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Kern, Schnittstelle, Brücke

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Die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen sind historisch und kulturell ein uralter Teil Kerneuropas und waren doch lange abgeschnürt. Wie kaum ein anderes Gebiet Mitteleuropas liegt das Baltikum an der Schnittstelle zwischen West und Ost, diente als Brücke für Handel und Kultur, wurde aber auch zwischen den Großmächten zerrieben. Dennoch bewahrte es ­seine innere Eigenständigkeit, der die äußere Unabhängigkeit in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts spät und kurz folgte. Nach fünf Jahrzehnten der Besetzung – kurz durch das Deutsche Reich, länger durch die Sowjetunion – sind Lettland, Litauen und Estland seit 1991 wieder frei und unabhängig.

Wer heute erstmals nach Tallinn (Reval), Riga oder Vilnius (Wilna) kommt, wird es kaum glauben können: Vor zwei Jahrzehnten standen dort russische Panzer – Estland, Lettland und ­Litauen waren Sowjetrepubliken. Heute steht ein Designer-Laden mit den bekannten westlichen Modemarken neben dem anderen. Im Jahr 2011 war Tallinn Kulturhauptstadt Europas, zwei Jahre zuvor führte Vilnius diesen Titel. Die drei Länder erzielten in den ersten fünf Jahren nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union und zur Nato 2004 mit jeweils zwischen neun und zehn Prozent das ­höchste Wirtschaftswachstum innerhalb der EU und beklagten sich über bürokratische Regelungen aus Brüssel, die den freien Markt behindern. Ihre einfachen Steuerregeln fanden Anhänger und Neider in Westeuropa. Alle drei Länder begannen als Agrarstaaten. Sie wurden rasch Dienstleistungsgesellschaften – Estland für die Informationstechnologie, Lettland und Litauen für ­Energie und Transport. In kaum einem anderen Land der EU spielen Computer, Internet und Mobilfunk eine solch herausragende Rolle wie in Estland. Als erstes Land der Welt konnten die Bürger dort vom heimischen Computer aus über das Internet wählen statt in der Wahlkabine. Dann kam die Krise, ebenso wie zuvor der Aufschwung, stärker als anderswo. Die Esten waren die Ersten in der Region, die sie überwanden – beschleunigt durch den Anstoß, den die Euro-Einführung zum Jahresbeginn 2011 ihnen gab.

Wirtschaftlich haben sich die drei Nachbarn der Marktwirtschaft zugewandt, auch wenn es Rückschläge gibt und viele Veränderungen nur schleppend vorankommen. Dies gilt für die Privatisierung, die ausufernde Korruption oder den Versuch, eine überalterte und träge Bürokratie und Justiz auszuwechseln mit neuem Denken, neuen Regeln und neuen Menschen. Überall sind junge Gesichter zu sehen, Menschen, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion studierten. Minister, Abteilungsleiter, Generaldirektoren, Marinebefehlshaber: Viele sind um die dreißig Jahre alt, kaum jemand ist über 40. Sie sehen sich als „Generation der Gewinner“. Anpassungsfähigkeit, rasches Handeln und hartes Arbeiten sind gefragt. So ist es kein Wunder, dass Estland zum Modell wurde (und gerne damit kokettiert), das in der Welt des Webs ideenreicher und weiter ist als die meisten „alten“ Länder der EU. Für die Boutiquen haben vorerst nur Besucher aus Russland Zeit. Diese aber geben dann so viel Geld aus, dass sich auch diese, meist leeren Luxusläden lohnen. Zumindest zum Feiern kommen junge Litauer, Letten und Esten selbst während der Woche. Restaurants und Diskos sind auch noch am frühen Morgen voll mit übermütigen „Jungen“.

Dieser Umbruch, den wohl nur wenige Gesellschaften so nachhaltig, gründlich und behände bewältigten, hat seinen Preis – wirtschaftlich, sozial und politisch. Viele fühlen sich ausgegrenzt. Sie wurden in den neuen Staaten des aufgeblähten Wirtschaftswunders leicht vergessen, auch von der neuen Elite, weil sie nicht ständig zu sehen sind. Alte Menschen, Landbewohner, die russischsprachigen Minderheiten werden vor allem in Estland und Lettland politisch und wirtschaftlich benachteiligt. Viele kommen nicht zurecht mit dem Wandel, der mit den Stichworten Marktwirtschaft, Nato und EU sowie Jugendkult nur äußerlich umschrieben wird. Alkoholismus und Rauschgiftsucht stiegen rapide – Litauen meldete die höchste Selbstmordrate Europas, Estland die höchste Aidsrate der EU. Dazu kamen Auswüchse wie Kinderprostitution oder der Beginn mafiaähnlicher Strukturen, die sich auf benachbarte Regionen wie Nordeuropa auswirkten.

Der verstorbene estnische Präsident Lennart Meri, „die große Gestalt des Baltikums“, warnte, dass man sich nach dem Erreichen der großen politischen Ziele jenen zuwenden müsse, die sich vom wirtschaftlichen und politischen Wandel überrollt fühlten – in einer Gesellschaft, in der nicht alle in ihrem Denken und ihren Werten den kurzen Weg von einer Diktatur zu einem freien Staat mitgingen. Es gibt weitere Probleme. Dazu zählt die fehlende parteipolitische Stabilität. Während die drei Staatspräsidenten mehr oder minder anerkannt sind, wechseln die Regierungen häufig. In Lettland und im letzten Jahrzehnt in Litauen siegte bei fast jeder Wahl eine Partei, die erst kurz vorher gegründet worden war. Neunzehn Regierungen in Lettland in den neunzehn Jahren zwischen 1993 und 2012: Selbst das elektronische Lexikon Wikipedia kommt da bisweilen nicht nach und nannte in einem Beitrag gleich drei unterschiedliche Namen als aktuellen Regierungschef. Meist blieb die politische Grundrichtung gleich, bürgerlich-rechts mit liberalen und sozialdemokratischen Sprengseln und bisweilen garniert mit national-rechtskonservativen Tönen. Es gab in Litauen und Estland Ausnahmen bei Präsidenten oder Ministerpräsidenten mit Wurzeln in der Vergangenheit, altersmäßig wie auch ideologisch. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Loslösung von Moskau und der Erneuerung und galten als Garanten, dass ihre Politik sozialverträglicher ist als bisweilen die der „Jungen“. Bei jenen führte die politische Dynamik dazu, dass Regierende mit geringer Erfahrung an die Macht kamen, denen Sachkunde oder Sensibilität fehlten. Das galt und gilt vor allem für Lettland – nicht nur geografisch der mittlere und mittelgroße der drei baltischen Staaten, sondern auch in Kultur, Sprache und Religion Bindeglied zwischen Estland und Litauen und damit „des Baltikums“. Zudem ist Riga, einst eine der großen Städte der Ostsee-Geschichte, die einzige echte Metropole der Region.

Auch wenn es im Politischen immer wieder kriselt: Wirtschaftlich boomten zunächst die drei Nachbarn, die nach Landfläche zusammen halb so groß sind wie Deutschland, mit zusammen 6,9 Millionen Menschen aber noch nicht einmal ein Zehntel von dessen Bevölkerung besitzen. Begünstigt wurde der Aufschwung durch ein hohes Ausbildungsniveau, eine solide Infrastruktur, stabile Währungen, einen hohen Anteil der Privatindustrie, niedrige Kosten. Die nordischen Staaten übernahmen die Rolle des Marktführers bei Investitionen und teils beim Handel: Dänemark in Litauen (Lietuava), Finnland in Estland (Eesti), Schweden in Lettland (Latvija). Bis zum Einbruch des Außenhandels 2009 war für Lettland Deutschland Handelspartner Nummer eins, es wurde mittlerweile aber überholt von Litauen und Russland. Dazu kam eine hohe Arbeitslosigkeit, die immer mehr Jugendliche und Tatkräftige in das Ausland trieb, und eine hohe Verschuldung von Privatpersonen. Die globale Finanzkrise traf die baltischen Länder stärker als andere – der Abschwung wurde ebenso rasant in Zahlen wie in seinen Auswirkungen wie zuvor das Wachstum.

In allem Auf und Ab pflegen und ehren die Balten ihr historisches Erbe und die Bindungen zu Deutschland. Nicht ohne Grund gilt Riga als Jugendstil-Hauptstadt Europas. In Tallinn, die Innenstadt ist wie Vilnius und Riga ein Weltkulturerbe, stößt der Besucher auf mehr hansische spitzgiebelige Backsteinarchitektur als in fast jeder norddeutschen Stadt außer vielleicht in Lübeck. Als erstes Land Mitteleuropas rief Estland Deutschbalten auf, in ihre alte Heimat zurückzukehren, sie seien hochwillkommen. Der frühere litauische Präsident Valdas Adamkus verhinderte 2008 den Vorschlag von Abgeordneten, von Deutschland eine Entschädigung für Kriegszerstörungen zu verlangen – gegenüber Russland aber bleibt ­diese Forderung, weil Moskau sich nicht zu seiner ­Vergangenheit bekenne. Nicht wenige der Deutschbalten, die im Mittelalter nach Livland oder Kurland einwanderten, kamen aus der norddeutschen Tiefebene. Mal gehörte der nördliche Teil des Baltikums zum schwedischen Königreich, dann wurde es ein halbautonomer Teil des russischen Zarenreichs. Über viele Jahrhunderte wechselnder Herrschaft hinweg aber war die weitaus engste Bindung die zu Norddeutschland. Die Umgangssprache der Kaufleute, Handwerker, Juristen war deutsch. Seit 1693 galt in Reval das lübische Stadtrecht – erst 1877 wurde es durch die russische Gemeindeordnung abgelöst.

Besonders in Deutschland spricht man gerne verallgemeinernd vom Baltikum. Deren drei Länder unterscheiden sich aber in Sprache, Konfession und Selbstverständnis grundlegend voneinander. Zur baltischen Sprachgruppe zählen Lettisch und Litauisch. Litauisch ist die ursprünglichste überlebende indogermanische Sprache. Estnisch dagegen ist eine finno-ugrische Sprache und dem Finnischen nahe. Estland und Lettland sind, soweit Religion die sowjetischen Jahrzehnte überlebte, evangelisch-lutherisch und ihre starken russischen Minderheiten russisch-orthodox, die Mehrheit aber Atheisten. Litauer dagegen sind fast durchgehend katholisch. Tallinn und Riga sind architektonisch von den Hansejahren und der Backsteingotik geprägt, Vilnius ist barock und auch kulturell aus Polen beeinflusst. Estland fühlt sich Finnland und dem Norden zugewandt; bisweilen debattieren Esten darüber, ob sie baltisch oder nordisch sind, wem ihre erste Loyalität gelte. Litauen dagegen interessiert sich bisweilen mehr für Polen und seine südlichen Nachbarn als für Lettland und Estland. So ist Vilnius neben Polen Basis und Nährgrund für die friedliche Opposition in Weißrussland und den Kaukasus-Staaten. Allen drei eigen ist trotz Jahrhunderten der Fremdherrschaft ein ungewöhnliches und über Generationen hinweg bewahrtes und weiter getragenes Gefühl der Selbständigkeit, der Selbstbehauptung. Wer auch immer versuchte, es zu zerreiben und zu zerstören – alle drei sind wiederauferstanden. Trotz aller gemeinsamen Wurzeln, der politisch motivierten regionalen Zusammenarbeit und des der Region vorgegebenen Außenbildes kann man leicht provozierend, aber nicht falsch sagen: „Das Baltikum“ gibt es gar nicht.

In ihrer geostrategischen Rolle aber sind sich die drei baltischen Staaten nahe. Das ist ein Grund, weshalb Moskau, Washington, Stockholm und Berlin so viel Aufmerksamkeit drei Ländern mit zusammen noch nicht einmal sieben Millionen Bewohnern zuwenden. Russland ist sicherheitspolitisch besorgt, die Nato so nahe an seiner Grenze zu wissen, nur wenige Dutzend Kilometer entfernt von seiner zweitgrößten Stadt Sankt Petersburg. Dazu kommt eine emotionale Belastung: Dies sind die ersten ehemaligen Sowjetrepubliken, die Teil der Nato wurden. Noch unlängst war Jurmala bei Riga für die sowjetische Elite als Sommerfrische ein bevorzugter Badeort, jetzt kommen wieder Russen der Oberschicht – gar nicht weit entfernt stehen aber Kampfflugzeuge der Nato.

Balten empfinden die Nato, stärker noch als die EU, als Schutzschild, das verhindert, dass ihnen das Gleiche geschieht wie 1939. Damals einigten sich Moskau und Berlin im August in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Ribbentrop-Molotow-Pakt (bekannt als Hitler-Stalin-Pakt) über eine Interessenaufteilung des Baltikums, Polens und Finnlands und gaben damit deren Unabhängigkeit preis. Hitler ließ sich das Memelland und den Westen Polens zusichern, Stalin Ostpolen, Finnland und die baltischen Länder. Das ist weiterhin ein nationales Trauma. In den Jahren des Widerstands und Exils wie auch in den Neunzigern stellte sich Washington kraftvoller hinter das baltische Unabhängigkeitsstreben und den Nato-Beitritt als zögerliche Regierungen in London, Berlin und Paris, die auf Moskau Rücksicht nehmen zu müssen glaubten. Daher fühlen sich die baltischen Länder sicherheitspolitisch bisweilen Washington näher verbunden als ihren westeuropäischen Verbündeten – ähnlich wie andere Staaten Mitteleuropas wie Ungarn, Polen und die Tschechische Republik.

Welche Bedeutung die baltischen Länder für den Westen und auch für die Vereinigten Staaten haben, erläuterte der damalige Präsident George Bush im Mai 2005 zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes in Riga: Er sehe Lettland, Litauen und Estland als „unglaublich wichtige Symbole“ dafür, was Freiheit in Europa bedeute und in der Welt. Sie hätten einen der dramatischsten Umbrüche der neueren Geschichte erlebt – und mitgestaltet – und seien in gut einem Jahrzehnt von gefangenen zu freien Nationen geworden. Dabei gab er sich selbstkritisch im Blick auf die damalige Politik Washingtons und Londons: Im Abkommen mit Stalin in Jalta habe das Streben nach Stabilität die Freiheit verdrängt. Wenn große Mächte verhandelten, litten oft kleine Länder. Die „Gefangennahme“ von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa bleibe einer der großen Fehler der Geschichte. Symbolträchtig war der Ort dieser Rede von Bush: im Saal der Gilde, der an die wechselvolle Verbindung Rigas mit der Hanse und mit Deutschland erinnerte. An der Wand waren Bilder von Lübeck und Bremen sowie in gotischer Schrift deutsche Weisheiten wie der Spruch „Wer seines Feindes gutes thut / Der zeigt von größter Edelmuth“.

Nicht diese alte Weisheit prägt die Haltung der baltischen Länder zu Moskau, sondern die Erfahrung der vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst kamen die Russen (davor siedelten unter Druck die meisten Deutschbalten nach Westen um); dann 1941 die Deutschen – Jahre, in denen die meisten Juden in Litauen und Lettland vernichtet wurden, dabei gab es Mithilfe der örtlichen Bevölkerung; und 1944 wieder die Russen. Da flohen jeweils um die 70 000, 80 000 Menschen aus Lettland, Estland, Litauen nach Westen. Andere gingen als Partisanen in die Wälder. In den Vierzigern und Fünfzigern wurde ein Großteil der lettischen und estnischen Elite nach Sibirien verschleppt und ermordet. Ihre Aufgaben übernahmen im Rahmen einer erzwungenen Russifizierung russische Soldaten und Beamte, die großteils nach 1991 blieben. Das freie Wort wurde ausgelöscht, Sprachen und Kultur wurden verdrängt. So erfuhren sie das Kriegsende, den 8. und 9. Mai, nicht nur als Tag der Befreiung, sondern auch als Tag einer neuen, diesmal noch längeren Diktatur. Der nicht nur historische Streit darum, ob dies nun Jahre der Besetzung waren – wie die Balten und die Westeuropäer empfinden, die Russen aber bestreiten –, verhindert einen gelassenen Umgang mit ihrem großen östlichen Nachbarn. Daraus wiederum erwuchs Streit auf vielen Ebenen – etwa um die Grenzen Estlands und Lettlands zu Russland, zeitweise die letzten Außengrenzen der EU, die nicht völkerrechtlich festgelegt waren. Moskau behauptet immer wieder, dass einem Teil der in Lettland und Estland lebenden Russen – sie stellen jeweils etwa ein Drittel der Bevölkerung – der Pass, das Wahlrecht, eine muttersprachliche Schulausbildung verwehrt werde. Riga und Tallinn halten dem entgegen, dass sie der Minderheit, die ihnen aufgezwungen wurde, weit entgegenkamen. Die baltische Position wird gestützt durch die EU, den Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie bestätigten, dass Lettland und Estland nicht nur alle völkerrechtlichen Verpflichtungen einhalten, sondern darüber hinausgehen.

Da Moskau nicht nur den Beitritt zur EU und Nato nicht verhindern konnte, sondern auch bei Versuchen innen- und kulturpolitischer miesmachender Einflussnahme scheiterte, wich es auf eine andere Vorgehensweise aus, die zugleich Westeuropa trifft: die Energie. Hier geht es um Warnungen der Gazprom, Teile der Gaslieferungen in die Ukraine, nach Weißrussland oder auch nach Westeuropa abzuschnüren, sowie um die Erdgaspipeline durch die Ostsee, die russisches Erdgas nach Deutschland bringen wird. Die baltischen Staaten fühlten sich bei den Vertragsverhandlungen und der Verlegung der Pipeline ausgegrenzt und hintergangen, auch von Deutschland. Erstere zielten vergeblich darauf, dass aus Gründen der Umwelt, der Kosten, der Sicherheitspolitik, die Leitung über ihr Gebiet geführt werde statt unter Wasser; oder zumindest, dass eine Stichleitung in die baltischen Länder auch sie mit Erdgas hätte versorgen können. Das ist nun Geschichte.

Neben dieser Erdgas-Pipeline-Strategie gibt es weitere Einflussversuche Moskaus, die sich auf die Lage in Riga und Vilnius ungut auswirken. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen der baltischen Länder zählt seit jeher die Energie. In Litauen stand nicht nur das größte Kernkraftwerk Europas, das wegen Sicherheitsbedenken unter EU-Druck abgeschaltet wurde, sondern auch die größte Erdölraffinerie der Region. Sie hing ab von Öl und Erdgas aus Russland. Die Häfen in Lettland, Estland und Litauen spielten für den russischen Erdgas- und Erdölexport in den Westen eine zentrale Rolle und brachten Deviseneinkünfte. Der einzigen Raffinerie aber schnürte Russland die Versorgung ab. Die Häfen wurden geschwächt, indem Russland die Verladung seines Erdgases auf russische Häfen am Ende der Ostsee verlagerte, obwohl das kostenträchtiger und umweltpolitisch weit gefährlicher ist angesichts der Vereisung der Ostsee in langen Wintern und des kreuzenden Fährverkehrs zwischen Tallinn und Helsinki. Das lettische Ventspils, früher Windau, und das litauische Klaipeda, früher Memel, wurden abgeschnürt.

Moskau beließ es nicht bei dieser erpresserischen Erdgas- und Hafendiplomatie. Es nutzte und nutzt auch seinen Einfluss über seine Energielobby in Litauen und Lettland, ihr gefällige Politiker und Parteien zu beeinflussen und möglicherweise zu „kaufen“. So geraten Lettland und Litauen in den Geruch der Bestechlichkeit, was ihr Ansehen als verlässliche Partner schmälert. Es gibt kaum einen gewichtigen Fall von Korruption, in den nicht Gelder und Interessen aus dem östlichen Nachbarland einbezogen sind. Zum anderen wird die innenpolitische Lage in den baltischen Ländern durch diese Unterwanderungsversuche unstabiler. Bisher änderte das wenig an der Ausrichtung: Alle drei Länder sind Musterbeispiele der Marktwirtschaft und der Westorientierung und haben überwiegend bürgerlich-liberal-konservative Koalitionsregierungen. Das aber kann sich ändern. Litauen war zeitweise von populistischen Parteien geprägt; Lettland erlebt unziemlichen Einfluss sogenannter Oligarchen auf mehrere Parteien und damit auf die Regierung; Estland hat seit vielen Jahren eine beständigere Politik mit stabilen Regierungen. Die Jahre, in denen die baltischen Staaten Vorbild für viele waren und sich ungebrochen auf Europa stützten, liefen aus, vor allem dank des russischen Einflusses. Dieser kann über Lettland oder Litauen auch nach Brüssel Eingang finden.

Zwei Jahrzehnte lang sind Lettland und Estland nun freie Nationen und Litauen schon etwas länger. Unmittelbar nach dem später gescheiterten Putschversuch gegen den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hatten Estland und Lettland ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. Die Erklärung des estnischen Parlaments kam am Abend des 20. August 1991, die Lettlands am 21. August. Unter den Ersten, die die Unabhängigkeit diplomatisch anerkannten, war – nach Island – Deutschland, das wenige Tage später Botschafter in die drei baltischen Staaten sandte. Nachdem der russische Präsident Boris Jelzin Estland und Lettland am 24. August als unabhängige Staaten anerkannt hatte, folgte die Sowjetunion Anfang September.

Litauen war Vorreiter als das erste Land, das seine Unabhängigkeit wiederherstellte. Im Jonglieren zwischen Anpassung und ­Widerstand ging die wohlhabendste der früheren Sowjetrepu­bliken in den Jahren der Unterdrückung einen ehrenhaften Weg. In seiner Führung agierten auch vor 1990 eher als anderswo im sowjetischen Einflussbereich national eingestellte Politiker und weniger Anpasser und Karrieristen. Daher war die Loslösung von Moskau nach 1990 anfangs blutiger, dann aber klarer als in den anderen baltischen Staaten. So hat Russland zu Litauen nun ein spannungsfreieres Verhältnis als zu Lettland und Estland, zumal dort der Anteil Russischsprachiger in der Bevölkerung weit niedriger ist als in Lettland und Estland. Das Grundmisstrauen in den baltischen Staaten gegenüber Moskau aber blieb in Vilnius ebenso wie in Riga und Tallinn.

In den folgenden Beiträgen werden diese historischen, geostrategischen, kulturellen Momente angesprochen, die die baltischen Länder prägen. Teils sind das (aktualisierte oder ergänzte) Analysen oder Reportagen, die im letzten Jahrzehnt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen – der Autor war von 2001 an von Stockholm aus als Auslandskorrespondent häufig dort, auch nach seinem Wechsel nach Hannover. Dazu kommen zahlreiche verbindende und ergänzende Beiträge. Soweit es an einigen Stellen kurze Doppelungen gibt, soll das der Lesbarkeit und dem inneren Zusammen­hang dienen. Drei Bildteile des Berliner Fotografen Dirk Bleyer sollen die Anschaulichkeit stärken; die eingestreuten Fotos im Text stammen dagegen vom Autor.

Dabei geht es weniger um Tagespolitik oder wirtschaftliche Analysen denn um die Wandlungen von Kultur und Gesellschaft, um Selbstverständnis und Aufbruchstimmung. Bewusst wurde die Darstellungsweise eines Mosaiks beibehalten: Schilderungen einer Fahrt durch das alte Kurland und dessen Spuren aus der Sowjetzeit oder über Schriftsteller und Musiker, die in den Jahren der Besetzung Widerstand leisteten, geben Einblicke in eine Gesellschaft, die uns nahe ist und doch besonders. Wer diese bereist (oder sich „erliest“), wird sich, wie der Autor, dem Faszinosum wohl nur schwer entziehen können.

Drei baltische Wege

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