Читать книгу BLUT - Der Vampirkiller von Wisconsin - Robert W. Walker - Страница 6

Kapitel 2

Оглавление

»Mal angenommen, du hast recht«, hatte Chief Inspector Leamy, Ottos Boss, am Tag vorher gesagt, »und es gibt einen Serienkiller, der sich mit literweise Blut seiner Opfer davonmacht, Otto, was zur Hölle, denkst du, macht der Kerl damit?«

»Er könnte es für alles Mögliche verwenden. Bei früheren Fällen wurde es für Zeremonien, Rituale, satanische …«

»Du glaubst doch nicht, dass das hier was mit irgendeinem Kult zu tun hat, oder? Sondern dass es ein einzelner Verrückter ist, stimmt’s?«

Leamy lehnte sich in dem gepolsterten Ledersessel nach vorn, wippte leicht und wartete auf Ottos Antwort.

»Ich gebe mal einen fundierten Tipp ab: Er trinkt es. Aber was immer er damit macht, darin baden oder seine Wände damit streichen, der Bastard hat irgendein verkorkstes Verlangen danach und er will es frisch und direkt aus seinem Opfer abgepumpt.«

»Woah, das ist aber eine steile These, Otto. Niemand in der forensischen Abteilung sieht das so wie du. Bei jedem denkbaren Szenario glauben die Leute vor Ort, dass die Leiche vom Tatort entfernt und das Opfer woanders abgeschlachtet wurde, was das fehlende Blut erklärt. Du stellst hier eine ziemlich gewagte Theorie in den Raum – und deswegen soll das Bureau eine groß angelegte Jagd nach diesem Kerl starten, möglicherweise auf Grundlage falscher Annahmen?«

»Du bezahlst mich doch für meine Vorstellungskraft und Intelligenz. Bill, hab ich dich jemals enttäuscht?« Leamy zögerte. Er wollte etwas sagen, aber stattdessen kaute er nur auf der Lippe herum.

»Sag schon, hab ich?«

Leamy lehnte sich noch weiter über den Schreibtisch und sah Otto kalt an. »Du weißt genauso gut wie ich, Otto, dass nur einer ordentlich Mist bauen muss, und die da oben werden für uns beide ein neues Plätzchen finden, wo wir unsere Dienstzeit runterreißen können. Erinnerst du dich noch an Colin Armory? Weißt du noch, wo der geendet ist?«

Otto hasste diese Seite an Bill Leamy: Der Mann hatte hart gearbeitet, um dahin zu kommen, wo er jetzt war, und er wollte kein Risiko eingehen. Was er gerade gesagt hatte, war die nackte Wahrheit. Aufgrund der Rezession hatte es radikale Budgetkürzungen gegeben – wenn Otto jede Menge Leute und ein kleines Vermögen für eine Ermittlung wollte, dann sollte die besser ein paar Resultate erzielen, oder Boutine bekam einen Tritt in den Arsch – und nicht Leamy.

Leamy fragte Boutine unvermittelt nach seiner Frau – eine höfliche Floskel, die der Mann in letzter Zeit ein wenig zu oft gebraucht hatte – und die Unterhaltung wurde oberflächlich und unergiebig. Boutines Frau lag im Krankenhaus im Koma. Die Folge eines Aneurysmas.

Otto war mittlerweile überzeugt, dass diverse Fälle, zwischen denen bisher keine Verbindung hergestellt worden war, doch etwas miteinander zu tun hatten. Dass der Killer eine Vorliebe für Blut hatte und dass es die seltene Sorte Killer war, der Folter der Stufe neun brauchte, nämlich Blut abzuzapfen und zu trinken, um sich seinen Kick zu holen.

Heute Abend war das erste Mal gewesen, dass er in letzter Zeit ein Folt 9 aus erster Hand gesehen hatte. Als Neuling im ersten Jahr, damals im Einsatz in Kalifornien, hatte er einmal die Hinterlassenschaften eines anderen Blutsaugers gesehen. Und jetzt wusste er tief im Innersten, mit jeder Faser seines Körpers, dass der Tatort, den er sich heute angesehen hatte, sehr viel Gemeinsamkeiten mit diesem furchtbaren Fall in Kalifornien aufwies. Der Killer hätte fast James P. Childers’ Schüler sein können, doch der Schweinehund war 1997 in der Gaskammer gestorben, wofür nicht zuletzt Boutine verantwortlich gewesen war. Childers hatte allerdings so deutliche und offensichtliche Spuren hinterlassen, dass es einem fast vorkam, als wollte er gestoppt werden. Das schien bei diesem neuen Psychopathen hier nicht der Fall zu sein.

Und der Kerl lieferte das volle Folterprogramm, da konnte man fast überall auf den FBI-Checklisten ein Häkchen machen: Folter Stufe eins und zwei beinhaltet Verstümmelung der Sexualorgane; Zerstückelung ist Folter Stufe drei bis fünf. Die einzigen Grausamkeiten, an denen er nicht interessiert schien, waren Folter Stufe sechs bis acht: Ausweiden und Kannibalismus. Aber es gab keinen Zweifel, der Mistkerl genoss es, seinen Opfern das Blut abzuzapfen, langsam und mit extremer Sorgfalt, damit nicht ein Milliliter unnötig verschwendet wurde. Boutine konnte natürlich danebenliegen. Das Blut konnte aus anderem Grund abgezapft worden sein, und der Killer hatte es vielleicht doch nicht wie einen Softdrink gierig hinuntergeschluckt, aber sein Gefühl sagte ihm etwas anderes.

Otto war sich sicher: Jessicas Ermittlungsergebnisse würden nicht nur seiner Theorie Glaubwürdigkeit verleihen, sondern genau wie er würde auch sie bald ihren hart verdienten Ruf aufs Spiel setzen. Auch wenn sie relativ jung und noch nicht lange bei der Abteilung war, hatte sich Dr. Coran schon den Ruf erworben, besonders gründlich zu sein und ohne Rücksicht auf Verluste zu ihren Überzeugungen zu stehen. Sie hatte nichts mit dem Mann gemein, den man für die Position übergangen hatte, die sie nun bekleidete. Dr. Zachary Raynack hätte niemals gesehen, was für Otto die offensichtlichen Anzeichen eines Folt-9-Killers waren.

»Nenn es eine Ahnung«, hatte Otto schließlich am Tag davor zu Leamy gesagt.

Leamy war aufgestanden, nie ein gutes Zeichen. »Man verwettet nicht sein Haus aufgrund einer Ahnung, Otto. Gerade du solltest das wissen. Bist du sicher, dass diese Sache mit deiner Frau …«, Leamy zögerte, »… nicht dein Urteilsvermögen beeinträchtigt, was Dinge angeht, die …«

»Da musst du dir keine Sorgen machen, Bill. Wirklich nicht!« Otto hoffte, seine feste Stimme, die ein wenig wütend klang, würde Leamy überzeugen, was ihn anging. Es war offensichtlich, dass Leamys geschwätziger Golfpartner, Dr. Raynack, ihm schon einen Floh ins Ohr gesetzt hatte.

Otto versuchte, nicht mehr darüber nachzudenken, dass sich Leamy und Quantico seinetwegen Sorgen machten. Er konzentrierte sich stattdessen auf Jessica Coran, deren orchestrierte Sammlung von Beweisen für die lokalen Gesetzeshüter wie Science Fiction wirken musste. Ihre Instrumente und ihr Vorgehen entsprachen dem neuesten Stand der Wissenschaft, und sie hatte das Ruder in die Hand genommen, genau wie erwartet. Sie hatte die bulligen Polizisten bereits auf Händen und Knien, damit sie das Linoleum unter dem Waschbecken in der Ecke und die Bodendielen unter dem Kopf des Opfers herausrissen. Auch wenn nirgends eine Spur von Blut zu sehen war, wusste sie, dass zumindest Spuren davon unter einem Elektronenmikroskop immer noch zu sehen sein würden, selbst nachdem sie gründlich weggewaschen und weggeschrubbt worden waren. Wenn der Killer sich auch nur ritzen würde, während er die Leiche zerhackte, dann würde sie Spuren seines Blutes in der Spüle, auf den Fliesen oder den Bodenbrettern finden, glaubte Otto. Er hatte gerüchtehalber gehört, dass sie liebevoll die »Leichenfledderin« genannt wurde. Raynack hingegen war in der Abteilung bekannt als der »Rattenmann«.

Otto sah ihr genau zu. Dr. Coran war seiner Meinung nach ein sehr angenehmer Anblick. Er erinnerte sich daran, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Ihm war die Luft weggeblieben. In dieser Umgebung war sie natürlich ein starker, unübersehbarer Kontrast zu der von Männern dominierten Szenerie, aber selbst in einem Raum voller gut aussehender Frauen würde sie seiner Meinung nach noch herausstechen. Jessica hatte langes, kastanienfarbiges Haar, das eine wilde Mähne bildete, wenn sie es nicht zurückband. Ihr seidiger Teint wirkte vor dem marineblauen Anzug mit der weißen Spitzenbluse makellos, doch jetzt lag die Kostümjacke draußen im Auto auf ihrem Mantel und war von einer Leinenschürze ersetzt worden, die ihren Minirock bedeckte. Das lenkte jedoch nicht von ihrer schlanken Figur ab. Otto sah, wie Stowell und so manch anderer ihr ab und zu einen Blick zuwarfen.

Großartige Gene, machte er sich klar. Mit 17 war sie ein großes und gertenschlankes Mädchen gewesen mit einer erstaunlichen Grazie für ihr Alter. Sie war so groß wie ihr Vater und hatte sein wissendes Glitzern in den Augen, dazu die rauchige Stimme ihrer Mutter und deren hohe Wangenknochen. Sie hatte diese charakteristische Die-Arbeit-geht-vor-Einstellung, die ihren Vater beim Militär so unersetzlich gemacht hatte. Boutine hatte Dr. Oswald Coran als einen der besten medizinischen Ermittler kennengelernt, den er je getroffen hatte, so wie auch jeder andere, der mit dem Mann zu tun gehabt hatte – darunter Familienangehörige vermisster Soldaten, Senatoren, Generäle und Präsidenten. Coran hatte einige kontroverse Autopsien geleitet, seine Expertise war sehr gefragt, wenn es darum ging, Zweifel bei einer Ermittlung auszuräumen – beispielsweise vor zwei Jahren, als zwei Senatoren binnen einer Woche durch Flugzeugabstürze ums Leben kamen.

Oswald Coran war an einer lähmenden Krankheit gestorben, die ihm durch Muskelschwäche die Kontrolle über seine Glieder genommen hatte. Nur sein Geist war unversehrt geblieben, gefangen in einem nutzlosen, verwelkten Körper. Für einen solchen Mann war das wie eine Höllenstrafe gewesen. Es gab Gerüchte, sein plötzlicher Tod sei das Ergebnis von Sterbehilfe gewesen, aber dem wurde nie nachgegangen. Tragischerweise starb Jessicas Mutter bei einem Autounfall, kurz bevor ihr Vater krank wurde. Irgendwie hatte Jessica es überstanden und ihre Assistenzzeit am Bethesda Marinekrankenhaus beendet, an dem ihr Vater Chef der forensischen Abteilung gewesen war.

Laut Jessicas Vater achtete die Navy im Gegensatz zur Army darauf, dass ihre medizinischen Praxiskräfte die nötige Ausbildung bekamen. Er bestand darauf, dass sie entweder bei der Navy oder auf einer medizinischen Privatschule ausgebildet wurde. Sie wählte Letzteres, aber als »Navy-Spross« war ihr Leben von Entwurzelung, Veränderung und ständigen Brüchen geprägt. Trotz ihres sanften Äußeren war sie deswegen sehr tough und hatte keinen Schimmer, wie umwerfend sie aussah. Ihre Vorstellung von Schönheitspflege bestand darin, die Haare zusammenzubinden und ein wenig Parfüm aufzulegen – mehr brauchte sie auch gar nicht zu tun.

Sie hielt sich in dieser Nacht zurück, überließ Boutine die Führung, aber jeder der Anwesenden wusste, dass sie das Sagen hatte, dass sich etwas verändert hatte, als sie sich an die Arbeit machte. Charisma, der X-Faktor, was immer es war, das die Menschen um sie herum beeindruckte – sie hatte jede Menge davon. Otto wusste, er hatte nicht viel mehr als die Fähigkeit, andere einzuschüchtern und zu verängstigen.

Er hatte sie bei der Zeremonie getroffen, als man ihren Vater zum Chef der forensischen Abteilung in Bethesda gemacht hatte. Damals war sie vielleicht 16 oder 17 gewesen. Seitdem war sie noch hübscher geworden.

Unvermittelt stand sie auf und streckte die Beine aus, die sich schon verkrampft hatten, weil sie die ganze Zeit in der Hocke saß. Sie drehte sich um und bemerkte, dass er Löcher in die Luft starrte. Fast höflich fragte sie: »Bist du am Tagträumen, Otto? Ausgerechnet jetzt?«

Er ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging, und schoss zurück. »Abwehrmechanismus.« Ob sie auch nur ahnte, dass sie Gegenstand seiner Gedanken war?

»Hilf mir mal«, sagte sie. »Ich brauche die Pinzette, die ich drüben bei meiner Tasche gelassen habe, und noch ein Reagenzglas, bitte.«

Er steckte seine nicht entzündete Pfeife ein und nickte: »Sicher, sicher … sonst noch was?«

Otto spürte, wie die anderen Männer sie ansahen. Vermutlich waren sie auf ihn neidisch. Nicht weil er schon so lange beim FBI war oder so viel erreicht hatte, sondern weil er sie persönlich und beruflich kannte.

»Die Familie hat ein Recht darauf, dass das zu einem Abschluss gebracht wird«, sagte Dr. Samuel Stadtler in ihr Ohr. Der grauhaarige, verkniffen aussehende örtliche Pathologe trieb sich schon seit Stunden am Rand des Tatorts herum und nervte den Sheriff mit seinem Gerede, weil er von Jessica in keiner Weise darum gebeten worden war, zu helfen.

»Es könnte eine Weile dauern, bevor ich Ihnen die Leiche übergeben kann, Dr. Stadtler«, sagte sie ihm. »Und ich will bei der Autopsie dabei sein, verstehen Sie?«

»Ich verstehe mehr, als Sie glauben«, sagte er geheimnisvoll. »Zum Beispiel weiß ich, dass Mord das Federal Bureau of Investigation normalerweise nicht interessiert. Ich weiß, dass Stowell Sie dazugeholt hat, und ich weiß, wie Sie arbeiten, nämlich ohne einen Gedanken an die Familie zu verschwenden.«

Otto trat dazwischen, als er das hörte und merkte, wie all die andern Polizisten begierig darauf warteten, dass es zum Showdown zwischen dem alten Landarzt und der jungen Ärztin kommen würde. Otto sagte: »Das ist jetzt Sache der Bundespolizei, Dr. Stadtler …«

Aber Jessica schnitt ihm das Wort ab und baute sich direkt vor Dr. Stadtler auf. »Und Sie können entweder kooperieren oder von dem Fall komplett abgezogen werden. Es liegt an Ihnen.«

»Ich habe hier die Zuständigkeit, Doktor«, blaffte Stadtler sie an.

»Nein, nein, haben Sie nicht. Außer, wenn uns die Behörden hier zum Gehen auffordern, erst dann«, konterte sie. »Und jetzt, Sir, schlage ich vor, da Sie sich ja so viel Sorgen um die Familie machen, setzen Sie sich mit ihnen zusammen und helfen ihnen, mit ihrer Trauer fertig zu werden.«

Stadtlers Gesicht war rot angelaufen und er fand keine Worte, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Er sah sich nach Unterstützung um, aber als er keine fand, marschierte er hinaus. Sie hörte, wie er sein Auto anließ, und dann das Holpern und Knirschen des rollenden Wagens auf dem mit Unkraut überwachsenen Waldweg.

Otto drehte sich zu ihr und sagte: »Du wirst noch häufiger feststellen, dass die Leute vor Ort sich von uns bedroht fühlen, wenn wir hinzugezogen werden.«

»Gott, ich hoffe, ich hab nicht alles noch schlimmer gemacht.«

»Nein, nein, wie du mit ihm umgegangen bist, war wie aus dem Lehrbuch.«

Sie lächelte das erste Mal an diesem Abend. Ottos Stirn war eines seiner beeindruckendsten Merkmale, da sie so dominierend und breit war. Sein mächtiger Schädel ging in einen sanft schmaler werdenden Kiefer und ein markantes Kinn über. Er hatte ein langes Gesicht mit einer Vielzahl an verschiedenen Ausdrücken, die alle ein ums andere Mal schwer zu lesen waren. Er war groß, fast schon majestätisch; seine aufrechte Haltung und zupackende Art machten stets Eindruck. Und jetzt durchdrangen Ottos Augen, eine Mischung aus Stahlblau und Schneeweiß, den Nebel ihrer Müdigkeit, und für einen Moment sah sie den Schmerz hinter diesen Augen, den Geist eines Dämons, vielleicht auch zwei oder drei. Dämonen, die Sorgenfalten in sein Gesicht meißelten. Sorgen, denen er keinen Ausdruck verleihen konnte.

»Werd mal besser hier fertig«, sagte er und wandte die Augen von ihrem durchdringenden Blick ab, als versuchte er, der Frage darin zu entgehen.

»Ja, richtig.«

Boutine wandte sich wieder den anderen Männern zu, die er an der kurzen Leine hielt und sie zurück zur Arbeit befahl. Er sagte ihnen genau, was Dr. Coran wollte und brauchte, bis er allen so auf die Nerven gegangen war, dass eine missmutige Stille das überfüllte kleine Todesloch einhüllte. Otto trat nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen.

Jedem hier war dieses Mordopfer nahegegangen, hatte sie auf eine Art und Weise berührt, wie niemand je berührt werden wollte. Sie bemerkte erst jetzt, wie sehr es Otto mitgenommen hatte.

Die Vorstellung, dass in dieser Welt jemand existierte, der ihr alles Blut aussaugen wollte, es trinken und dann wieder rauspissen, dieser Gedanke allein erschütterte die FBI-Frau in einem verborgenen Teil ihrer Seele, der für Ängste reserviert war, die sie für lange ausgemerzt gehalten hatte.

Aber die Psyche hielt nichts von Fair Play, nicht mal gegenüber sich selbst.

Otto Boutine hatte in seiner langen Karriere beim FBI in der Abteilung für psychologisches Profiling schon Foltermorde in all ihren Facetten gesehen, und als Berater, bevor eine solche Abteilung überhaupt existiert hatte. Tatsächlich hatten sogar die meisten seiner Fälle mit irgendeiner Form körperlicher Verstümmelung aufgewartet. Er war der hauseigene Spezialist für Verstümmelungsmorde, der Experte, der Ben »Obi-Wan« Kenobi der Verstümmelung. Manchmal sorgte er sich darüber, sein Leben so zu verbringen. Einen Großteil seiner wachen Zeit – und manchmal selbst seiner Träume – hatte er in den Gedankenwelten der brutalsten Killer verbracht, die je der Justiz zugeführt worden waren, mehr als mit seiner Frau, die ihm jetzt entglitt, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Seitdem er mit dem Bureau zusammenarbeitete, hatte er gelernt, wie ein Mann zu denken, der zu den größten Gräueltaten fähig war, die man sich vorstellen konnte, aber das hier, das Ergebnis einer Folter Stufe neun, war geistig nicht leicht auszuloten.

Intellektuell konnte er die Tatsache akzeptieren, dass es zwischen 300 und 400 sogenannte echte Vampire gab, die das Land durchstreiften. Und auch wenn alle von ihnen ein unheiliges Verlangen nach dem Geschmack von Blut hatten, wurden nur wenige davon tatsächlich zu Serienkillern. Die meisten entschieden sich für andere und sicherere Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Aber emotional betrachtet hatte Otto große Schwierigkeiten, sich die Geisteswelt eines Menschen vorzustellen, der tatsächlich dazu fähig war, einem anderen Menschen das Blut abzuzapfen. Der langsame Sterbeprozess war so peinigend, so abscheulich, dass diese Art Verbrechen die Liste des FBI über die schlimmsten Foltermorde anführte.

Es war schwierig, wie ein Mörder zu denken, erst recht wie ein sadistischer, perverser Killer; und nun auch noch wie ein Mann, der glaubte, ein Kind Satans zu sein, eine Art Zombie! Dass er zum Überleben nicht nur menschliches Blut brauchte, sondern den reichhaltigen, warmen, zu Kopf steigenden Cocktail eines frischen Kills? Das war selbst für einen Mann von Boutines Expertise schwierig. Dennoch hatte er sich in die Ermittlungen gestürzt wie jemand, der beschlossen hat, in einem Kanu die Niagarafälle hinabzufahren – egal, was Raynack sagte, und trotz Leamys Warnung. Hatte es etwas mit Marilyn zu tun? Hatte Leamy irgendwie gespürt, dass er sich nach einem Fall sehnte, der ihn aus Washington rausbrachte, fort von dem blassen Schatten einer Frau, die in einem Koma dahindämmerte, der er nicht länger dabei zusehen konnte? Oder lag es nur daran, dass dieser Folt 9 das war, worum sich seine gesamte Karriere drehte? Ein grausames und menschliches Phantom zu stoppen, an das allein er glaubte: Eine kranke Kreatur der Dunkelheit, die frisches Blut eines anderen zu sich nahm, damit sie – zumindest psychologisch – übernatürliche Macht über Leben und Tod bekam? War es tatsächlich möglich, dass der satanische Bastard an seine eigene blutige Unsterblichkeit glaubte? Der Vampir-Komplex; die Fixierung, die zu Menschen wie Marquis de Sade geführt hatte und zu Frauen, die ihre Schönheit bewahren wollten, indem sie im Blut von Jungfrauen badeten. Menschliche Neunaugen, die nach dem Blut anderer gieren.

Aber es war das erste Mal, dass er das Resultat einer solchen wahnsinnigen Fantasie tatsächlich vor sich hatte.

Er starrte wieder auf den blutleeren Leichnam, der verkehrt herum von den Balken der uralten Blockhütte in Wekosha, Wisconsin, hing. Die örtlichen Gesetzeshüter hatten sie verständigt, sobald ihnen klar geworden war, was sie da vor sich hatten – einen Fall von Verstümmelung ohne Blut, genau wie es das Fax beschrieben hatte.

Jessica Coran war wie ein Fels in der Brandung des Schreckens. Eine erstaunliche Lady, hoch kontrolliert, mit einem brillanten medizinischen Verstand und unglaublichem Können. Er wusste, er musste sich mit den Superlativen zurückhalten, wenn er in seinem Bericht ihren Einsatz vor Ort beschrieb. Er durfte sie nicht wie Johanna von Orleans oder Mutter Theresa aussehen lassen, aber er war beeindruckt und sein Bericht würde das zeigen. Er ging zu ihr, fasste sie am Arm und fragte: »Wie läuft’s?« Sie war seit Stunden voll im Einsatz. Es dämmerte bald.

»Bin gleich fertig.« Ihre nuschelige Stimme sagte alles.

»Du wirst ein wenig Schlaf brauchen vor der Autopsie. Und es wird bald hell.«

Eine Autopsie konnte Stunden dauern, und eine schwierige – die hier würde mit Sicherheit schwierig werden – sogar bis zu acht Stunden.

»Lass die nicht ohne mich anfangen, Chief.«

Er nickte und wechselte das Thema. »Ist schon ’ne Weile her, dass ich einen gesehen habe, der so schlimm war, das muss ich zugeben.« Sie glaubte, ein leichtes Zittern in Boutines Stimme zu hören. Für einen Moment sahen sie sich an, der Blick aus seinen glänzenden grauen Augen bohrte sich wie Pfeile ungehindert in ihre tiefen blau-grünen Augen. Es entstand eine stille Verbindung zwischen ihnen. Ihr wurde zum ersten Mal klar, dass er von der abscheulichen Tat genauso mitgenommen war wie sie; gleichzeitig fragte sie sich, wie sie auch nur einen Moment etwas anderes hatte annehmen können. Ja, Otto war Otto, so förmlich, so muskulös, aus hartem Holz geschnitzt. Vorhin hatte er gewirkt, als würde er über den Dingen stehen, als hätte er alles unter Kontrolle. Nützliche Verhaltensweisen, die sie diese Nacht verbissen nachzuahmen versucht hatte. Dabei hatte sie sich wie eine Katze gefühlt, die ihre Fänge tief in die Beute geschlagen hat, ängstlich darauf bedacht, keinen Millimeter nachzugeben, weil sie fürchtete, den Kampf mit sich selbst zu verlieren.

Doch sie sah den Schmerz in seinen Augen.

Es war nur ein kurzes Auflodern und sie war schon todmüde, aber die flackernde Glut eines Moments der Schwäche war sichtbar gewesen. Die grausige Natur des Falls hatte ihn in seiner Seele getroffen, genau wie sie auch. Er hatte sofort versucht, das Gefühl zu ersticken, und wie gewöhnlich war die Glut schnell erloschen, wieder durch Stahl ersetzt, und sie hörte mit halbem Ohr seine Anweisungen.

»Zeit, dass wir hier fertig werden, damit du noch ein paar Stunden Schlaf kriegst.«

Sie nickte, sagte nichts. Aber irgendwie wusste sie, die Verbindung, die an diesem grausigen Tatort zwischen ihnen entstanden war, würde Bestand haben.

Doch dann wirkte er wieder rein professionell; ließ die Maske des Chiefs erneut über seine Stirn sinken, als wäre er nicht daran interessiert, solche Gefühle mit ihr zu teilen. Auch ohne dass ein Wort darüber fiel, musste sie an seine invalide Frau denken, die mittlerweile seit einem Monat im Bethesda Marinehospital im Koma lag, Opfer eines Aneurysmas. Sie erinnerte sich wieder daran: Niemand kam Boutine je besonders nahe. Otto erzählte anderen nur ansatzweise, was in seinem Leben vorging, und ließ niemanden nahe an sich heran, erst recht nicht einen Neuling in der Abteilung.

Er war nur hier, um für das Bureau ein Auge darauf zu haben, wie sie sich im Einsatz schlug. Er arbeitete an einer Neuaufstellung seines Profiling-Teams und sie war ein zentraler Teil dieser Umstrukturierung. Da hatte er nicht um den heißen Brei herumgeredet und ihr genau gesagt, wie seine Pläne für sie aussahen. Nirgends in diesen Plänen war vorgesehen, seine Gefühle mit ihr zu teilen, auch wenn es spontan und unabsichtlich geschah.

Bis zu diesem Morgen hatte Dr. Jessica Coran wie am Fließband gearbeitet, in der relativ freundlichen, sauberen und sicheren Umgebung des »Ladens«. Aber jetzt sollte sie für die Nachbearbeitung dieses Falls ihr eigenes Fließband anlegen. Dieses Mal würde sie das Gesamtbild zu Gesicht bekommen. Und das tat sie; sie hatte es genau vor der Nase.

BLUT - Der Vampirkiller von Wisconsin

Подняться наверх