bauern wurden angeworben, um in neuen Gebieten zu leben und zu arbeiten, als Anreiz wurden ihnen mehr Freiheiten gewährt, sodass sie freier als in den alten Gebieten waren. Somit entstand durch die Expansion eine gesteigerte soziale aber auch örtliche Mobilität.121 Auch durch Ämter konnte ein sozialer Aufstieg gelingen, so gab es bereits unter den Merowingern höhergestelltes höriges Gesinde, welches aus unfreiem Hausgesinde als auch Hufbauern rekrutiert wurde. Diese höhergestellten aber immer noch unfreien Dienstleute bildeten die Gruppe der Ministerialen, welche durch die Ausübung eines Amtes einen Sonderstatus erlangt hatten. Der Status wurde vererbt, sodass sich die Ministerialen im Stand der Bauern als eine Sonderrolle etablierten. So wurde dann auch ihre Rolle erstmals rechtlich im Jahre 1023 im Bamberger Hofrecht festgehalten. Im Verlauf der Zeit glichen sich die Ministerialen den Adeligen rechtlich immer weiter an, so hatten sie einen eigenen rechtlichen Sonderstatus und besaßen abgabefreie ministeriale Dienstgüter.122 Mit der Heeresschildordnung ab der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden Ministeriale auch als Schild des Reiches und damit als Kämpfer gesehen, sodass ab diesen Zeitpunkt Ministeriale im funktionalen sowie hierarchischen Denken den Adeligen näher waren als den Bauern. 123
Abbildung 10:
Die Heeresschildordnung im Heiligen Römischen Reich ab der Mitte des 12. Jahrhunderts - Ministeriale als Bestandteil der Heerschildordnung
Aber auch in den Städten konnten Bauern ihr Glück machen sowie ihrer Unfreiheit entfliehen, diese Städte mussten aber zunächst vermehrt und damit erreichbar entstehen. Durch das Bevölkerungswachstum ab Ende des 10. Jahrhunderts wurde die Grundlage für die Entstehung von Städten geschaffen. Zwischen dem 11. und beginnenden 14. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung des Deutschen Reiches mit regionalen Unterschieden um durchschnittlich rund 0,5 %.124 Im Jahre 1120 wurde Freiburg im Breisgau gegründet, dieses Datum gilt als Markstein deutscher Stadtgeschichte. Die Stadtgründung wurde durch adelige Grundherren sowie den König gefördert, dabei warb man Kaufleute an und gab diesen bei der Stadtgründung Land, auf dem sie ein Haus errichten konnten; der Grundherr war Konrad von Zähringen.125 Mit den Städtegründungen entwickelte sich auch eine Möglichkeit der Landflucht für Unfreie, daraus entwickelte sich auch der Ausspruch: „Stadtluft macht frei.“ Unfreie Bauern flüchteten sich in die Städte und konnten hier Zuflucht sowie Versteck vor ihren Grundherren finden. Mit der Zeit entwickelte sich ein Gewohnheitsrecht und der Grundherr musste mit Zeugen beweisen, dass dieser Stadtbewohner ihn als unfreier Bauer entflohen ist, wenn der Grundherr den Bauern überhaupt fand beziehungsweise sich auf die Suche machte.126 Mit Ausbildung der städtischen Wirtschaft im 12. Jahrhundert kann man von einer ersten Industrialisierung sprechen. Hierbei taten sich besonders Oberdeutschland mit seinen Zentren für Leinen- und Barchent-Webereien in Augsburg und Ulm hervor. Barchent ist ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, das für Leinen benötigte Flachs wurde traditionell bereits in Süddeutschland angebaut und die Baumwolle wurde seit dem 15. Jahrhundert aus Italien importiert. Das deutsche Barchent wurde überwiegend exportorientiert produziert, dieses konnte sich schon bald gegenüber dem italienischen Barchent aufgrund der hohen Qualität durchsetzen. Für die Versorgung der meisten Menschen, vor allem für die Landbevölkerung und die ärmere Stadtbevölkerung, waren die zünftigen Handwerksprodukte noch im 16. Jahrhundert von keiner großen Bedeutung, da Kleider, Schuhe und einfache Werkzeuge selber hergestellt wurden. Mit der Produktion von Barchent waren auch neuere Arbeitsformen, wie eine starke dezentrale Organisation in Heimarbeit, verbunden. Daneben spielte der Bergbau eine wichtige Rolle, hierbei wurde in sogenannten Saiger Hütten, besonders in Thüringen, Silber gewonnen, die „Großindustrie“ für Kupfer im 16. Jahrhundert fand sich unter anderem in Tirol, Kärnten und Ungarn und die Zentren der regional organisierten Eisenproduktion befanden sich in der Oberpfalz, Steiermark und Kärnten. Die Arbeit eines Bergmanns war eine harte körperliche Arbeit, welche in Stollen von rund 1,60 x 1 Meter Querschnitt stattfand und eine Jahresleistung pro Bergmann und Stollen von einer Strecke zwischen zwei bis drei Metern erbrachte.127 Mit dem berühmten Lehrbuch von Georgius Agricola aus dem 16. Jahrhundert fand dann schrittweise die „Mühlenkunst“ durch Wasserräder mit Kraftübertragung Einzug in das Arbeitsleben der Menschen. Bereits im 16. Jahrhundert wurden nach italienischem Vorbild erste vier bis sechs Meter hohe Hochöfen und wassergetriebenen Werkzeug verwendet. Die Nutzung von Wasserkraft war aber nicht nur auf einen Wirtschaftszweig begrenzt. Die Technik breitete sich über die Zweige der Wirtschaft aus, auch in Städten fanden bald Wasserräder Einzug, so fanden sich im Jahr 1601 im Stadtgebiet von Nürnberg 150 bis 160 Wasserräder. Neben Bergbau und Textilgewerbe war auch unter anderem die Bierproduktion herausragend. Hamburg ist dabei als der größte Bierproduzent im Reich des 15. Jahrhunderts mit seinen 500 Brauchberechtigten zu nennen. Die Güter waren aber nicht nur für den lokalen Markt gedacht, so wurde aus Hamburg 2/3 der Bierproduktion exportiert. Trotz der vielen Spezialisierungen und gewerblichen Arbeitsteilung 1568, zählte Hans Sachs über 60 Handwerke und verwandte Berufe die Arbeitsteilung und eine hohe Spezialisierung aufwiesen, kamen nur wenige Städte in den Genuss, exportieren zu können. Der Export war daher auf wenige Städte begrenzt, so wurde noch im 15. Jahrhundert 80 % bis 90 % regional gehandelt.128 Im Verlauf des Mittelalters gründeten sich, besonders ab dem 12. bis 13. Jahrhundert als zeitlichen Höhepunkt, vermehrt Städte.129
Abbildung 11:
Stufen der mittelalterlichen Stadtgründung in Südwestdeutschland nach R. Siegel - Das 12. Bis 13. Jahrhundert als zeitlicher Höhepunkt der Städtegründung im Heiligen Römischen Reich
Ab dem 12. Jahrhundert bildeten sich die Städte als Herrschaftsträger heraus,130 dies bedeutet aber nicht, dass nun alle Städte frei und unabhängig waren. So besaßen im 15. Jahrhundert nur 2 % der Städte einen Landherrschaftsgleichen Grad.131
Abbildung 12: Städtische Selbstverwaltung am Beispiel der mittelalterlichen Stadt Wels
Das Stadtleben entwickelte sich, unter Landherrschaft oder nicht, dennoch anders. Ein zunehmendes genossenschaftliches Denken setzt im 12. bis 13. Jahrhundert ein. Dies führte im 13. Jahrhundert zu mehr Selbstverwaltung, auch rechtlich. Es entwickelte sich im Spätmittelalter die Willkür, das mittelalterliche Stadtrecht der städtischen Selbstverwaltung, was einen großen Gewinn für die Stadtbewohner darstellte.132 Seit dem 13. Jahrhundert und besonders seit dem Interregnum füllte das Volk das Machtvakuum in der Stadtherrschaft, aber auch auf dem Land durch eigene Kräfte aus. So gab es seit dem 13. Jahrhundert Ratsverfassungen in den Städten, aber auch Gemeinden bildeten sich auf dem Land. Diese nahmen öffentlich-rechtliche Aufgaben wahr und repräsentierten das Volk. Im 16. Jahrhundert bildete sich ein Ausschusswesen der Stände, welche unter anderem permanente Verwaltungsarbeit oder Aufgaben des Landtags übernahmen. So zeigte sich zwischen 1500-1629, dass es auf 56 Landtage 311 Ausschüsse gab.133 Aber nicht nur politische Aufgaben, sondern die Kaufleute wie auch das Gewerbe organisierten sich, sodass es bereits seit dem 9. Jahrhundert Gilden sowie Zünfte gab, in welchen sich die Händler und Arbeiter genossenschaftlich organisierten. Um Handel zu treiben, musste man einer Gilde angehören, und um ein zunftmäßiges Handwerk auszuüben, war die Mitgliedschaft bei einer Zunft verpflichtend. Es handelte sich also nicht um eine Möglichkeit, vielmehr waren diese Organisationen Zwangsverbände, welche unter anderem den Zugang zum Beruf, die Berufsausübung als auch Teile des privates sowie gesellschaftliches Leben regelten. Mit der Einteilung in Bürger und nicht Bürger, zünftiger und unzünftiger Beruf beziehungsweise bürgerlich und Unterschicht übernahm die Stadt das Denken des allgemeinen hierarchischen Systems. Dennoch war das nur eine theoretische Einteilung, denn Armut machte auch vor der zünftigen Bürgerschicht nicht Halt, so waren im Jahr 1417 in Köln 2/3 bis ¾ der Einwohner nicht in der Lage, eine vermögensgebundene Kopfsteuer zu zahlen. Im Jahr 1444 in Straßburg kann man die gleiche Situation erahnen, hier konnte sich 1/3 der Einwohner keine lebensnotwendigen Getreide- und Mehlvorräte leisten, welche bei akuter Kriegsgefahr notwendig wurden. Es ist daher festzuhalten, dass eine Einteilung in reiche Bürger und arme Stadtbewohner nichtzutreffend ist, vielmehr waren große Teile der städtischen Bevölkerung von Armut bedroht oder sogar betroffen. Bis in das 15. Jahrhundert war die Stadtbewohnerschaft nicht gleich der Stadtbürgerschaft.134 Zu Beginn des Spätmittelalters möchte der Autor satirisch die soziale Mobilität der tragenden Schicht von Arbeitern mit einem Gedicht darstellen. Der Aufstieg von Unfreien weckte Begehrlichkeiten bei den anderen Unfreien, auch den sozialen Aufstieg zu schaffen. Diese werden vom mittelalterlichen Epiker Wernher der Gärtner im Jahre 1250 in einem Gedicht über Helmbrecht, der auf keinen Fall so werden will wie der Vater, welcher auf dem Feld den ganzen Tag schuftet, festgehalten. Stattdessen will er als Ritter ein angenehmes Leben haben.135
„Trink, Vater, Wasser weiter,
für mich ist Wein gescheiter.
Auch Grütze magst du essen:
Ich will sie bald vergessen
Und mich am frisch gekochten Huhn
In aller Ruhe gütlich tun.
Auch will ich bis an meinem Tod
Nur essen feines Weizenbrot;
Denn Hafer ist für mich zu schlecht“ 136 Darauf antwortet der Vater: „Geh aufs Feld und nimm den Pflug, dann nützest du der Welt genug.“
Wernher der Gärtner hört nicht auf seinen Vater, zieht aus, gerät aber an Raubritter und wird selbst zu einem Raubritter, welcher plündernd durch das Land zieht. Schließlich wird Wernher mit der Bande Raubritter gefasst und gehängt. Der Bauer, welcher Ritter werden will und stattdessen zum Raubritter gehängt wird, führt den Leser die soziale Mobilität der Bauern in der Zeit um 1250 vor Augen.137 So wundert auch nicht, wenn der Franziskaner Berthold von Regensburg im 13. Jahrhundert den Hörigen predigte:
„Du musst sein, was Gott will.“138
Im 14. Jahrhundert schienen die Wachstumsmöglichkeiten erschöpft, da die natürlichen Grenzen das Bevölkerungswachstum eingrenzten und keine neue Technologien ein weiteres Wachstum ermöglichten. In den Jahren 1315 bis 1317 setzte dann auch eine Hungerkrise ein.139 Aufgrund des Landmangels bildeten sich auf dem Land zunehmend neue Gruppierungen wie Gärtner, „Häusler“ oder „Hausgenossen“ aus, welche Unfreie mit Haus mit oder ohne Land darstellten. Diese Personengruppen stellten in Sachsen im Jahr 1550 25,8 % der ländlichen Bevölkerung dar und sollten im 16. Jahrhundert als ein eigener Stand bestehen. Aufgrund von steigenden Getreidepreisen herrschten Spannungen zwischen den neuen Personengruppen und Bauern.140 Mit den neuen Lebenssituationen sowie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entstanden auch neue Berufe sowie Arbeitsformen, so kam das Verlagswesen hinzu. Verleger kauften Rohstoffe für eine dezentrale Produktion, indem in ländlicher Heimarbeit diese Rohstoffe beispielsweise zu Textilien gesponnen oder gewebt wurden. Die Landbevölkerung hatte vermehrt Zeit, da die bäuerlichen Wirtschaften im Erbfall geteilt wurden und daher der Familienbesitz zunehmend aufteilte, sodass jede nachkommende Generation weniger besaß sowie bestellt werden musste, wenn kein Land dazu kam. Mit der sinkenden Ackerfläche war auch der Bedarf an Nahrungsmitteln für die Selbstversorgung zunehmend nicht mehr gedeckt, sodass Nahrungsmittel eingekauft werden mussten. Hier kam es zur Wechselwirkung mit den Verlegern. Ein Teil der Landbevölkerung arbeitete im Nebengewerbe beispielsweise als Spinner oder Weber und lieferten in kontinuierlichen Zeiteinheiten Produkte an den Verleger in der Stadt ab, hier wurden die Produkte dann weiterverarbeitet und schließlich verkauft. Der Nebenerwerb, aber auch die Abgaben wurden ab dem 16. Jahrhundert vermehrt mit Geld beglichen. Der Aufstieg der Geldwirtschaft war dabei gepaart mit dem Aufstieg des Geldverleihs und des Bankenwesens. So entwickelte sich zunehmend ein Kapitalismus sowie das Exportgeschäft, welches mit dem Geldverkehr Hand in Hand ging und die Selbstversorgerwirtschaft ablöste. Die Heimarbeiter waren ganz neuen Belastungen ausgesetzt, entgegen dem abwechslungsreichen Landwirtschaftsbetrieb leisteten sie zunehmend monotone Arbeit, welche den Körper einseitig belastete. So verwundert auch nicht, dass der Ausruf: „Du spinnst,“ aus dem 16. Jahrhundert stammt und so viel bedeutet, wie einen eigenartigen Gedanken spinnen.141 142
Die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts war durch abnehmende Bodenerträge, Zersplitterung von landwirtschaftlichen Gütern und eine relative Überbevölkerung gekennzeichnet und führte regional zu krisenhaften Entwicklungen.143 In der Mitte des 14. Jahrhunderts ging die Pest durch die damals bekannte Welt, diese kostete rund 30 % der Weltbevölkerung das Leben, sodass nun statt der Überbevölkerung ein Mangel an Arbeitern herrschte.144 Die zweite Hälfte des 14. Jahrhundert war keine Zeit des Wohlstandes und der Stabilität, krisenhafte Entwicklungen im 14. Jahrhundert sind besonders im landwirtschaftlichen Bereich zu verzeichnen, so sanken die Agrarpreise mangels Nachfrage, Geldzinsen verloren durch Inflation an Wert, Siedlungen wurden aufgegeben und Bauern flohen in die Stadt und die reale Kaufkraft sank.145
Abbildung 13:
Landwirtschaftlicher Output von 1270 bis 1860
Dies traf einen Großteil der Bevölkerung; im Spätmittelalter ab Mitte des 14. Jahrhundert waren noch gut 80 % der Bevölkerung Landbewohner.146 Die Pest und ihre Folgen verursachten immense Unsicherheiten überall in Europa, so nahm der Output der Landwirtschaft auf die Fläche gerechnet massiv ab und brauchte sehr lange, um auf ein „Vor-Pest“ Niveau zurückzufinden. Die Zeit nach der Pest war eine Zeit vor der Pest, da die Pest innerhalb von 150 Jahren regional immer wieder aufflammte. Das Jahr 1450 war noch geprägt von historisch niedrigen Getreidepreisen. Von 1470-1618 stiegen die Brotgetreidepreise um 260 %, die Preise für tierische Produkte um 180 %, die Preise für Produkte des täglichen Bedarfs um 40 %, dagegen sanken aber die Löhne um 120 %. Dies führte zu einem Sinken der Kaufkraft für all jene, die nicht an landwirtschaftlichen Erzeugnissen verdienten. So lag die Kaufkraft einer Maurerfamilie im Jahr 1500 bei 150 % und im Jahr 1550 dagegen nur bei 85 %.
Abbildungen 14:
Preis und Lohnbewegung im mitteleuropäischen 16. Jahrhundert
Die sinkende Gewinnspanne war von einem Anstieg in der Produktivität begleitet, eine pauschale Verarmung des Handwerkers dieser Zeit kann nicht festgestellt werden. Die Gewinner waren die freien Bauern als auch die Grundherren, die unfreien Bauern konnten dagegen nicht profitieren. Insgesamt konnte man als Bauer aber nicht reich werden, da wetterbedingte Schwankungen zu Ernteausfällen führten, die grundherrlichen Abgaben eine Belastung waren, sowie mit der Dreifelderwirtschaft nicht der volle Boden bewirtschaftet werden konnte.147 In dieser Zeit gab es ein ökonomisches Gefälle im Reich, so war der Norden und Osten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation reich, da viele agrarisch bewirtschafteten Gebiete vorhanden waren und die Preise für Agrargüter bis 1618 stark stiegen, der Westen im Unterschied aber ärmer, da hier mehr Menschen im Handwerk tätig waren und die Nahrungsmittelpreise stärker stiegen als die Löhne.148 So veranschaulicht auch, dass schon im 15. Jahrhundert eine Handwerkerfamilie 60-70 % des väterlichen Lohns für Nahrung ausgab, der Kaufkraftverlust bis zum Jahr 1618 verschlimmerte die Lage vieler Handwerker und bei Ausfall der Arbeitskraft durch Krankheit oder Beeinträchtigung konnte dies schnell zu Armut führen, da häufig keine finanziellen Rücklagen vorhanden waren.149 Dennoch muss hier wiederum differenziert werden, der Osten und Norden waren nicht pauschal reicher als der Westen, so prosperierte besonders Oberdeutschland, insbesondere Augsburg, durch seine gewerbliche Industrie im 15. und 16. Jahrhundert.150 Das Kriegshandwerk war zunächst vom Adel als Ritter dominiert. Neben den sozialen Hemmnissen oder gar Hindernissen gab es auch ganz praktische Hürden, wenn ein Gemeiner Panzerreiter sein wollte. Die Ausbildung musste schon früh begonnen werden. So besagt ein karolingisches Sprichwort, dass derjenige, welcher bis zu seinem zwölften Lebensjahr die Schulbank gedrückt hatte und noch nicht bis dahin auf ein Pferd saß, nur noch dazu taugt, Priester zu werden. Neben der Ausbildung waren die Kosten der Ausrüstung für einen Gemeinen unerschwinglich, alleine ein gutes Kriegspferd kostete so viel wie der Wert einer vollen Bauernhufe mit Hof, Nutzvieh und Land für eine Großfamilie, sodass Ritter zu sein für Gemeine schon aus praktischen Gründen unerreichbar schien. Auch war das Rittertum ideologisch durch ein Wertesystem an den Adelsstand gekoppelt.151 152 Das Kriegshandwerk öffnete sich aber mit der Zeit auch für das gemeine Volk. Ab der langsamen Schaffung eines Kapitalmarktes seit dem 12. Jahrhundert und der Ablösung einer Naturalwirtschaft durch eine Geldwirtschaft war es auch möglich, sich als Söldner zu verdienen. Mit den Niederlagen von Ritterherren gegenüber den Fußtruppen gewann auch das einfache Volk als Söldner an Bedeutung. Besonders mit der Hungerskrise zu Beginn des 14. Jahrhunderts und sinkenden Agrarpreisen zur Mitte des 14. Jahrhunderts gab es gute Gründe, um dem Elend und der Not in der Heimat zu entfliehen, da der Sold gegenüber Söldnern gleichblieb. So wundert es nicht, dass sogenannte Kompanien (cumpane, lat.; Brotgemeinschaft) im sogenannten Hundertjährigen Krieg (1338-1453) zwischen England und Frankreich auf den Kriegsmarkt vorhanden waren und an den Kriegsakten teilnahmen. Durch das mobile Geld verlor das Söldnertum eine örtliche Bindung und die landsmannschaftliche Herkunft spielte keine Rolle. So erlangten auch später die zu dieser Zeit vom Reich unabhängigen eidgenössischen Kantone im 16. Jahrhundert 1/3 bis 2/3 ihrer Einnahmen durch das Stellen von Söldnern. Damit war das Söldnertum eine Möglichkeit, einen sozialen wie auch politischen Aufstieg zu schaffen. So gelang es schließlich Francesco Sforza, einem unehelichen Sohn eines Söldnerführers bäuerlicher Herkunft, zum Herzog von Mailand zu werden.153 Es nicht übertrieben, zu sagen, dass das Mittelalter von Not und Elend in der Lebenswelt der meisten Bürger geprägt war.154 Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass die Bauern in den Jahren 1524-1525 im Bauernkrieg zu den Waffen griffen. Aber auch die Renaissance ist keine vollkommen stabile Zeit, so vermehrten sich die Anzeichen von wirtschaftlicher Instabilität bereits Ende des 16. Jahrhunderts. Es genügten schon mehrere gute Ernten, um einen Preissturz von 1598-1600 beim Getreidepreis zu erreichen und damit eine Welle von Bankrotte, besonders im exportorientierten Norden und Osten unter großen Gutsbetrieben auszulösen. Dies führte keineswegs zu einem Sinken, sondern vielmehr weitverbreitet zu einem Anstieg des Schuldzinses. Daneben schwächelte der Handels- und Gewerbebetrieb besonders sichtbar an den Bankrott der Welser im Jahr 1614 und damit das Ende der Augsburger Vorherrschaft auf den Waren- und Finanzmärkten des Reiches.155