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VI. Verwaltungsrechtsschutz zwischen Rechtsstaats- und Demokratieprinzip in gemeineuropäischer Perspektive
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Konstitutionalisierung, Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsrechtsschutzes haben europaweit einen Ausbau des Rechtsschutzniveaus gegenüber der Verwaltung durch unabhängige Gerichte befördert – vornehmlich unter dem Blickwinkel des Individualschutzes. Verlaufen die nationalen Anpassungsprozesse im europäischen Rechtsraum mit Blick auf die Anforderungen des Unionsrechts und der EMRK auch nicht immer spannungsfrei – und auch nicht immer nur in Richtung auf einen höheren Rechtsschutzstandard, als ihn das nationale (Verfassungs-)Recht bislang gewährleistet –, ist doch eine weitreichende Angleichung der Systeme des Verwaltungsrechtsschutzes unverkennbar.
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Damit haben sich die unterschiedlichen Konzepte des Verwaltungsrechtsschutzes ein Stück weit relativiert. Das betrifft insbesondere die Frage der primär subjektiv-rechtlichen, d.h. dem Individualrechtsschutz dienenden, oder auf eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle zielenden Ausrichtung des Verwaltungsrechtsschutzes. Dabei darf mit Blick auf Frankreich und die seinem Modell mehr oder weniger folgenden Verwaltungsrechtsordnungen wie etwa Polen nicht übersehen werden, dass Individualrechtsschutz und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle dort von vornherein nicht in einen Gegensatz gebracht, sondern als Einheit verstanden worden sind, indem der Einzelne – ohne dass es auf eine subjektive Betroffenheit ankäme, aber freilich gerade auch dann – die gerichtliche Überprüfung des Verwaltungshandelns auf seine Rechtmäßigkeit hin auslöst. Mag damit historisch – ungeachtet des grundsätzlich leichteren Zugangs zu den Gerichten – in der konkreten Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes ursprünglich ein niedrigeres Niveau an Individualschutz verbunden gewesen sein, so kann dies heute als weitgehend erledigt gelten.
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Deutschland erlebt mit seiner ausgeprägten Fixierung auf den Individualrechtsschutz im Hinblick auf die Modernisierung des Verwaltungsrechtsschutzes sowie seine Europäisierung und Internationalisierung hingegen Akzentverschiebungen in die entgegengesetzte Richtung.[268] Zwar hat der EuGH an der individualschutzzentrierten Grundausrichtung des deutschen Rechtsschutzsystems keinen Anstoß genommen;[269] dieses tut sich aber doch zunehmend schwer mit der Implementation unionsrechtlich und international induzierter Popular- und Verbandsklagen,[270] was zu mitunter grotesk wirkenden Konstruktionen führt.[271] Während der europäische und internationale Anpassungsdruck für andere Rechtsordnungen Triebfeder für den Ausbau des Individualrechtsschutzes war, ist er in Deutschland daher Anlass zu einer Perspektivenerweiterung und könnte auch Anstoß für einen weitergehenden Funktionswandel des Verwaltungsrechtsschutzes sein. Der Systementscheidung für den Individualrechtsschutz in Art. 19 Abs. 4 GG liegt die für das GG insgesamt prägende „liberale“ Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zugrunde,[272] d.h. die Vorstellung vom Bürger als gleichsam natürlichem Widerpart der Verwaltung, deren Eingriffe in seine Rechtssphäre er mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abzuwehren oder auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken sucht. Im Ausgangspunkt ist das für die grundgesetzliche Konzeption des Rechtsstaats sicher richtig und zeitlos gültig,[273] weil auch der demokratische Staat immer zum „Leviathan“ mutieren kann.[274] Die damit verbundene Rollenzuweisung an den Bürger, der sich, pointiert gesagt, um seine Privatinteressen kümmern, die Sorge um das Gemeinwohl jedoch der „Obrigkeit“ überlassen soll, nimmt sich im demokratischen Rechtsstaat aber unangemessen und überholt aus. Die grundsätzliche Bindung des Verwaltungsrechtsschutzes an die Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte verweist den Bürger letztlich auf die Rolle des „bourgeois“.[275] In dieser Interpretation besitzt die Garantie effektiven Rechtsschutzes als „Schlussstein des Rechtsstaats“ eine durchaus obrigkeitsstaatliche Konnotation. Das kann nicht das letzte Wort sein. So sehr die Fixierung des Verwaltungsrechtsschutzes auf den Individualrechtsschutz vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs der NS-Zeit aus dem Bemühen nach 1949 um die Perfektionierung des Rechtsstaats zu erklären sein mag,[276] so unangemessen ist doch deren Verabsolutierung.[277]
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In Frankreich hat sich in der Vorstellung, das gerichtliche Verfahren diene auch oder gar in erster Linie der Gewährleistung des Legalitätsprinzips, dagegen das Leitbild des „citoyen“ verwirklicht, wonach sich der einzelne Bürger durch die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes auch um das Gemeinwohl sorgen kann und darf. Öffnet man sich daher der in Frankreich,[278] aber auch in Belgien,[279] Großbritannien,[280] Polen,[281] Schweden[282] und Ungarn[283] oder auf Ebene der Europäischen Union[284] geläufigen Einsicht, dass (Verwaltungs-)Rechtsschutz notgedrungen immer auch eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung beinhaltet und dadurch der Implementation rechtlicher Maßstäbe dient, erleichtert das nicht nur, den Beitrag zu erkennen und einzuordnen, den eine Klägerin/ein Kläger für die Aufrechterhaltung und Durchsetzung des Gesetzmäßigkeitsprinzips leistet. Es erschließt auch eine demokratiespezifische Ventil- oder Kompensationsfunktion des (Verwaltungs-)Rechtsschutzes und seinen möglichen Beitrag zur Sicherung eines hinreichenden demokratischen Legitimationsniveaus[285] staatlicher Entscheidungen.[286]
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Eine Brücke zu einer objektiven Dimension des Rechtsschutzes findet sich im Übrigen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der seit 1993 auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG entfalteten Rechtsprechung zum „Anspruch“ bzw. „Recht auf Demokratie“,[287] die das Wahlrecht – und damit verbunden die Rügefähigkeit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde – inhaltlich um den Schutz vor einer dauerhaften Entleerung der politischen Mitbestimmungsmöglichkeit angereichert hat. Das relativiert ein Stück weit die aus dem Liberalismus und Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts überkommene kategorische Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, dem ausschließlich gemeinwohlbezogenen Staatsorganisationsrecht und den dem Individualschutz dienenden Grundrechten, und nimmt den Bürger erstmals[288] in seiner Rolle als „citoyen“ ernst.[289] In diesem Sinn erscheint auch die in Bayern bereits seit 1946/47 vorgesehene Popularklage (Art. 98 Satz 4 BayVerf., Art. 55 BayVfGHG), die es dem Bürger ermöglicht, auch an der Kontrolle der Politik ohne die Rüge einer subjektiven Rechtsverletzung mitzuwirken, weniger als landesspezifische Skurrilität, denn als eine demokratiespezifische verfassungsrechtliche Innovation, die ihrer Zeit weit voraus war.[290]
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Das hier aufscheinende Verständnis eines demokratisch radizierten status procuratoris vermag die objektiv-rechtliche Dimension des Verwaltungsrechtsschutzes angemessen zu erfassen und seine integrative Wirkung dogmatisch zu reflektieren und ermöglicht darüber hinaus einen bruchlosen Anschluss an unionsrechtliche Vorgaben.[291] Vor allem aber ermöglichte es den Brückenschlag zu der französisch radizierten Konzeption des Verwaltungsrechtsschutzes und trüge damit zur Herausbildung eines gemeineuropäischen Verwaltungsrechtsschutzes bei, in dem sich individualschützende und objektiv-rechtliche Funktionen gleichermaßen niedergeschlagen haben.[292]
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › Bibliographie