Читать книгу Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620 - Robert Ralf Keintzel - Страница 9
Оглавление4. GESELLSCHAFTLICHE MACHTSTRUKTUREN
Die Gesellschaft des Mittelalters ist eine Gesellschaft mit fester Ordnung, jeder hat seinen Platz und seine Funktion, welche nach damaliger kirchlicher Botschaft durch Gott gewollt ist. Das Mittelalter kennt drei Stände: Adel, Klerus und Bauer. „Das Haus Gottes,“ eine Denkfigur aus dem 10. Jahrhundert hielt die Vorstellung dieser „gerechten“ Gesellschaft fest, die Kleriker sollten für das Wohlwollen Gottes beten, die Adeligen Schutz gewähren als auch kämpfen und die Bauern als Gegenleistung für göttlichen als auch weltlichen Schutz arbeiten.100
„Eine hierarchische (zweigeteilte) Ordnung in „Herren“ und „Knechte,“ „Mächtig“ und „Elende,“ Ober- und Unterschichte, eine Kluft zwischen Adel und Abhängigen oder politisch gesehen, zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Freien und Unfreien (als Geburtsständen) ist gleichwohl unverkennbar.“101
Zwischen diesen Ständen bestand aber kein wahlloses Verhältnis, sondern es war fest organisiert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse gingen Hand in Hand, mit der Vermischung der fränkischen und der römischen Kultur, sowie die Ablösung des fränkischen Heerbanns, Wehrpflicht für alle freien Männer im wehrpflichtigen Alter, durch ein Reiterherr, Krieger mit eigenen Landbesitz oder Lehen.102 Die Zeit des Lehenswesen begann, also die Grundlage der mittelalterlichen Staats- und Gesellschaftsordnung. Diese bestand aus den Trias homagium, dem Treueeid und dem Beneficium. Der Vasall erhielt vom Herrn die Nutznießung von Ländereien in Form eines Lehens (Beneficium) und erbrachte eine Gegenleistung in Form von beispielsweise Naturalien, Kriegs- oder Hofdiensten.103 Das Prinzip Lehen gegen Dienstleistung sowie Treueeid gab es bereits zur spätrömischen Zeit, nun wurde es aber vom germanischen Prinzip der beiderseitigen Gefolgschaftstreue (homagium) ergänzt. Die beiderseitige Gefolgschaftstreue bedeutet, dass der Vasall seinen Herrn Treue leistet und der Herr dafür den Vasallen schützt sowie seine Rechte garantiert. Das homagium entsteht aus einer persönlichen Beziehung und nicht aus einer Rechtsbeziehung.104 Das Lehenswesen war pyramidenförmig aufgebaut, an der Spitze stand der König, welcher an die Kronvasallen Lehen vergibt und diese damit zu Vasallen der Krone macht. Die Kronvasallen hatten wiederum Vasallen, sodass sich eine pyramidenförmige Struktur von Lehensvergabe als auch Lehensgefolgschaft bildete. Der König konnte durch das Königsgericht zwischen Herrn und Vasall vermitteln beziehungsweise Recht sprechen.105 Im Verlauf des Mittelalters bildete sich zunehmend zwischen Lehensgebern und Lehensnehmern eine komplexere Struktur aus, das heißt die Verbindungen im Machtgefüge untereinander wurden immer undurchsichtiger, da Vasallen mit der Zeit mehreren Herren verpflichtet sein konnten. Zunächst ist festzustellen, dass ein Vasall durch einen Adeligen oder den Klerus belehnt werden konnte. Landbesitz wurde im Grunde in erblichen Familienbesitz sowie nicht erblichen Lehnsbesitz unterschieden, dessen Grundlage der Treueschwur des Vasallen an seinen Herrn war. Diese gegenseitige Treue machte es aber in der Praxis zunehmend schwerer, den Erben des nicht erblichen Lehnbesitz das Lehen als sein Erbe zu verweigern, sodass sich in der Zeit der Karolinger im 9. Jahrhundert ein erblicher Lehnsbesitz etablierte. Auch sank die materielle Vasallenpflicht zunehmend und sie bestand bald größtenteils aus einer bestimmten Anzahl von Tagen Militärdienst. Daraus resultierten konkurrierende Verpflichtungen und ein sehr komplexes Machtgefüge.106
Abbildung 9:
Das Lehenswesen
Das Ergebnis der Vermischung von Kulturen
Jeder hatte seinen festen Platz
Neben der Komplexität des gesellschaftlichen Systems veränderte es sich auch im Verlauf des Mittelalters und der Renaissance, bis schließlich im 14. Jahrhundert eine Refeudalisierung begann und im Kapitalismus des 17. Jahrhunderts mündete.107 Die Refeudalisierung wurde mit den eindeutigen Niederlagen von Rittern gegen Fußtruppen in der „Sporenschlacht“ bei Courtray (1302), bei Banockburn (1313) und Crecy (1346), aber auch Prozesse wie die Entfeudalisierung der heutigen Schweiz und die Durchsetzung des eidgenössischen Gemeinwesens im 14. Jahrhundert eingeläutet.108 Die Machtverteilung scheint in der feudalen Gesellschaftsstruktur klar geklärt, entgegen der eigentlichen Grundvorstellung entwickelten der Adel und der Klerus aber zunehmend ein politisches Interesse, auch hinterfragte der arbeitende Stand mit der Zeit die hierarchische sowie funktionelle Einteilung der Gesellschaft, sodass der König als Zentralmacht mehreren Partikularkräften ausgesetzt war (Föderalismus).109 Nicht leichter machte es die Tatsache, dass das Mittelalter weitgehend eine mündliche Kultur besaß und Schriftlichkeit lange den Klerus überlassen wurde. Ein Grund dafür war auch, dass Lesen- und Schreibenlernen lange auch Lateinlernen sowie das Studieren lateinischer Texte hieß, praktisch also einer klerikalen Ausbildung nahe kam.110 Über das Mittelalter gibt es im Vergleich nicht viele Quellen und über den arbeitenden Stand noch weniger. Am Ende des Mittelalters begann Schriftlichkeit, an Bedeutung zu gewinnen und war nicht mehr weitestgehend auf den Klerus begrenzt. Erst im 14. Jahrhundert wurde schriftliche Verwaltung praktiziert und überhaupt im Jahr 1348 mit der Karls-Universität in Prag die erste Universität in Mitteleuropa eröffnet. Im 15. Jahrhundert lebten die Bauern immer noch schriftlos und in den Städten konnten immer noch nur 10 % bis 30 % der Bevölkerung lesen.111 Der Sachverhalt der Schriftlichkeit muss nicht nur bei der Quellenarbeit, sondern auch bei der kommunikativen Reichweite berücksichtigt werden, so besitzen Gruppen mit einer geringeren Schriftlichkeit eine geringere kommunikative Reichweite, sodass der Körper eine größere Bedeutung erfährt, wodurch aus einer Beeinträchtigung eine vermehrte soziale Sichtbarkeit resultiert. Daneben nehmen Personengruppen mit einer geringeren Schriftlichkeit Rechtstexte anders auf, hier besitzen Rechtstexte einen starken symbolischen Charakter, sodass unterschiedliche Formen von Rechtsnutzung entstehen respektive ein Wandel der rechtlichen Norm bei bestimmten Gruppen in Abhängigkeit von ihrer Schriftlichkeit differenziert stattfindet.112