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GESTOHLENER AUGENBLICK

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Tatsächlich ist Dylan überhaupt nie aus dem »netten alten Hibbing« fortgelaufen, außer im Geiste, und in dem lief er jahrelang weiter. Er sprach selten und schrieb nur spärlich über Hibbing. Er hatte Probleme, mit seinem Heranwachsen klarzukommen, und schwankte zwischen Nostalgie und Ekel. Hibbing war eine typische Kleinstadt in Minnesota, sein Inkubus und Prüfstein, Heimstatt von Provinzialismus, Isolation, Babbitterei[39] und rückständigem Konservatismus. Dylan konnte sagen: »Hibbing hat nichts mit dem zu tun, was ich bin, was ich geworden bin.« Aber manchmal wird offenbar, dass seine Flucht aus dem Philistertum der Kleinstadt ihn in einem Maße geprägt hat, zu dem er sich gewöhnlich nicht bekennen wollte.

»Du warst da, du hast es gesehen«, sagte er mir 1971. »Dieses riesige Loch im Boden, wo sie das ganze Erz ausgraben. Darauf sind sie da oben sogar noch stolz. Sie graben jetzt das ganze Land um. Ich war 1969 wegen einer Examensparty noch mal dort. Ich brauchte mir Hibbing gar nicht anzusehen. Ich werde es sowieso nie vergessen. Niemand muss mich daran erinnern, wie es war. Als ich 15 war, sagte ich mir: Jetzt behandeln sie mich hier wie einen Niemand, aber ich werde zurückkehren, und dann werden sie zu mir aufsehen. Ich sagte, eines Tages komme ich zurück und ihr werdet angelaufen kommen, nur damit ich euch die Hand schüttele.‹ Es ist wahr. Ich habe diesen Deal mit mir selbst gemacht. Und genauso ist es 1969 auch passiert. Ich saß da und habe eine Stunde lang Autogramme gegeben.«

Dieser faustische Pakt lieferte ihm das Motiv, die wilde Energie und den Willen. Sein »North Country Blues«, geschrieben 1963, ist ein lakonisches Folkepos über die Geschichte von Hibbing.

Seine Anmerkungen zur LP Joan Baez In Concert, Part 2 handeln von seiner frühen Einstellung zu Schönheit in Leben und Natur. Auf seiner dritten LP malt das zweite seiner »11 Outlined Epitaphs« (11 skizzierte Grabinschriften) ein düsteres Porträt seiner Heimatstadt aus, die sich selbst entwurzelt habe, indem sie unter sich nach noch mehr kostbarem Erz grub. Das habe ihn dazu gebracht, als Flüchtling fortzulaufen. Am Schluss dieses Epitaphs träumt er davon, Hibbing (und seine Familie und Kindheit) zu akzeptieren, ohne etwas zu erwarten, was sie ihm nicht geben konnten.

Eine eher abstrakte Wiedergabe seiner Jugend war sein autobiographisches »My Life In A Stolen Moment« (Mein Leben in einem gestohlenen Augenblick), geschrieben im Frühjahr 1963 als Programmnotiz für die traditionshungrige Folkmusikgemeinde, die nach Wurzeln, Quellen und Einflüssen verlangte. »Stolen Moment«, ein Widerhall von Woody-Guthrie-Kadenzen, war eine frühe und feinsinnige Prosa - rhythmisch, zynisch und enthüllend.

Dylan brauchte Jahre, um sich dazu zu bekennen. Am Ende entschloss er sich dazu, »Stolen Moment« in den Band Writings And Drawings aufzunehmen. Zuvor hatte er es oft verleugnet und behauptet, andere hätten ihn dazu gebracht, es zu schreiben, nur der Publicity wegen. Dylans Hinweise auf sein »Weglaufen« waren für die Familie ziemlich schmerzlich - und deshalb für die Veröffentlichung problematisch. Der enthüllendste Teil war vielleicht seine Weigerung, die Quelle seiner musikalischen und schriftstellerischen Kreativität zu untersuchen. »Ich habe mir nie die Zeit genommen, herauszufinden, warum ich mir die Zeit nahm, diese Dinge zu tun …«[40]

Wenn er sich die Zeit nicht nehmen wollte oder konnte, hatte ich doch das Gefühl, ich sollte versuchen, dem Rätsel auf den Grund zu gehen und mich wie dieser Reporter in Citizen Kane auf die Suche nach dem Schlüsselwort »Rosebud« machen. Vor meinen beiden Besuchen in Hibbing (1966 und 1968) hatte Dylan mir gesagt: »Ich bin nicht aus Neugier von zu Hause weggegangen, es war nicht wichtig, was woanders passierte. Ich wollte einfach nur weg … Ja, weg. Hibbing war ein Vakuum. Ich bin einfach in Bewegung geblieben, weil ich mich gelangweilt habe. Ich habe mich immer sehr gelangweilt, nur habe ich die Langeweile nie hingenommen … Ich kann drei Stunden lang auf meinem Bett liegen und die Decke anstarren, aber, weißt du, das ist nicht Langeweile … Sieh mal, ich komme ja nicht aus dem, was man eine gesellschaftlich angesehene Mittelschichtfamilie aus der Vorstadt‹ nennen könnte. Wo ich gewohnt habe, da gab es keine Vorstädte. Da gab es keinen armen Teil und keinen reichen. Keine falsche und keine richtige Seite … So weit ich weiß, hatte da niemand wirklich etwas, was alle anderen nicht auch hatten. Alle Leute, die ich kannte, hatten die gleichen Sachen … Ich habe viel darüber nachgedacht, aber Hibbing hat wirklich nichts mit dem zu tun, was ich heute bin, was ich geworden bin. Überhaupt nichts!«

Realität ist für ihn ein Prisma, keine einfache Fensterscheibe. Durch dieses Prisma hat er auf Hibbing und seine ihn prägenden Jahre zurückgeblickt, manchmal mit Zorn, oft mit Bedauern, manchmal aber auch mit Liebe und Wärme. »Meine Familie?«, wiederholte Dylan, während er sich seine Antwort überlegte. »Ich hatte nie wirklich viel Kontakt zu ihr …« Seine Familie hat da eine andere Erinnerung.

Bob Dylan - No Direction Home

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