Читать книгу BLUT - Der Vampirkiller von Wisconsin - Robert W. Walker - Страница 9

Kapitel 5

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Der Weckruf von Otto Boutine klingelte ihr in den Ohren, aber einen Moment lang konnte sich Jessica nicht erinnern, wo sie war; sie erinnerte sich jedenfalls nicht daran, geschlafen zu haben. Es schien, als seien erst Minuten vergangen. Sie wachte in ihren Klamotten auf, quer über dem Bett. Da das Telefon schon das dritte oder vielleicht vierte Mal klingelte, sprang sie fast darauf zu und stieß es zu Boden. Sie erwischte gerade noch den Hörer, bevor er runterfiel. Sie hatte schon immer gute Reflexe – ein wahrer Segen.

»Jess, ich bin’s, Otto.«

»Wie viel Uhr ist« – sie gähnte – »es?«

»Gleich zehn. Du hast doch gesagt, du willst die Leiche im Leichenschauhaus sehen, bevor wir uns zurück nach Virginia aufmachen.«

»Das hab ich wohl.«

»Stadtler wartet nicht gerade mit angehaltenem Atem auf dich.«

»Mit fischigem Atem vielleicht.«

»Deswegen mag ich dich so, Jess, aber wir sollten niemanden allzu sehr ans Bein pinkeln, bevor wir gehen, okay?«

»Ist das ein Befehl?«

»Nenn es einen guten Rat. Kommst du?«

»Gib mir zehn – nein – zwanzig Minuten, Chief. Ich muss noch duschen und mich anziehen.«

»Ich treff dich in der Lobby.«

»Super.«

Sie schnappte sich schnell etwas zum Anziehen. Ihre Haare würde sie auf dem Weg trocknen lassen müssen – in letzter Zeit hatte sie sich kaum Gedanken um ihr Aussehen gemacht. Sie eilte vom Bett ins Bad. Als sie aus der Dusche schlüpfte, hörte sie ein Klopfen an der Tür.

»Boutine, verdammt, ich bin noch nicht fertig.«

Das Klopfen hielt an. Jemand sagte etwas auf der anderen Seite der Tür, aber sie konnte es nicht verstehen. Sie warf sich einen Bademantel über und öffnete die Tür. Ein Kellner stand mit einem Frühstückstablett vor ihr.

»Zimmerservice, mit Grüßen von Zimmer 605.«

Boutine war manchmal sehr aufmerksam, dachte sie bei sich selbst. »Oh, bitte, stellen Sie es auf den Tisch.« Sie hastete vor ihm her, um die Sachen wegzuräumen, die sie über den Tisch verteilt hatte. Dann suchte sie nach einem Trinkgeld, aber der Kellner meinte, jemand habe sich bereits darum gekümmert, und ging dann rasch.

Sie schlang den Toast herunter, den Kaffee und das Rührei, während sie sich weiter anzog. Insgesamt brauchte sie etwa eine halbe Stunde, um in die Lobby zu kommen, wo sie Boutine in das Milwaukee Journal vertieft vorfand.

»Irgendetwas über den Fall?«

»Zu viel, verdammt. Ganz ehrlich, ich verstehe die Reporter nicht. Man bittet höflich um ihre Kooperation und sie nicken und sagen, ja, Sir, wie Sie wünschen, Sir, und dann locken sie die Informationen aus irgendeinem blöden Hilfssheriff-PR-Trottel, werfen noch ein paar Andeutungen in den Raum und zerstören damit praktisch alles, was man sich gegen einen Verdächtigen schon zurechtgelegt hat, bevor man den Bastard überhaupt in Gewahrsam hat.«

»Sind sie schon auf die Vampir-Schiene gekommen?« Mittlerweile war sie sauer.

»Nein, noch nicht.«

Sie seufzte, schürzte die Lippen und nickte. »Wenigstens etwas.«

»Ich hab eine Kopie des einen brauchbaren Fingerabdrucks, den du gefunden hast, nach Quantico gefaxt.«

»Ich gehe mal davon aus, er ist nicht in den Akten, richtig?«

»Richtig, Sherlock.«

»War ja klar.«

Sein fragender Blick ruhte auf ihr. »Ich hatte nicht viel Hoffnung, dass was dabei rauskommt, aber wieso hast du das auch gedacht?«

»Die Natur des Verbrechens legt nahe, dass der Typ der Durchschnittsbevölkerung entspricht. Vermutlich weiß, Mittel- bis Oberklasse, passt sich an wie ein gruseliges Alien, das einen menschlichen Körper übernommen hat. Vielleicht doppelt, wenn nicht vierfach gespaltene Persönlichkeit, führt ein normales Leben am Tag, Traumnachbar, Mitglied im Rotary-Klub, Verwandte und Freunde denken, dass er ein ganz normaler Kerl ist, der mehr für sich bleibt. Lebt mit seiner Mutter, oder allein. Falls er verheiratet ist, steht er unter dem Pantoffel, wird von ihr völlig dominiert. Ist viel von zu Hause weg; jagt in der Nacht nach menschlichem Blut. Aber wir hätten schon Glück, wenn wir auch nur einen Strafzettel auf seinen Namen finden, geschweige denn eine Akte.«

»Vielleicht solltest du beim psychologischen Profiling sein, Doktor.«

»Vielleicht. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit könnte dieser Fall nicht zu lösen sein.«

»Niemand hat gesagt, dass es leicht werden wird.«

»Danke für das Frühstück«, sagte sie. »Nette Geste.«

Er zuckte die Achseln. »Geht ja aufs Spesenkonto.«

»Trotzdem …«

»Freut mich, dass es dir geschmeckt hat.«

Als sie auf die Tür zugingen, sagte sie: »Wir müssen noch ein paar Details herausfinden, die intern bleiben.«

»Das ist einer der Gründe, wieso wir auf einer Autopsie bestanden haben.«

»Die arme Frau wurde übel aufgeschlitzt und wir schneiden sie noch ein bisschen weiter auf. Kann schon verstehen, wieso die Einheimischen uns hassen.«

»Da ist noch was anderes, das du wissen solltest.« Er legte ihr sanft die Hand auf den Arm, als er sie zum wartenden Auto führte. »Etwas, das mit ihrem abgetrennten Arm zu tun hat? Am Tatort?«

»Davon weiß ich schon.«

»Was weißt du davon?« Er lächelte halb, ungläubig. Er war sich sicher, etwas zu wissen, das sie nicht wusste. Das Lächeln machte seine wie in Stein gemeißelten Gesichtszüge weicher und sie sah den Jungen an die Oberfläche kommen, der Puzzle und Spiele liebt. In Quantico hieß es, dass er zur Entspannung ausgefeilte Kriegsspiele und Simulationen auf dem Computer spielte. Gerade half er beim Programmieren eines Software-Pakets, das der Polizei das psychologische Profiling erleichtern sollte – dieses System würde vielleicht einmal in jedem Kriminalistikkurs des Landes gelehrt werden, vielleicht sogar in jedem Polizeirevier.

Sie sagte, während er lächelte: »Einer der Cops hat den Arm irgendwo im Raum aufgehoben und neben die Leiche gelegt.«

»Woher, verdammt, wusstest du das? Der Typ ist heute früh zu mir gekommen. Sagte, er kann nicht schlafen, denn er hatte unheimlichen Schiss, dass du irgendwie seine Fingerabdrücke darauf finden würdest. Er war wohl einer der ersten am Tatort und er hat …«

»Den Arm aufgehoben und ohne nachzudenken in der Nähe der Leiche abgelegt.«

»Und es wirklich niemandem gesagt. Also, wie konntest du das wissen?«

»Menschliche Natur und menschliche Dummheit«, sagte sie und stieg in den Wagen, während er noch darüber nachdachte und die Stirn runzelte.

Im Auto gab Boutine dem Fahrer das Fahrtziel an und wandte sich dann ihr zu: »Also, raus damit.«

Retter an Absturzstellen und anderen Szenen von Horror und Verstümmelung kamen ihr in den Sinn, wie oft sie versuchten, die Teile wieder zusammenzusetzen, die Leichen ordentlich aufzureihen. Aber sie sagte: »Na ja, der Arm wurde von einem Schneidwerkzeug abgelöst, einem großen, so wie’s aussieht, aber auf jeden Fall wäre er nicht dahin gefallen, wo er war, im genauen Winkel, wie er abgetrennt wurde. Wer immer ihn dorthin gelegt hat, tat das mit einiger Sorge um die Anatomie und legte ihn so nahe wie möglich an das Gelenk, gerade nach außen gestreckt. Zuerst dachte ich, dass vielleicht der Killer ihn dorthin gelegt hat, wieder angefügt sozusagen. Aber das hab ich schnell aus zwei Gründen verworfen.«

»Welche Gründe?« Er war offensichtlich fasziniert.

»Erstens: Das andere fehlende Teil, die Brust, lag auf halber Strecke zum gegenüberliegenden Ende des Raums und die zweite baumelte noch an einem Hautfetzen. Wenn der Killer ein so großes Interesse daran gehabt hätte, Humpty Dumpty wieder zusammenzusetzen, dann hätte er das mit allen Teilen gemacht, nicht nur dem Arm.«

»Guter Punkt.« Er wusste, was zwanghaftes Verhalten war.

»Was den zweiten Grund angeht, ich habe den aufgewirbelten Staub an der Stelle gesehen, wo der Arm ursprünglich hingeworfen worden war. Er ist gegen die Wand geprallt, hat ein paar leichte Spritzer hinterlassen und auf dem Boden eine weitere Spur. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass er bewegt wurde.«

Vom Hotel ins Krankenhaus zu kommen dauerte nur 20 Minuten. Es war in einen Universitätskomplex eingebunden. Sobald sie drin waren, mussten sie lange Korridore durchqueren und dann eine Treppe hinabsteigen in das Leichenschauhaus darunter. Es sah genau aus wie Hunderttausende solcher Orte, die in Krankenhäusern im ganzen Land versteckt waren. Eine Art Vorhölle auf Erden für die sterblichen Überreste, bis man die Todesursache feststellen, eine Sterbeurkunde unterzeichnen und die Leiche der Familie übergeben konnte.

Boutine blieb direkt vor der Tür zum Leichenschauhaus stehen. Seine dröhnende Stimme schien an diesem Ort der Stille fehl am Platz. »Mach schnell. Wir müssen um 16 Uhr wieder in Virginia sein.«

»Okay, aber ich hab gedacht, du schließt dich uns an.«

»Nein, ich hab mir überlegt, mit ein paar Angehörigen zu reden. Mal sehen, was die mir über das Mädchen sagen können.«

»Viel Glück.«

»Dir auch.« Er schüttelte ihre Hand, hielt sie aber noch ein wenig länger und sagte: »Letzte Nacht hast du exzellente Arbeit geleistet, aber das weißt du selbst, stimmt’s?«

»Schadet nichts, es mal von dir zu hören. Trotzdem ist das ein wenig voreilig. Bisher haben wir gar nichts.«

Sie drückte die Tür auf, dahinter beugten sich der örtliche Leichenbeschauer und sein Assistent über die Leiche; sie hatten schon angefangen, einige Tests zu machen.

»Ahhh, Dr. Coran … wie nett, dass Sie zu uns stoßen.« Dr. Stadtlers Stirn war mit Altersflecken bedeckt, genau wie seine Hände.

Sie erwiderte unterkühlt: »Ich war recht lange auf.« Dass Stadtler Stunden vor ihr den Tatort verlassen hatte, wurmte sie immer noch beide.

Er schürzte die Lippen unter der Maske und nickte, seine Augen studierten sie genau. »Ich weiß vielleicht nicht so viel wie das FBI, verehrte Frau Dr. Coran« – es ging ihr auf die Nerven, wenn man sie verehrte Frau Doktor nannte – »aber ich weiß, dass wir Ärzte eine Menge übersehen bei schlechtem Licht.«

Offensichtlich hatte er sich auf diesen Moment gefreut, dachte sie. »Und was haben Sie gefunden, Dr. Stadtler, das ich übersehen habe? Oder wovon Sie glauben, dass ich es übersehen habe.«

Es war eine Autopsie ohne Blut, die erste, deren Zeuge sie war. Sie trat näher an die Leiche. Die leicht geschlitzten Augen waren ihr mittlerweile vertraut.

Stadtler fuhr in einem übermäßig selbstgefälligen Tonfall fort, in den sich ein wenig Verachtung gemischt hatte. »Die Füße des Mädchens, unterhalb der Seile …«, eine wohlkalkulierte Pause, »… sind aufgeschlitzt.«

Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie das übersehen hatte. »Die Achillessehnen, ich weiß.« Die Lüge erwischte Stadtler und seinen Assistenten kalt. »Aber dafür macht man ja eine Autopsie, um sicherzugehen.«

Sie hatte absolut nicht auf die Füße geachtet, abgesehen davon, dass sie gefesselt waren.

»Ja, nun«, murmelte Stadtler wie ein Schachspieler, dessen König in die Ecke gedrängt wurde, »beide Sehnen wurden durchtrennt.«

»Was es ihr unmöglich machte, zu stehen, geschweige denn, vor ihrem Angreifer zu fliehen.« Sie holte sich eine Schürze, eine Haube und eine Maske aus einem Schrank in der Nähe. Bei einer Autopsie gelten nur minimale Hygienebestimmungen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass der »Patient«, so tot wie er war, ansteckend sein konnte. Während Jessica sich fertigmachte, dachte sie erneut an die Tortur des Mädchens. Selbst wenn sie die Chance zur Flucht gehabt hätte, hätte sie sich wegschleppen müssen, sich auf dem Boden entlangziehen wie eine zweiarmige Eidechse. Sie fragte sich, ob der Killer zugesehen hatte, wie sie herumkroch, bevor er sie am Seil an den Balken aufgehängt hatte. Unwahrscheinlich. Es hatte keine Spuren gegeben, um das zu untermauern. Wieso dann die Sehnen durchschneiden? Eine weitere Vorsichtsmaßnahme gegen die polizeilichen Ermittlungen, um Verwirrung zu stiften?

Ein Polizist aus Wekosha war auch im Autopsiesaal und hatte noch kein Wort gesagt. Sie erkannte ihm vom Tatort am Tag zuvor. Vermutlich war er es, der den Arm an Ort und Stelle gelegt hatte. Sie lächelte ihn zaghaft an, bevor sie sich hinter der Maske versteckte. Er stellte sich von sich aus vor. »Dr. Coran, ich bin Captain Vaughn. Wekosha und die County Sheriffs arbeiten gemeinsam an diesem Fall.«

»Gute Idee.« Sie sah sich zuerst die Wunden um die durchtrennten Sehnen an. Sich bei einer Autopsie von den Füßen vorzuarbeiten, so hatte sie ihr Handwerk in Bethesda vom möglicherweise besten Mann im Business gelernt, Dr. Aaron Holecraft. Holecraft hatte sich mittlerweile mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt, aber er würde sich durchaus mit einer ehemaligen Studentin über einen verblüffenden Fall unterhalten. Sie musste ihn unbedingt wegen des Vampirmordes in Wekosha kontaktieren, sobald sie wieder in Quantico war. Schließlich hatte Holecraft während seiner Karriere so einige Folt 9 gesehen.

Die Wunden waren von Stadtlers Assistenten gründlich gereinigt worden. »Haben Sie Bilder gemacht von den Sehnen, bevor Sie sie säuberten?«, fragte sie den Assistenten.

Stadtler antwortete stattdessen. »Wieso? Haben Sie etwa keine gemacht, verehrte Frau Doktor?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob der Fotograf gestern welche gemacht hat, nein.«

»Wir werden Ihnen jedenfalls gern welche zur Verfügung stellen«, sagte Stadtler, als habe er einen kleinen Sieg errungen.

Der langweilig aussehende, pummelige Vaughn sagte: »Wir überprüfen jede MGS-Akte, die wir haben.«

Sie ließ sich die Buchstaben durch den Kopf gehen und fragte, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen: »Mental gestörte Sexstraftäter?«

»Ja, Ma’am.«

»Zeitverschwendung, Captain.«

»Was?«

»Das Verbrechen hat nichts mit Sex zu tun, zumindest nicht im konventionellen Sinne.«

»Was? Aber sie wurde nackt aufgehängt und es gab Spuren von … Sperma in ihr, oder?«

»Okay, okay.« Ihr wurde klar, dass sie ihn nicht hätte provozieren sollen. »Machen Sie weiter mit Ihrer Suche. Verhaften Sie jeden in Ihren Akten, der sich mal einer Elfjährigen unsittlich gezeigt hat.«

»Aber Sie denken, wir verschwenden unsere Zeit?«

»Ja, das denke ich.«

»Wir müssen trotzdem allen Hinweisen nachgehen.«

»Verstanden. Können wir jetzt hier ein wenig Ruhe haben?« Jessica hatte einen harscheren Ton angeschlagen, als sie eigentlich wollte. »Das ist eine Autopsie und wir nehmen alles auf, um später ein Protokoll zu schreiben, nehme ich an, sehr verehrter Dr. Stadtler?«

Stadtler runzelte die Stirn. »Natürlich.« Er schaltete das Aufnahmegerät ein.

Die Autopsie ging nun schnell voran. Ein paar alte Einstiche wurden am Arm des Mädchens gefunden. Ein Hinweis auf Drogenmissbrauch, aber ohne Blut würde man sehr aufwendige Ausrüstung für die Untersuchung von Bauchspeicheldrüse, Leber und anderer Organe brauchen, um die notwendigen Spuren nachzuweisen, die zeigten, ob sie unter Drogen gestanden hatte oder nicht. Jessica nahm eine Probe von jedem dieser Organe; diese würden in mit Formalin gefüllten Phiolen zu den Experten nach Quantico geschickt werden. Stadtler nahm seine eigenen Proben. Er meinte, er könne sie in Milwaukee untersuchen lassen. Bis auf die Verstümmelungen in der Nacht ihres Todes erzählten die Narben von der Biografie des Mädchens – sie war gezeichnet von Wunden und Narben, die sie im Laufe ihres kurzen Lebens gesammelt hatte. Es gab alte, verheilte Brandwunden, Narben einer genähten Wunde, die darauf hindeutete, dass sie einmal einen Kaiserschnitt hatte, vermutlich durch eine Geburt oder Abtreibung bei einer ungewollten Schwangerschaft. Sie hatte ein schmerzhaftes Leben geführt und war einen schmerzhaften Tod gestorben. So traurig, dachte Jessica.

Auch wenn sie noch nicht die Identität des Monsters bestimmen konnte, das Candy getötet hatte, konnte sie sehen, was das Opfer gegessen, eingeatmet und injiziert hatte. Viele Mediziner wurden genauso abgehärtet wie Cops, irgendwann hatten sie alles gesehen. Sie sagten oft, die Art, wie ein Mensch starb, reflektierte, wie er gelebt hatte. Manche Menschen lebten auf eine Weise, die Gewalt anzog; die meisten Mordopfer flirteten unabsichtlich mit dem Tod, indem sie sich in hochriskante Situationen brachten. Ärzte, die ein Opfer untersuchten, das an einer Schusswunde starb, fanden oft Überbleibsel anderer Kugeln im Körper. Die meisten erfolgreichen Selbstmörder hatten Narben von früheren Versuchen. Aber welcher Lebensstil forderte einen solch hohen Preis, wie ihn dieses missbrauchte Kind, diese junge Frau hatte zahlen müssen?

Die Autopsie fand größtenteils schweigend statt, bis die Doktoren auf irgendetwas stießen, über das sie sich einig oder uneinig waren. Stadtler fand, die Leber wirke ein wenig gelbsüchtig, während Jessica meinte, sie habe die Farbe von Gänseleberpastete, was auf Alkoholismus und eine beginnende Leberzirrhose hindeutete. Was den Zustand der Nieren anging, waren sie sich einig. Eine davon war zu leicht – Waagen lügen nicht – und das war ebenfalls eine Folge des Alkoholmissbrauchs, sie war vorzeitig geschrumpft. Ihre Eierstöcke, genau wie ihre Nieren, waren geschrumpft und ungewöhnlich klein. Man konnte daran ihre harten Lebensbedingungen ablesen.

Es gab keinerlei Hinweise, dass sie auf den Kopf geschlagen worden war, das Gehirn wies keine Verletzungen auf, außer übermäßig viel Flüssigkeit, inklusive einiger Bluttaschen, die von den Doktoren hochgeschätzt wurden. Jetzt konnte man eine vernünftige Blutanalyse machen und Gifte ausschließen.

Sie waren beinahe mit der Autopsie fertig, als Jessicas eine bläuliche Verfärbung am Hals und der Kehlwunde bemerkte. Sie blinzelte. Vermutlich war es nur die blaustichige fluoreszierende Beleuchtung oder das natürliche Blau der Wunde selbst, als das Blut aus den durchtrennten Arterien strömte. Trotzdem griff sie nach einer Lupe auf einem Stativ, um sich die Wunde genauer anzusehen.

»Was ist?« Stadtlers Neugier war sofort geweckt. »Haben Sie das nicht schon getan?« Die Tiefe und Länge der Wunde zu untersuchen, meinte er damit.

Sie antwortete mit einer Frage. »Haben Sie den Zustand der Luftröhre geprüft?«

»Warum?«

Sie führte ihre Hand unvermittelt in die offene Brusthöhle und durch den Hals, massierte die Lagen von Knorpel, die den oberen Teil der Luftröhre bildeten, den Ringknorpel. Sie wusste sofort, dass die blaue Verfärbung um den Hals nicht an der bläulichen Beleuchtung oder an der Wunde lag. Sie war sich sicher, der Killer hatte sein Opfer außerdem gewürgt, doch das hatte er so sanft getan, dass es nicht offensichtlich war, geschweige denn zu beweisen.

Ihre Verwirrung verriet sie. Die drei Männer sahen sie an. »Nur neugierig«, log sie.

»Jeder kann sehen, dass sie nicht erwürgt wurde«, sagte Stadtler. »Können wir weitermachen?«

»Ich werde hier eine Probe entnehmen müssen«, sagte sie und zeigte auf den Hals.

»Was? Wofür? Wir dachten eigentlich, dass noch etwas von ihr übrig bleibt, das wir beerdigen können«, sagte Stadtler sarkastisch.

»Sorry, Doktor.«

»Okay, es tut mir leid, das war unangebracht«, antwortete er. »Aber worauf wollen Sie hinaus?«

»Das weiß ich nicht, bis ich nach Quantico zurückkehre. Ich brauche da eine Untersuchung mit dem Elektronenmikroskop.« Mit ihrem Skalpell schnitt sie ein tiefes Hautquadrat um die Halsvene herum ab, ihre Augen konzentrierten sich auf den Bereich, in dem sie einen tiefen sauberen Schnitt machen musste. Dann stellte sie eine weitere versteckte Botschaft unter der Oberfläche fest. »Oh Gott«, murmelte sie.

»Was ist?« Stadtler verlor langsam die Beherrschung und hätte sie beinahe weggestoßen. »Was?«

»Hier und hier.« Sie deutete mit dem Skalpell, das sauber in den Schnitt auf beiden Seiten der Jugularvene passte – jeder davon ging tief, aber es waren zwei Schnitte und sie waren nicht verbunden. Der längere Schnitt, der sie beide verband, war in der Mitte nur oberflächlich. Etwas war in die Halsschlagader eingedrungen und die Spuren dieser Wunde waren unter dem größeren Kehlschnitt, der sie verdeckte, fast nicht zu sehen.

Sie erklärte es Stadtler.

Er war erschüttert. »Ich … ich dachte, das hätten Sie letzte Nacht untersucht?«

»Offenbar nicht genau genug.«

»Was … bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass ein zweites Instrument an der Halsschlagader benutzt wurde. Der große Schnitt soll das nur kaschieren.«

»Was für ein zweites Instrument?«

»Ich weiß es nicht. Das werde ich es erst wissen, wenn ich diesen Teil ihres Halses mit nach Virginia genommen habe.«

Er sah sie lange an. »Ich nehme an, es ist … notwendig.«

»Absolut.«

Er trat einen Schritt zurück und drehte sich dann zu ihr. »Das wird jeden Moment schlimmer, oder? Vielleicht werde ich zu alt für diesen Job. Und für diese Welt.«

»Mit Verstümmelungen wie diesen bekommt sie sowieso einen geschlossenen Sarg.«

»Ja, was soll’s, macht nichts, wenn noch ein Teil fehlt, oder?«, fragte Stadtler. »Wird schon niemand vermissen.«

Jessica entfernte das quadratische Stück Fleisch aus dem Hals und Stadtlers schweigender, fleißiger Assistent hielt ihr ein kleines Glas mit Konservierungsflüssigkeit für das schwammige, ausgeschnittene sezierte Stück hin. »Diese Information bleibt in diesem Raum, Gentlemen. Wir müssen das für uns behalten. Kein Wort zu irgendwem.«

Der Todeszeitpunkt konnte durch eine Kombination weiterer typischer Anzeichen präzisiert werden: Livores, die dunkle Hautverfärbung durch den Tod und das Ausmaß dieser Verfärbungen; Algor mortis, die Leichenkälte; und Rigor mortis, der Grad an Steifheit oder Beweglichkeit, sagten ebenfalls viel aus. Annie »Candy« Copeland war zwischen Mitternacht und 2:00 Uhr gestorben, in der Nacht, bevor sie gefunden wurde. Laut Stadtler war der letzte Mann, der sie gesehen hatte, ein mieser Kleinstadtzuhälter, der sie ausgenutzt und auf die Straße geschickt hatte, ein Mann namens Scarborough, bekannt als Scar. Der Mann war wegen Verdachts des Mordes an Annie Copeland festgenommen worden.

Als sie endlich mit Copelands Leiche fertig waren, trat Jessica einen Schritt vom Autopsietisch zurück, das Dröhnen des Kompressors in den Ohren. Sie schälte sich aus den Gummihandschuhen und der Maske und legte beides in die Körbe, die zu diesem Zweck neben der Tür standen. »Machen Sie bitte eine Kopie des Berichts fertig, zusammen mit den Proben, die ich mit nach Virginia nehmen werde. Wir fliegen irgendwann heute Nachmittag vom örtlichen Flughafen ab. Falls es Probleme geben sollte, mir alles bis vierzehnhundert – äh, zwei Uhr – zukommen zu lassen, kontaktieren Sie mich bitte im Inn oder am Flugplatz.«

Stadtler nickte, ihre Augen trafen sich. In der nun einsetzenden Stille wurde ihr plötzlich klar, dass sie irgendwann im Laufe der Untersuchung seinen Respekt gewonnen hatte. »Ich kümmere mich persönlich darum, Dr. Coran.« Sie atmete tief durch und sagte dann in fast schon unterwürfiger Dankbarkeit: »Dr. Stadtler, es war für mich eine sehr wertvolle Erfahrung, mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern zu arbeiten.« Sie war dankbar, dass sie nicht mehr die »sehr verehrte Frau Doktor Coran« war.

Ihrer Arbeitskleidung entledigte sie sich gleich im Vorraum vor dem Autopsiesaal, wo weitere Wäschekörbe standen und man sich waschen konnte. Sie spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und warf einen Blick in den Spiegel, wobei sie ihr Spiegelbild studierte. Sie sah aus, als sei sie eine Woche auf Sauftour gewesen, und irgendwo in ihrem Hinterkopf erklang die Melodie eines Jimmy-Buffet-Songs.

»Wasting away in Wekoshaville«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Die Arbeit vor Ort war anstrengend gewesen. Vielleicht hätte sie im Labor bleiben sollen.

Sie tupfte ihr Gesicht mit einem sauberen weißen Handtuch ab, strich die Kleidung glatt, zog den Lippenstift nach. Dann ging sie durch die Tür auf den nächsten Ausgang zu. Jetzt brauchte sie etwas, das es in Wekosha im Überfluss gab – frische Luft.

BLUT - Der Vampirkiller von Wisconsin

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