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Doppelbödige Schwermut in der Literatur

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Ohne Ankündigung, nur wenigen Vertrauten bekannt, kam ein Dichter 1989 aus Los Angeles nach Vilnius. Binnen Kurzem aber, noch unter sowjetischer Besetzung, hörten viele Zehntausend seinen Lesungen zu, zunächst in Parks, dann im Sportpalast oder im Opernhaus von Vilnius. Viele Ältere kamen mit versteckten und verknitterten Gedichtbänden aus der Zeit vor fünfundvierzig Jahren, bevor Bernardas Brazdzionis, den seine Landsleute jetzt wie einen Propheten begrüßten, fliehen musste. Die Fülle von Ausstellungen, Jazzkonzerten, Lesungen damals wie jetzt belegt einen kulturellen Hunger, eine Dichte, die nicht oft zu finden ist bei einer solch kleinen Bevölkerung von 3,3 Millionen – weniger als Rheinland-Pfalz oder El Salvador.

Die Geschichte der ersten Heimkehr von Brazdzionis zeigt mancherlei: In Vilnius verdichtet sich Kultur seit vielen Jahrhunderten. In den Jahren der Okkupation halfen Sprache und Literatur, nationalen Widerstand aufrechtzuerhalten. Und schließlich: Die Literatur Litauens ist zersplittert. Etwa die Hälfte aller bedeutenden Romane und Dichtungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstand im Exil, und ziemlich genau die Hälfte aller Schriftsteller floh 1944 vor den Russen nach Deutschland oder Amerika. Schon zuvor hatte Litauen Aderlasse des Geisteslebens durch Fluchtbewegungen – die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer etwa entstammt einer Familie aus der Grenzregion von Lettland und Litauen – und durch die Vernichtung der litauischen Juden durch Nationalsozialisten und ihre litauischen Gehilfen erdulden müssen. Wie reich die litauische Literatur aber war und ist, zeigen Adam Mickiewicz und Czesław Miłosz (dem sich die Internationale Buchmesse in Vilnius 2011 zuwandte in Gedenken an seine Geburt vor hundert Jahren): Die überragenden polnischsprachigen Dichter des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen sich beide als Litauer, und beide haben an der Universität Vilnius studiert.

Dennoch ist die litauische Literatur im Ausland wenig bekannt. Das wurde nur unwesentlich anders, nachdem Litauen 2002 als erstes „kleines“ Land Partner der Frankfurter Buchmesse war. Dabei kann die litauische Sprache auf eine lange Tradition verweisen. Die Universität Vilnius wurde 1579 gegründet. Schon sechzig Jahre zuvor, achtzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa, entstand in der Stadt eine Druckerei. Manches wird eher in der Ferne bewahrt: Eine gut vierhundert Jahre alte litauische Bibel wurde erstmals 2002 im Ursprungsland ausgestellt – das Original liegt im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin.

In den ersten Jahrhunderten wurden die meisten in Litauen erschienenen Bücher in einer slawischen Sprache oder auf Latein publiziert. Reich war das Litauische, obwohl es nie ein Nationalepos besaß, anfangs vor allem an Volksliedern und Märchen. Erst zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einhergehend mit der Wiedergeburt des litauischen Nationalismus, entstand eine breitere weltliche Dichtung. Fast zur gleichen Zeit befürchteten Sprachwissenschaftler einen Untergang des Litauischen wie des Altpreußischen. Einen Aufschwung erlebte die Literatur in den Jahren der Unabhängigkeit Litauens seit 1918, in denen in Vilnius zahlreiche literarische Magazine entstanden. Unterbrochen wurde das durch die sowjetische Besetzung 1940. Die bekanntesten Autoren lebten fortan in den Vereinigten Staaten und in vielen Ländern Europas, Tomas Venclova etwa, der in Yale russische Literatur lehrt, oder der Poet und Filmemacher Jonas Mekas. Manche kehrten nach 1991 zurück. Einer der bekanntesten Exildichter ist Antanas Skema. Zu den bedeutendsten jüngeren Autoren wird die 2007 verstorbene Novellistin Jurga Ivanauskaite gezählt – sie gehört zu den wenigen, deren Kurzgeschichten und Novellen in anderen europäischen Sprachen zugänglich sind. Die Helden Ivanauskaites sind junge Künstler, die nach einem Sinn im Leben suchen und die Gesellschaft umgestalten wollen. Einer der beliebtesten Autoren ist Ricardas Gavelis, der die sowjetische Mentalität und später die „neue Elite“ – auch wundersam zu „Freiheitskämpfern“ gewandelte Altkommunisten – verspottet.

Zu den Eigentümlichkeiten jener, die in Litauen blieben, zählen Schwermut in der Poesie und der Versuch, mit doppeldeutigen Formulierungen und Andeutungen die Zensur zu überlisten. Über die Geschichte des Widerstands gibt es in den Jahren der Freiheit in Litauen noch kein bedeutendes literarisches Werk, auch große historische Themen fehlen in der zeitgenössischen Romanliteratur. Die beste Einsicht in die polnisch-litauische Geistesgeschichte und Mentalität ist beim in Litauen geborenen polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zu finden, nicht bei litauischen Poeten. Viele wichen auf Kinderliteratur aus. In den letzten beiden Jahrzehnten erlebte die Literatur einen neuen Aufschwung, begünstigt durch die wiedererlangte Freiheit, das Wegfallen der Zensur, das Entstehen eines privaten Verlagswesens, den unbehinderten Austausch mit den Ideen des Westens und schließlich durch die Rückkehr vieler Exildichter.

Sichtbar wurde dieser Austausch in einer rasanten Zunahme an Übersetzungen ausländischer Literatur ins Litauische, vor allem aus dem Deutschen. Der alte Buchladen im Innenhof der Universität in Vilnius lässt staunen: nicht nur wegen seiner historischen Ausstattung und Bemalung, sondern auch wegen der Bücher auf den Verkaufsregalen. Meter über Meter vertraute deutsche Autoren, übersetzt ins Litauische. Kaum ein Werk der Klassik oder der klassischen Moderne scheint zu fehlen, aber auch Karl Mays „Sohn des Bärenjägers“, Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ und Erich Kästners „Fliegendes Klassenzimmer“ stehen dort. Kästner war wie Erich Maria Remarque oder Hermann Hesse schon vorher Bestseller. Nun kamen jüngere Autoren dazu. Vor einiger Zeit erschienen Übersetzungen von Robert Walser und Patrick Süskind, Bernhard Schlink und Michael Krüger. In der Nationalbibliothek gibt es einen Herder-Lesesaal mit deutschen Übersetzungen. Das Goethe-Institut in Vilnius und die Klassik Stiftung Weimar halfen bei einer Neuübersetzung und Aufführung des „Faust“. Selbst Eckermanns Gespräche mit Goethe sind auf Litauisch erschienen.

Dies starke Interesse in Litauen an deutscher Literatur, vielfach größer als in Estland, das kulturell und historisch Deutschland näher ist, beruht vielleicht auf der Grenznähe zum alten Ostpreußen, oder auch darauf, dass Litauen anders als Lettland schon früh einen Lehrstuhl für Übersetzer einrichtete. Die deutschsprachige Baltistik hat eine lange Tradition, und sie hat sich auf das Litauische konzentriert, weit stärker als auf das Lettische oder das ausgestorbene Altpreußische. Ihr Schwerpunkt liegt aber auf der Linguistik statt auf der Literaturwissenschaft. Es scheint in Litauen mehr Jahrbücher, wissenschaftliche Zeitschriften und Studienreihen zur Linguistik zu geben denn zur Politik oder Wirtschaft, und fast jede enthält einen deutschsprachigen Text oder zumindest eine übersetzte Kurzfassung. Verwunderlich ist daher das Fehlen eines großen aktuellen deutsch-litauischen Wörterbuchs. Dabei gab es schon vor mehr als 300 Jahren dazu Vorarbeiten: Ende der Neunziger erschien in Vilnius eine vierbändige Faksimileausgabe eines wohl 1680 entstandenen, 1945 in Ostpreußen entdeckten handschriftlichen deutsch-litauischen Wörterbuches, etwa 2 500 Seiten stark.

Umso ernüchternder ist, trotz leichter Zunahme, das geringe Interesse an litauischer Literatur in Deutschland. Der wohl bedeutendste literarische Verlag Litauens, Baltos Lankos, publizierte zweisprachige Gedichtbände von Aldona Gustas, die seit 1945 in Berlin lebt – „mit Taschen voller Wortkram / In litauischen und deutschen Lauten / denke ich was später / auf der Zunge schmilzt / im Ohr stirbt“ –, und von Sigitas Geda, einem der wichtigsten Vertreter moderner litauischer Lyrik. Bei Baltos Lankos erscheinen auch Venclova und Mekas. Viele schöne Briefe habe es nach der Frankfurter Buchmesse an den Sondergast gegeben – aber mehr auch nicht, so die Koordinatorin des Litauischen Buchverbandes. Ein Grund: Es gibt nicht nur wenige Übersetzungen, die litauische Literatur ist auch schmal. Der Vorsitzende des Litauischen Verlegerverbandes bemerkt selbstkritisch, ein Grund für das geringe Interesse sei schlicht, dass vieles in der litauischen Literatur nicht gut sei: Wie viele warte auch er auf gute Bücher.

Einen bemerkenswerten Austausch eines verborgenen Schatzes brachte die berührende deutsche Veröffentlichung des „Tagebuchs für Lyda“ des deutschen Komponisten Edwin Geist, das jahrzehntelang in Litauen versteckt aufbewahrt wurde. Als der wegen seiner Abstammung von den Nationalsozialisten mit Aufführungsverbot belegte Komponist 1938 nach Litauen emigrierte, verliebte er sich in die jüdische Pianistin Lyda. Weil er um seine Frau kämpfte, wurde er Ende 1942 von der Gestapo erschossen, Lyda beging Selbstmord. In Deutschland blieb Geist bis 2002 unbekannt – da inszenierte Vladimir Tarasov, Vater des litauischen Jazz, Geists Oper „Heimkehr des Dionysos“. Die Uraufführung in Vilnius kam sechzig Jahre nach seiner Ermordung.

Jene, die auf einen neuen Aufschwung der Buchkultur wie in den Dreißigerjahren oder auch wie beim rasanten Scheinaufschwung direkt nach der Befreiung von der Sowjetunion gehofft hatten, wurden enttäuscht. Noch immer sind Touristen, die in Vilnius Reiseführer und Bildbände erwerben, für litauische Verlage ein wichtigerer Markt als die geringen Bücherexporte. Die je nach Definition sechzig bis sechshundert Verlage konzentrieren sich auf den Heimatmarkt. Die schwankenden Angaben sind Beleg für die Umschwünge, die das litauische Verlagswesen erlebt hat. Sechshundert Verlage haben eine Verlagslizenz – jeder sechstausendste Litauer besitzt also einen eigenen Verlag. Aber nur gut vierhundert geben wenigstens ein Buch im Jahr heraus, und zwanzig Verlage vereinen vier Fünftel aller Buchtitel auf sich. Erfolgreiche Bücher erreichten vor 1990 eine Auflage bis zu hunderttausend Exemplaren; jetzt gilt ein Buch schon als Bestseller, wenn es in kurzer Zeit sechstausendmal verkauft wird. Buchverkäufe sanken im Vergleich zum Vorjahr 2008 um gut zehn Prozent, 2009 gar um 25 Prozent. Verlage kämpfen um ihr Überleben, zumal eine klare staatliche Verlagspolitik fehlt und Staatsgelder für Bibliotheksetats gekappt wurden – zwischen 2008 und 2010 sanken diese auf ein Zehntel. 1991 erschien noch eine Gesamtauflage von 25 Millionen Büchern bei 3,5 Millionen Litauern, zehn Jahre später waren es noch zehn Millionen. Immerhin liegt die Zahl neuer Titel gemessen an der Bevölkerung noch immer deutlich über jener anderer Reformländer des Ostens wie Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik.

Drei baltische Wege

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