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2. VERSTÄNDNIS VON BEHINDERUNG

Unser Verständnis von Behinderung ist über die Zeit gewachsen, es ist dabei keine isolierte Geschichte der Medizin, des Rechts, der Philosophie oder der Religion, vielmehr zeigt die Begrifflichkeit der Behinderung unsere Gesellschaft, wie sie miteinander umgeht, sich voneinander abgrenzt und wie unsere Gesellschaft Normalität definiert. Es ist daher falsch, Behinderung nur aus einer Perspektive zu betrachten. Behinderung als Begriff mit einer technischen Definition, welche eine Wesenseigenschaft und Minderwertigkeit beschreibt, trifft nicht die sozialen Prozesse dahinter. Etikettierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung gehen mit der Abweichung von der Norm einher.

Howard S. Becker formulierte im Jahr 1973 den Prozess der Etikettierung wie folgt:

„Ich meine, dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln.

Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der

Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem

,Missetäter‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den

diese Bezeichnung erfolgreich angewendet worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.“1

Danach beschreibt Waldschmidt im Hinblick auf die Disability History, dass „Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern eine soziale Konstruktion […]. Ihr geht es darum zu zeigen, dass nicht beeinträchtigungsspezifische Aspekte für unser Verständnis von Behinderung entscheidend sind, sondern die gesellschaftlichen Deutungs-, Thematisierungs- und Regulierungsweisen.“2

Dagegen wird das „soziale Modell“ von verschiedenen Seiten, auch wenn nicht im Zusammenhang mit der Disability History, zunehmend kritisiert. So aus einer interaktionistischen beziehungsweise kritisch-realistischen Perspektive, der phänomenologischen Perspektive sowie beispielsweise aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive.3 Zusätzlich ist auch die Theorie der „Normalitätsdispositiven“ von Waldschmidt anzuführen.4

Die Gesellschaft, oder auch eine Minderheit beispielsweise aus Experten, erstellt Regeln, welche das Unnormale technisch definieren, diese technischen Definitionen wiederum wirken auf die Gesellschaft zurück, sodass bei einer historischen Geschichte über Behinderung beide Sichtweisen angemessen erzählt werden müssen. Eine wissenschaftliche Betrachtung rückt darüber hinaus nur an die Realität heran, kann diese aber niemals vollständig erfassen, da Geschichte nach Rüsen keine Meistererzählung ist. Das Fach Geschichte ist ein Spiegelbild unserer heterogenen Gesellschaft und besitzt eine Vielfalt an Perspektiven sowie daraus resultierenden Erzählungen.5

„Man sieht nur, was man weiß.“6

Die Beschränkung auf eine „medizinische“ oder eine „soziale Sichtweise“ erscheint daher nicht angemessen, da beides reziprok miteinander wirkt.

Behinderung ist einerseits eine spezifische Unfähigkeit, welche aufgrund von sozialen Prozessen zugeschrieben sowie erzeugt wird und anderseits auch eine Beeinträchtigung, welche aus medizinischer Sicht besteht und einer Rehabilitation legitimiert beziehungsweise aus dieser Sicht bedarf.

Zusätzlich ist zu sehen, dass Behinderung kein universelles, sondern ein zeitlich gebundenes Phänomen ist.7 Was richtig oder falsch, schön oder hässlich respektive normal oder unnormal ist, ist nicht pauschal zu beantworten. Dagegen muss Normalität im zeitlichen Verlauf immer wieder neu definiert und hinterfragt werden. Aus diesem Wandel entsteht eine neue gesellschaftliche Wechselwirkung, welche in verschiedenen Bereichen erfasst werden will. Durch den Wandel der gesellschaftlichen Wechselwirkungen verändern sich auch die Etikettierung, Stigmatisierung und die Aussonderung beziehungsweise der Umgang mit Menschen, welche nicht als Normal angesehen werden, sodass die Mehrheitsgesellschaft der „Normalen“ mit in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung rückt.8

Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620

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