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1. Ältere Institutionen, geschichtlicher Zusammenhang ihrer Errichtung, ausländische und europäische Einflüsse

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Die verwaltungsgerichtliche Organisationsstruktur in Belgien geht auf das Gesetz vom 23. Dezember 1946[6] zurück, durch das der Staatsrat geschaffen wurde. Dieser nahm seine Tätigkeit am 23. August 1948 auf. Als oberstes Verwaltungsgericht ist er heute ein wichtiger Bestandteil des Rechtsschutzsystems des Bürgers gegen Verwaltungshandeln. Aufbau und organisatorische Einbettung dieser Institution sind freilich das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklung – von der Epoche der belgischen Provinzen des Mittelalters bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – wie auch zahlreicher äußerer Einflüsse.[7] Gleichwohl war der belgische Gesetzgeber bestrebt, jegliche „sklavische Übernahme“ fremder Modelle zu vermeiden, wie es der sogenannte Rolin-Bericht[8] formuliert hat.

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Historisch finden sich bereits weit vor der Gründung des belgischen Staates Beispiele für Urkunden, die auf dem Gebiet des heutigen Belgiens den jeweiligen Fürsten dazu verpflichteten, das Eigentum und die Rechte seiner Untertanen zu achten. Ferner wurden Räte an den Höfen der Fürsten gebildet, welche den nicht minder wichtigen Zweck verfolgten, die Fürsten bei der Gesetzgebung zu unterstützen.

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So hatte bereits im Jahr 1312 der durch die Charta von Kortenberg eingerichtete Rat von Brabant unter bestimmten Voraussetzungen die Aufgabe, die Handlungen des Herrschers zu kontrollieren.[9] In der Grafschaft Flandern wurde mit dem Ziel, eine ordentliche Verwaltung aufzubauen, von Philipp II. dem Kühnen am 15. Februar 1386 die Ratskammer in Lille geschaffen, ein Gericht, welches die Handlungen des Herzogs und der Beamten sowie die öffentlichen Ausgaben überprüfen sollte. Dadurch, dass die Mitglieder des Gerichts mit Gewährleistungen ausgestattet wurden, entstand der Eindruck, diese Einrichtung sei ins Leben gerufen worden, um ein Gemeininteresse zu schützen.[10]

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Im Fürstbistum Lüttich[11] entstand mit dem Rat der XXII eine der für die damalige Zeit bemerkenswertesten Verwaltungsgerichtsbarkeiten.[12] Im Kern ging es dabei um die Ahndung der Gewalttätigkeiten der weltlichen Beamten des Fürsten im Rahmen der Verwaltung des Fürstbistums. Nach mehreren vorangegangenen Versuchen führten verschiedene Umstände (unter anderem der Machtanspruch des Fürstbischofs Adolf von der Mark)[13] nach dem Frieden von Fexhe von 1316[14] (bis zum Ende des Ancien Régime die Grundlage der Verfassung Lüttichs)[15] zunächst zum Brief der XX und im Jahre 1343 schließlich zum Rat der XXII.[16]

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Bereits im Frieden von Fexhe wurde der Bischof verpflichtet, seine Beamten schwören zu lassen, die Gesetze, Freiheiten und Bräuche zu achten. Verletzten die Beamten diesen Eid, konnte der Fürst dafür verantwortlich gemacht werden. Dies ging so weit, dass das Domkapitel das Gerichtswesen aussetzen konnte oder sogar zum Aufstand gegen den Fürsten berechtigt war.[17] In der Praxis erwies sich diese Sanktionierung jedoch als undurchführbar und impraktikabel.[18] In der Folge ermöglichte die Existenz des Rats der XXII im Wesentlichen, Beamte für von ihnen begangene Schädigungen persönlich zur Verantwortung zu ziehen und „von allen Malefikanten, Richtern oder Beamten die in Ausübung ihres Amtes begangenen Übergriffe und gefällten falschen Urteile zu ahnden“[19].

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Der Rat der XXII trat in der Lütticher Lambertus-Kathedrale zusammen und besaß die Zuständigkeit, in bestimmten Fällen,[20] in denen Beamte ihr Amt missbraucht hatten, Recht zu sprechen. Er wurde am 25. Februar 1344 aufgelöst, jedoch bereits 1373 unter Johann von Arkel im Zuge des Friedens der XXII in derjenigen Form, die er auch in Zukunft beibehalten sollte, wiedereingesetzt. Von Johann von Bayern im Jahr 1408 erneut aufgelöst und später von Johann von Heinsberg wiedereingesetzt, fristete der Rat Jahrhunderte lang ein bescheidenes Dasein. Später konnte er sich vollständig bewähren, insbesondere während der Jahre nach der schweren Niederlage Lüttichs gegen das Heer Karls des Kühnen. Vier weitere Frieden der XXII bestimmten im späteren Verlauf die Zuständigkeiten des Gerichts näher. So war es auch zuständig für die Überwachung der Einhaltung der Friedensabkommen zwischen den Fürstbischöfen und deren Untertanen.[21]

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Der Rat der XXII von 1373 bestand aus 22 Richtern, die jährlich von den drei Landständen (Domkapitel,[22] Adelige [Bannerherren und Ritter] sowie freie Städte [Lüttich, Huy, Dinant, Sint-Truiden, Tongern, Fosses und Beulen]) gewählt wurden. Somit waren die Richter keine Vertreter des Fürstbischofs. Der Rat trat mindestens einmal im Monat zusammen und wurde bei seiner Tätigkeit von einem Gerichtskanzler, einem Gerichtsschreiber, mehreren Wachmännern, Übersetzern sowie einem Prokuristen für Steuerangelegenheiten unterstützt. Ab 1376[23] unterstand der Fürstbischof selbst nicht mehr der Jurisdiktion des Rats. Dieser hatte vielmehr die Aufgabe über Amtsmissbräuche, Eingriffe in das Eigentumsrecht und die persönliche Freiheit oder Rechtsverweigerungen zu entscheiden. Nach dem dritten Frieden der XXII sowie dem Frieden von Saint-Jacques von 1487 durfte der Fürstbischof „die Handlungen seiner Beamten nicht [mehr] in seine Verantwortung ziehen“, da er der Gerichtsbarkeit des Rats der XXII nicht unterworfen war. Wie Eugène Polain feststellte, „kannte das Lütticher Land [alles in allem] bereits ab dem 14. Jahrhundert den heute in Art. 88 der belgischen Verfassung verankerten Grundsatz: Die Person des Königs ist unverletzlich, seine Minister [hingegen] sind verantwortlich.“[24] Darüber hinaus konnte der Rat auf Antrag Stellungnahmen abgeben und Rechtsauslegungen vornehmen.[25]

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Allerdings war der Rat schnell mit einer großen Anzahl rechtsmissbräuchlicher Klagen konfrontiert.[26] Als Reaktion hierauf wurde durch den Frieden von Saint-Jacques von 1487 ein Berufungsverfahren vor einem Spruchkörper der Landstände geschaffen: die Revisionsstände der XXII. Dieses Gericht bestand aus 14 „Vertretern der Revisionsstände“, die von den verschiedenen politischen Körperschaften des Fürstbistums ernannt wurden.[27] Gegen das Urteil der Revisoren stand kein Rechtsmittel mehr offen.[28]

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Zu Beginn des 17. Jahrhunderts[29] – „auf dem Höhepunkt seiner Macht“[30] – verlor der Rat der XXII zugunsten des Fürsten nach und nach an Glanz und Unabhängigkeit. In der Endphase des Ancien Régime gelang es dem Gericht trotz ernsthafter Versuche nicht mehr, seine Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen. Im Juli 1794 wurde es schließlich aufgelöst.[31] Mirabeau soll dennoch bei einem Aufenthalt in Lüttich Folgendes geäußert haben: „Meine Herren Lütticher, was können Sie denn sonst noch begehren? Wir in Frankreich könnten uns glücklich schätzen, erhielten wir nur einen Teil des Freiheitsschutzes, über den Sie bereits seit Jahrhunderten verfügen.“[32]

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Neben diesen historischen Ereignissen prägten den belgischen Staatsrat in seiner heutigen Form vor allem auch die Institutionen Frankreichs unter Napoleon.[33] Belgien und das Lütticher Land wurden durch das Dekret vom 9. Vendémiaire des Jahres IV (1. Oktober 1795) Teil Frankreichs. In der Folge unterstanden sie, ebenso wie das übrige Gebiet Frankreichs, dem von Art. 52 der Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII (13. Dezember 1799) vorgesehenen und vom Erlass vom 4. Nivôse des Jahres VIII (25. Dezember 1799) eingesetzten kaiserlichen Staatsrat.[34] Damit folgte Napoleon einer alten Rechtstradition, wonach Rechtsstreitigkeiten, die die Verwaltung betreffen, den ordentlichen Gerichten entzogen sind und die Verwaltung damit, anders als der einzelne Bürger, nicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterliegt.[35]

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In diesem Staatsrat waren alle den Kaiser und dessen Politik unterstützenden politischen Strömungen vertreten. Er hatte vor allen Dingen die Aufgabe, die Gesetze[36] und Rechtsverordnungen der öffentlichen Verwaltung zu verfassen und war daher aktiv an der Ausarbeitung großer Gesetzbücher (Code civil und Code pénal) sowie der grundlegenden Gesetze dieser Zeit beteiligt.

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Durch Art. 11 des Erlasses vom 5. Nivôse des Jahres VIII (26. Dezember 1799)[37] wurde dem Staatsrat zusätzlich die Zuständigkeit für Entscheidungen über „Streitigkeiten zwischen der Verwaltung und den Gerichten […], über die bislang die Minister zu befinden hatten“, übertragen. Ursprünglich wurden Verwaltungsstreitigkeiten zunächst von einer Abteilung des Staatsrates geprüft und anschließend dem Plenum vorgelegt. Durch Dekret vom 11. Juni 1806[38] wurde dieses Verfahren geändert und ein Ausschuss für Verwaltungsstreitigkeiten mit der Vorprüfung betraut. Vorsitzender dieses Ausschusses war der Justizminister als Großrichter, ihm zur Seite standen sechs Entscheidungsvorbereitungsräte (maîtres des requêtes) und sechs Beisitzer (auditeurs). Zu den letztgenannten zählten vier Belgier: Charles Philippe Alexandre d’Arberg, Goswin de Stassart, Antoine Vischer de Celles und Dieudonné Duval de Beaulieu. Am Ende des Verfahrens musste jedoch nach wie vor der Kaiser die Vollstreckbarkeit der vom Staatsrat getroffenen Entscheidung verfügen.[39]

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Im Rahmen der ersten Restauration 1814 wurde der Staatsrat zu einem Gremium der königlichen Räte. Während der 100-Tage-Herrschaft Napoleons vom 20. März bis 28. Juni 1815 erlangte er seine alte Stellung kurzzeitig zurück, bevor das napoleonische Regime nach der militärischen Niederlage bei Waterloo endgültig unterging.

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Die Gebiete des heutigen Belgiens wurden im Zuge des Wiener Kongresses 1815 den Niederlanden angegliedert. Auch während der niederländischen Herrschaft wurde gem. Art. 71 bis 74 der Verfassung des Königreichs der Niederlande vom 24. August 1815 ein Staatsrat errichtet.[40] Hierbei handelte es sich jedoch hauptsächlich um ein Beratungsorgan, dessen Stellungnahme bei Gesetzesentwürfen, Gesetzesvorschlägen sowie bei allen vom Monarchen für bedeutsam erachteten Fragen eingeholt wurde.

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Nach der Belgischen Revolution von 1830 verzichtete die mit der Schaffung der Organisation des künftigen belgischen Staates beauftragte verfassungsgebende Versammlung auf die Einrichtung einer vergleichbaren Gerichtsbarkeit. Eine solche erschien „in den Augen der Belgier […] weniger wie ein Verwaltungsgericht als vielmehr wie ein Instrument königlicher Allmacht“.[41] Mit anderen Worten galt der Staatsrat als das Symbol autokratischer Bestrebungen des Herrschers. Durch Art. 4 des Erlasses vom 16. Oktober 1830 über die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und die Freiheit der Lehre wurde daher die Zuständigkeit des niederländischen Staatsrates für das Gebiet Belgiens aufgehoben.[42] Zwar ermöglichte Art. 145 Belg. Verf. (damals Art. 94) die Errichtung von „Streit“-Gerichten für Verfahren über politische Rechte und solche existierten zu der damaligen Zeit auch tatsächlich.[43] Diese waren jedoch hauptsächlich für örtliche Behörden oder in Bezug auf Bürgerwehren oder Kriegsopfer gebildet worden und wiesen nicht immer alle Merkmale einer echten Gerichtsbarkeit auf. In den Worten André Masts wollte „[d]er Verfassungsgeber […] den ordentlichen Gerichten eine herausragende Rolle für den Schutz des Bürgers gegen die Willkür der Verwaltung vorbehalten, ohne ihnen ein Rechtsprechungsmonopol zu geben“.[44] Diese ablehnende Haltung wurde verstärkt durch einen umfassenden Glauben an die Tugenden des durch die neue Verfassung vorgesehenen und unterstützten Parlamentarismus. In dieser Hinsicht bekräftigte der Generalverwalter für die öffentlichen Finanzen im Kongress bei der Vorlage des Haushaltsentwurfs für das Jahr 1831, dass wir „[d]ank der neuen Verfassung unseres Vaterlandes […] in Zukunft keinen Staatsjustiziar und keinen Staatsrat mehr benötigen [werden]. Solche Institutionen wären, selbst wenn sie keinerlei Tendenz entwickelten, die sie für die staatsbürgerlichen Grundfreiheiten gefährlich machten, in einem Land mit repräsentativer Volksvertretung stets unnötig“.[45] In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass bereits die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes über die Schaffung eines Staatsrates Debatten und Kontroversen herbeigeführt hätte.[46]

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Ungeachtet dessen zielte ein erster von Senator de Gorge Le Grand am 30. Mai 1832 eingebrachter Gesetzesvorschlag, insbesondere anlässlich der Novellierung des Bergbaugesetzes vom 21. April 1810 (einem Bereich, in dem der niederländische Staatsrat zuvor bedeutsame Befugnisse innehatte) sowie anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes vom 1. Juli 1832 über die Einrichtung eines provisorischen Rates für das Bergbauwesen, auf die Errichtung eines Staatsrates mit beratender Funktion.[47] Auf Seiten der Regierung beabsichtigte Innenminister Rogier durch königlichen Erlass einen Gesetzgebungsrat zur Vorbereitung von Gesetzestexten sowie für die Unterbreitung von Stellungnahmen und Vorschlägen zu schaffen. Auch ein Gesetzesentwurf des Staatsministers de Theux de Meylandt sah vor, einem neu zu gründenden Organ Zuständigkeiten für Verwaltungsstreitsachen zu übertragen; dieser Vorschlag wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Am 26. April 1834 mahnte Generalanwalt Barbanson allerdings vor dem Brüsseler Appellationshof: „Offensichtlich entspricht es dem Willen der Verfassung, die Rechte aller Bürger unter den Schutz rechtsprechender Gewalt zu stellen und Letztere zum Schlichter für Streitigkeiten zwischen dem Bürger und der Staatsgewalt zu berufen. Man kann nicht behaupten, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit, die errichtet wurde, um zu verhindern, dass einem Bürger auch nur ein Tag seiner Freiheit oder ein Pfennig seines Vermögens ohne ein vorheriges Gerichtsurteil genommen wird, das im Rahmen einer eine gerechte Verteidigung ermöglichenden und die Öffentlichkeit wahrenden Verhandlung gefällt wurde, machtlos sei, dem Missbrauch durch die öffentliche Gewalt und den sträflichsten Übergriffen der Regierung gegenüber dem Bürger Einhalt zu gebieten.“[48]

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Trotz dieser „Mahnung“ wurde der von du Val de Beaulieu übernommene und am 15. Februar 1834 erneut eingebrachte Gesetzesvorschlag[49] von de Gorge Le Grand im Senat am 5. Mai desselben Jahres[50] nach hitziger Debatte mit 15:10 Stimmen verabschiedet. Gegner des Gesetzesvorhabens fürchteten, die Errichtung eines Staatsrates käme der Ermächtigung einer „Vereinigung von zwölf Blutegeln [gleich], die Belgien in aller Ewigkeit sein Blut entzögen“.[51] Der Gesetzesvorschlag wurde von der Abgeordnetenkammer am 29. März 1844 allerdings mit der Begründung zurückgewiesen, es bestehe kein Bedarf an einer solchen Einrichtung.[52] Auch einem erneuten, dem ersten Gesetzesvorschlag ähnlichen Vorstoß von Innenminister Rogier erging es am 15. Dezember 1853 gleich. Schließlich wurde am 25. Februar 1855 beim Senat von Baron d’Anethan, Fürst de Ligne, Forgeur und Savart ein Gesetzesvorschlag zur Schaffung eines Beratungsausschusses für Gesetzgebung und Verwaltung eingebracht, dessen Schicksal allerdings mit der Auflösung des Parlaments besiegelt wurde.

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In Folge dieser fortwährenden Misserfolge setzte die Regierung bevorzugt Sonderausschüsse zur Beteiligung an der Erarbeitung von Gesetzestexten und Beratungsgremien ein, welche hauptsächlich mit speziellen, manchmal jedoch auch mit allgemeinen Fragen befasst wurden. Gleichzeitig forderte die Rechtslehre zunehmend die Errichtung eines Organs, das bei der Anfertigung von Gesetzestexten unterstützend tätig werden sollte.[53] Bezüglich der Verteilung von Rechtsstreitigkeiten, die der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte entzogen sind, standen sich zwei Meinungen gegenüber: Teilweise wurde gefordert, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zu schaffen,[54] teilweise die Zuständigkeiten der rechtsprechenden Gewalt auszudehnen.[55]

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Die Nachteile der damaligen Struktur der Organisation zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zeigen sich in dem besonders markanten Beispiel des Falles Appoline Meeus aus dem Jahre 1865.[56] Appoline Meeus war eine 21-jährige Bedienung in einem Wirtshaus in Lüttich. Gemäß einer auf der Grundlage von Art. 96 Gemeindegesetz vom 30. März 1836[57] erlassenen Gemeindeverordnung wurde sie von den Behörden in ein Verzeichnis von Freudenmädchen eingetragen, die, wie es in der wenig schmeichelnden Wortwahl der damaligen Gesetze hieß, „allgemein bekannt ein ausschweifendes Leben“ pflegen. Nach den Bestimmungen der von der Stadt Lüttich erlassenen Verordnung musste sich Appoline Meeus zweimal in der Woche einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Es gelang ihr, zu belegen, dass sie überhaupt nicht zu der von der Verordnung umfassten Kategorie von Personen gehörte, sodass ihr das Gericht Erster Instanz von Lüttich Recht gab. Diese Entscheidung wurde vom Kassationshof jedoch mit der Begründung aufgehoben, es habe sich um eine „Maßnahme zur Gefahrenabwehr“ gehandelt, die einer gerichtlichen Überprüfung entzogen sei. „Es oblag [dem Gericht Erster Instanz] weder die Notwendigkeit oder die Zweckmäßigkeit der aufgrund dieses Sachverhalts erfolgten Eintragung in das Verzeichnis zu würdigen noch die Rechtsfolgen einer von der zuständigen Behörde rechtmäßig erlassenen Verwaltungsmaßnahme zu unterbinden.“[58]

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Der Kassationshof bekräftigte seine Rechtsprechung mit Verweis auf den Grundsatz der Gewaltenteilung trotz eines Urteils der Strafkammer des Gerichts Erster Instanz von Huy, an das die Sache zurückverwiesen worden war, zugunsten von Appoline Meeus.[59] Damit endete die „traurige und aufschlussreiche Geschichte der Appoline Meeus“[60].

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Die Regierung bediente sich – wie bereits aufgezeigt – bei der Vorbereitung von Gesetzesnormen während des gesamten 19. Jahrhunderts unterschiedlicher Maßnahmen und der Unterstützung durch verschiedene Ausschüsse.[61] Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Einrichtung eines Gesetzgebungsausschusses, den Justizminister Henri Carton de Wiart durch königlichen Erlass vom 3. Dezember 1911 für sein Ministerium und für die allgemeine Anwendung und Fortentwicklung der Gesetze einsetzte.

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Die Überprüfung von Verwaltungshandeln durch die ordentlichen Gerichte erfolgte weiterhin nur ausgesprochen begrenzt. Diese geschah ausschließlich in denjenigen Fällen, in denen die Verwaltung wie eine privatrechtliche Person agierte,[62] was in der Folge als „Selbstverstümmelung der rechtsprechenden Gewalt“[63] bezeichnet wurde. Eine etwaige Verantwortung staatlicher Stellen gegenüber dem Einzelnen war 1902 nach wie vor eine unstatthafte Frage: „Die Behauptung, jedes persönliche Opfer des Einzelnen zugunsten aller Bürger bedürfe zwangsläufig und ausnahmslos einer Entschädigung durch die Allgemeinheit, führt gerade nicht zur Anerkennung eines behaupteten natürlichen Rechtes als vielmehr zu einer Verkennung der grundlegenden Voraussetzungen für die soziale Ordnung und den Bestand der Nationen.“[64]

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In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Belgien tiefgreifende Reformen eingeleitet. Vielfach wurde kritisiert, dass in der Zeit des gerade errungenen allgemeinen Wahlrechts eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte. Auch war die fehlende Verantwortlichkeit der Verwaltung für ihre hoheitlichen Handlungen nicht mehr haltbar.

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Im belgischen Zivilrecht war in dieser Hinsicht das La Flandria-Urteil vom 5. November 1920[65] ein entscheidender Meilenstein. In diesem wurde die Stadt Brügge dazu verurteilt, den Schaden auszugleichen, der durch einen auf kommunalem Grund umgestürzten Baum an den Pflanzen eines Gärtnereibetriebes entstanden war. Die konkreten Auswirkungen dieses Urteils blieben jedoch zunächst begrenzt. Es sollte nämlich noch bis 1963 dauern, bevor der Kassationshof erstmals feststellte, dass die Verwaltung durch den Erlass einer Verwaltungsmaßnahme eine rechtswidrige Handlung vorgenommen habe,[66] und erst 1980 entschied er, dass es den ordentlichen Gerichten obliege, die Verwaltung zur Wiedergutmachung eines durch ihr Fehlverhalten entstandenen Schadens durch Naturalrestitution zu verurteilen, sofern eine solche möglich ist und nicht auf der missbräuchlichen Ausübung eines Rechtes beruht.[67] Nichtsdestotrotz stellte bereits das La Flandria-Urteil den Anstoß für eine Haftung des Staates dar.

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Bezüglich des politischen Kontexts des La Flandria-Urteils ist anzumerken, dass die Regierung in dieser Zeit ein Änderungsvorhaben hinsichtlich der Art. 25, 105 und 106 Belg. Verf. (damals Art. 33, 157 und 158) verfolgte. Auf diese Weise wollte sie die Errichtung einer echten Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglichen, mit einem Staatsrat, der nach französischem Vorbild an der Ausarbeitung der Gesetze beteiligt gewesen wäre, zugleich aber auch Zuständigkeiten für Verwaltungsstreitsachen inne gehabt hätte. Die Debatte in den Ausschüssen der Abgeordnetenkammer[68] und des Senats[69] war lebhaft, wobei beide einer Verfassungsänderung, durch die die Einrichtung einer solchen Gerichtsbarkeit ohne weitere Maßnahme des Gesetzgebers ermöglicht worden wäre, sehr reserviert gegenüberstanden. Zumindest dem Anschein nach war ja durch das La Flandria-Urteil[70] das Problem der Entschädigungsansprüche insoweit bereits ausgeräumt worden, als der Kassationshof „den Gerichten die von diesen zuvor abgelehnte, vollständige Gerichtsbarkeit zurückgegeben hatte“[71]. 1921 wurde dieses Vorhaben der Errichtung eines Staatsrates mangels der hierfür notwendigen qualifizierten Mehrheit aufgegeben,[72] die Idee lebte allerdings in der Rechtslehre fort.

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Während der damaligen Krise der belgischen Verfassungsordnung[73] veröffentlichte Henri Velge, späterer Präsident des Staatsrates, 1930 das Werk „L’Institution d’un Conseil d’État en Belgique“.[74] Im selben Jahr legte Graf Carton de Wiart der Abgeordnetenkammer einen Gesetzesvorschlag zur Schaffung eines Verwaltungsgerichtshofs vor, der jedoch wegen der Auflösung des Parlaments hinfällig wurde. Am 26. Januar 1934 brachte Graf Carton de Wiart, unterstützt von König Albert, seinen Vorschlag ein weiteres Mal ein, scheiterte jedoch auch diesmal aus denselben Gründen.

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Dennoch ging die Debatte weiter, gerade auch in der Rechtslehre. In diesem Sinne trafen sich beispielsweise die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der vier belgischen Universitäten[75] auf Initiative der Universität Lüttich, um die Errichtung eines für Verwaltungsstreitsachen zuständigen Organs zu diskutieren und einen Vorschlag für ein Gesetzesvorhaben zum Aufbau eines Verwaltungsgerichtshofes zu erarbeiten.[76]

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1937 wurde die Bildung eines Staatsrates Teil des Programms der Regierung Van Zeeland. Zu diesem Zweck wurde ein außerparlamentarischer Ausschuss unter dem Vorsitz von Henri Rolin, Mitglied des Kassationshofes, eingesetzt. Am 24. März 1937 wurde beim Präsidium der Abgeordnetenkammer ein Gesetzesentwurf eingereicht und der dritte Vorstoß von Graf Carton de Wiart als Anhang beigefügt. Die Abgeordnetenkammer verabschiedete diesen Gesetzesentwurf am 12. April 1938, der Senat folgte am 5. Juli 1939, wobei dieser den Umfang der Befugnisse des Gerichtshofes ausdehnte, insbesondere bezüglich der Frage der Anfechtungsstreitigkeiten.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der abgeänderte Gesetzentwurf von der Abgeordnetenkammer am 20. Dezember 1945 und vom Senat am 11. Dezember 1946 angenommen und das Gesetz vom 23. Dezember 1946 über die Einrichtung eines Staatsrates verabschiedet.[77] Es trat gemäß Erlass des Regenten vom 21. August 1948 am 23. August 1948 in Kraft. Mehrere Durchführungsverordnungen wurden noch am selben Tag erlassen, so unter anderem der Erlass des Regenten über das Verfahren vor der Abteilung für Verwaltungssachen des Staatsrates (VVerwSSRE)[78].

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Das erste Gutachten der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates wurde am 21. September 1948 veröffentlicht, die ersten Entscheidungen der Abteilung für Verwaltungssachen (heute: Verwaltungsstreitsachenabteilung) ergingen am 8. November 1948.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung › 2. Wichtigste Entwicklungen und Krisen bzw. Konflikte

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