Читать книгу Der Topophilia-Effekt - Roberta Rio - Страница 7
Ein abgelegenes Haus
ОглавлениеDie Sonne schien und es war für Oktober noch ziemlich warm. Die Luft roch sauber und frisch. Das Laub, das noch an den Bäumen hing, leuchtete in freundlichen Rot- und Brauntönen. Ich freute mich. Erstens über das gute Wetter und zweitens auf meinen bevorstehenden Arbeitstag.
Ich war im Norden des Friaul mit einem Kunden verabredet, der mich beauftragt hatte, ein Haus zu begutachten. Er hatte es vor kurzem gekauft.
In einer Zeitung hatte er einen Artikel mit dem Titel »Der Geist der Orte« über mich und meine Arbeit gelesen. Er handelte davon, wie ich die Geschichte von Grundstücken, Häusern, Gebäuden, aber auch Städten und Regionen recherchiere und daraus Schlussfolgerungen für deren aktuelle Bewohner ziehe. Welche Muster sind an einem Ort zu erkennen? Etwa im Hinblick auf die Gesundheit, die Beziehungen oder die wirtschaftliche Situation der bisherigen Bewohner? Was könnten diese Muster für die aktuellen Bewohner des Ortes bedeuten?
Als ich aus dem Auto stieg, ließ ich zunächst die Fassade des Gebäudes auf mich wirken. Sie bestand aus einer spannenden Mischung aus Holz, rohen Ziegeln und verputztem Mauerwerk. Es war ein schönes, zweistöckiges Haus aus dem 18. Jahrhundert, wenngleich es offensichtlich restaurierungsbedürftig war.
Für mich als Historikerin sind 300 Jahre keine allzu große Zeitspanne. Oft genug habe ich mit viel älteren Gebäuden und Gemäuern zu tun, die teilweise in viel schlechteren Zuständen sind. Und ich liebe das. Vor Bauten zu stehen, die so viel Geschichte in sich tragen, ist für mich ein ganz besonderes Gefühl. Zu wissen, dass in jedem Zimmer, in jedem Winkel und an jedem Fenster ganz unterschiedliche Ereignisse stattgefunden haben. Momente im Leben von Menschen, wichtige wie unbedeutende, die längst verschollene Schicksale ausgemacht haben.
Das Ambiente, das dieses Haus umgab, war idyllisch. Das Anwesen stand mitten in einem Park, recht abgelegen, ohne direkte Nachbarn und kein Verkehr störte die Ruhe.
»Hallo Roberta«, begrüßte mich mein Auftraggeber, ein schlanker, sportlicher, gut aussehender Mann Mitte fünfzig, vielleicht Anfang sechzig. Er blickte seitlich an mir herab. »Du hast ja eine süße Begleitung.«
»Darf ich vorstellen: Das ist Leya«, sagte ich.
Leya wedelte fröhlich, als er ihr den Kopf streichelte.
Normalerweise gehe ich folgendermaßen vor: Ich mache einen Rundgang mit dem Besitzer oder der Besitzerin eines Hauses und lasse mir alles zeigen. Daraufhin gehe ich noch einmal allein umher, um alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, zu erleben und auf mich wirken zu lassen. Bevor ich mit meinen historischen Recherchen beginne, will ich den Ort spüren, ohne von außen beeinflusst zu werden, denn Eigentümer von Häusern haben immer eine ganz spezielle Bindung an ihr Objekt. Da kann es leicht passieren, dass Besucher wie ich durch ihre Erzählungen ihre neutrale Einstellung verlieren und wichtige Details übersehen.
Dieses Mal waren neben dem Besitzer und mir noch drei weitere Menschen da. Allesamt Handwerker, die sich ein Bild von der Beschaffenheit des Hauses machen wollten. Es stand die Idee im Raum, mehrere Wohnungen darin zu errichten. Aus dem Stall neben dem Haus wollte der Besitzer einen Veranstaltungsraum machen.
»Es ist ein wunderbares Objekt«, sagte er zu mir. »Ich glaube, du wirst so begeistert sein wie ich. Lass uns doch mit dem Stall beginnen.«
Im Stall gab es nicht viel zu sehen. Er war leer und feucht. Die alten Balken an der Decke fielen mir augenblicklich auf. »Schön sind die«, sagte ich.
Er nickte. »Das alles hat Charisma, nicht wahr? Hier könnten Seminare stattfinden und Hochzeiten gefeiert werden. Ich sehe die glücklichen Gesichter der Besucher und Gäste schon vor mir.«
Der Mann war Notar und offensichtlich begeistert davon, hier einen Teil seiner erklecklichen Einkünfte investiert zu haben.
»Wie bist du eigentlich zu diesem Haus gekommen?«, wollte ich wissen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte gehört, dass es zum Verkauf steht. Der Preis war in Ordnung und ich hielt es für eine gute Investition. Sieh es dir doch an! Ich musste einfach zuschlagen.«
Die weitere Besichtigung führte uns ins Innere des Hauses. Dort offenbarte sich mir ein, sagen wir, sehr individueller Baustil. Damit hatte ich bereits gerechnet, nachdem auch die Fassade schon ein bisschen nach Patchwork aussah. Man konnte sehen, dass das Haus über die Jahrzehnte immer wieder umgebaut worden war, allerdings ohne einheitliche Struktur, eher chaotisch, sodass das Ganze verwinkelt und verschachtelt wirkte.
Ich konnte mich allerdings kaum konzentrieren. So sehr ich mich auch bemühte, etwas lenkte mich ständig ab. Entweder waren es die Gespräche der anderen, die sich über das Verlegen der Rohre und Stromleitungen unterhielten und darüber, wie die Wände beschaffen waren. Oder es war Leya, die irgendwo herumstreunte. Ich folgte dem Besitzer zwar von Raum zu Raum, doch es gelang mir kaum, das Haus wirklich wahrzunehmen.
Nachdem wir mit dem Erdgeschoss fertig waren, stiegen wir über eine Treppe aus Holz hinauf in den ersten Stock. Im ersten Zimmer, das wir dort besichtigten, passierte etwas Merkwürdiges. Leya blieb unvermittelt wie angewurzelt stehen. Um keinen Preis der Welt wollte sie sich weiterbewegen. Ich rief mehrmals ihren Namen, aber sie reagierte nicht. Sie stand da, stocksteif, und starrte wie gebannt in eine Ecke. Bloß war dort nichts. Kein Insekt, das herumflatterte, kein Licht, das an der Wand tanzte, kein Geräusch, das aus dieser Richtung kam.
Nicht einmal auf das Leckerli, das ich ihr vor die Schnauze hielt, reagierte sie. Es war sehr seltsam. In der Hundeschule hatte ich gelernt, auf diese Weise ihren Stresslevel zu testen. Nahm sie das Futter an, war das Niveau überschaubar bis niedrig. Alles okay. Nahm sie es nicht an, war sie angespannt und ich damit gefordert, die Stressquelle auszuschalten. Bloß wie, wenn da keine erkennbare war?
Ich hockte mich zu ihr und schaute in die gleiche Richtung. Vielleicht konnte ich auf diese Weise erkennen, was meine Hündin dermaßen irritierte? Doch ich sah weiterhin … nichts. Leya blieb noch einige Minuten stehen, ehe sie, genauso plötzlich wie sie erstarrt war, wieder auftaute. Als wäre nichts gewesen, erkundete sie heiter weiter die Umgebung.
Manchmal bedauere ich es, dass ich Leyas Gedanken nicht lesen kann. Denn es ist evident, dass Hunde Dinge wahrnehmen können, die unseren menschlichen Sinneswahrnehmungen verschlossen bleiben. Das Hirnareal von Hunden für Gerüche etwa ist vierzig Mal so groß wie das von uns Menschen. Das ermöglicht es ihnen auch, Dinge zu erschnuppern, die längst vergangen sind. Es ist ein geniales Organ, das eine Zeitreise ins Gestern ermöglicht. Leya ist also auf ihre Art selbst eine Historikerin und womöglich noch mehr. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Hunde und Katzen und alle möglichen anderen Tiere auch prophetische Gaben haben. Ihre vielfach belegte Fähigkeit, Erdbeben vorauszusagen, versucht derzeit die renommierte Max Planck-Gesellschaft über ihr Institut für Verhaltensbiologie in einem aufwändigen Projekt zu ergründen.
Erst jüngst hatte mir Leyas Verhalten bei der Geburtstagsfeier einer Freundin zu denken gegeben. Leya, die es als Musterbeispiel eines Rudeltiers liebt, Menschen um sich zu haben, hatte sich an jenem Abend standhaft geweigert, zu uns ins Wohnzimmer zu kommen. Schließlich hatte ich herausgefunden, dass das Haus, in dem meine Freundin lebte, früher eine Metzgerei gewesen war. Und dass der Platz, an dem wir saßen, genau jener Ort war, an dem die Tiere geschlachtet worden waren.
Viele Hundebesitzer können bestätigen, dass Tiere augenblicklich spüren, ob ihnen etwas oder jemand behagt oder nicht. Gehe ich mit Leya spazieren und begegnen wir anderen Menschen, steuert sie entweder freundlich auf sie zu oder kommt auf meine andere Seite, um ihnen auszuweichen.
Ich habe auch beobachtet, dass Leya ihre Notdurft am liebsten an Orten verrichtet, die für uns Menschen schlechte Energien haben. Als ich sie einmal zu einer kurzen Zugfahrt mitnahm, ging ich vor der Abfahrt noch eine Runde mit ihr, damit sie ihr Geschäft verrichten konnte. Draußen in der Natur weigerte sie sich, erst als wir schon am Bahnsteig waren, entleerte sie sich endlich, und zwar direkt unter einer Hochspannungsleitung. Viele Ratgeber über Hundeerziehung bestätigen dieses Verhalten von Hunden. In Gärten zum Beispiel stellen sie sich gern über Wasseradern.
Möglicherweise verfügen Hunde auch über einen Magnetsinn, der sie ebenfalls Dinge wahrnehmen lässt, die uns verschlossen bleiben. Forscher der Universität in Duisburg-Essen gehen gemeinsam mit Kollegen der Technischen Agraruniversität in Prag der Frage nach, ob Hunde sich für ihr Geschäft am liebsten an der magnetischen Nord-Süd-Achse ausrichten, wenn man sie lässt. Doch leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die angeblich mit Tieren kommunizieren können. Ich kann Leya nur beobachten und ihr Verhalten zum Teil des Stimmungsbildes machen, das ich von einer Besichtigung mitnehme.
Einige Tage nach dieser Hausführung machte ich mich an die Arbeit. Ich forschte im Gemeinde-Archiv nach und erfuhr dabei mehr über die Vorbesitzer des Hauses.
Als Archivarin und Historikerin habe ich Zugänge zu Unterlagen, an die nur befugte Menschen kommen. Doch auch allgemein zugängliche Gemeinde-Archive sind für mich wichtige Informationsquellen. Noch wichtiger sind nur Kirchen-Archive, die oft bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, sofern nicht Brände oder andere Katastrophen sie zerstört haben.
Ich sitze dann stundenlang in Zimmern, umgeben von wertvollen, alten Dokumenten und Büchern. Handys sind dort verboten, aber meist handelt es sich ohnehin um Kellerräume ohne Empfang. Die Stimmung ist immer ein bisschen wie in Dan Browns Historien-Thriller The Da Vinci Code. Es ist abenteuerlich und aufregend, denn ich weiß nie, auf welches Geheimnis ich als nächstes stoße.
Da sind auch immer eine gewisse Anspannung und Neugier mit dabei, sodass ich mich oft kaum von diesen Unterlagen losreißen kann und viele Tage hintereinander in diesen Zimmern verbringe. Immer auf der Suche nach Details und Namen, die mich auf neue Spuren bringen. Auch online, manchmal einfach über Google, lässt sich bei der Recherche der Geschichte eines Hauses oder eines Ortes mittlerweileviel herausfinden. Wobei es bei Google besonders wichtig ist, auf die Quellen zu achten, weil gerade zu diesem Thema neben einigem Nützlichen auch viel Unfug durch das Internet geistert.
In diesem konkreten Fall reichten die Belege im Gemeinde-Archiv nur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, denn die Umgebung, in der das Gebäude stand, war in beiden Weltkriegen ein Kampfgebiet gewesen. Viele Aufzeichnungen, offenbar vor allem die älteren, waren dabei vernichtet worden oder verloren gegangen.
Meine Recherche konzentrierte sich aber, wie immer in solchen Fällen, nicht nur auf Archive. Einen Großteil meiner Arbeit macht das Reden aus. Ich rede mit Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung eines Hauses oder eines Ortes, mit dem ich mich befasse, leben. Vor allem in ländlichen Regionen tragen sie oft überliefertes Wissen in sich, das nur teilweise oder gar nicht dokumentiert ist. Manche von ihnen sind redseliger als andere. Die muss ich finden. Dafür brauche ich vor allem Geduld, Zeit und Feingefühl.
Am Ende meiner Recherchen hatte ich aber genug Informationen gesammelt, um zu erkennen, dass sich in dem Haus eine Geschichte immer wieder wiederholt hatte. Menschen, die dort gelebt hatten, hatten mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Sie alle mussten das Haus nach dessen Erwerb bald wieder verkaufen, weil sie in finanzielle Not geraten waren und es sich nicht mehr leisten konnten.
Eine Familie, die in dem Haus gelebt hatte, hatte mit ihrem Unternehmen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges Metalldosen für Lebensmittel hergestellt. Man würde aufgrund des damaligen Bedarfes an solchen Produkten davon ausgehen, dass sie die vielen Aufträge kaum bewältigen könnten. Immerhin waren Konservendosen überlebensnotwendig für die Soldaten im Krieg. Aber genau das Gegenteil war der Fall: Die Firma ging bankrott.
Später zog ein Ehepaar mit ihrem Sohn in das Haus. Sie hatten sich davor über Jahre hinweg ein erfolgreiches Geschäft in der Textilbranche aufgebaut, das sie, als sie alt genug waren, um in Rente zu gehen, ihrem Sohn überschrieben. Anfangs lief das Geschäft so erfolgreich wie bisher weiter. Dann aber wendete sich das Blatt. Der Sohn, der nie heiratete und sein Leben mit seinen Eltern in dem Haus verbrachte, wurde drogen- und spielsüchtig und führte das Unternehmen binnen weniger Jahre in die Pleite.
Auch Krankheiten hatten dort in der Vergangenheit eine bemerkenswerte Rolle gespielt. In zwei Familien, die das Haus bewohnt hatten, starben Menschen früh durch dasselbe Krankheitsbild. Sie hatten Probleme mit der Lunge gehabt.
Dann stieß ich noch auf ein bemerkenswertes Ereignis, das sich keinem Muster zuordnen ließ, das ich aber dennoch zur Kenntnis nahm. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte eine Handvoll deutscher Soldaten in der großen Scheune ihr Lager aufgeschlagen. Sie blieben einige Wochen dort. Als sie abzogen, blieb einer von ihnen tot im Schuppen zurück. Niemand erfuhr jemals, ob er einem Verbrechen zum Opfer gefallen oder auf natürliche Weise verstorben war.
»Weißt du auch, was Leya in dem Zimmer angestarrt haben könnte?«, fragte der Notar, als ich ihm alles geschildert hatte, was sich in der Vergangenheit in dem Haus zugetragen hatte.
Ich lächelte. »Das ist dir aufgefallen?«
»Es hat mir zu denken gegeben.«
»Ehrlich, ich habe keine Ahnung«, sagte ich. »Es gibt zwar angeblich Menschen, die mit Tieren kommunizieren können, aber ich gehöre nicht dazu.«
Er blieb ernst. »Ich sollte jedenfalls besser verkaufen, meinst du nicht?«
»Diese Frage kannst du nur selber beantworten«, sagte ich. »Die Geschichte des Hauses weist jedenfalls darauf hin, dass Menschen vor dir hier einander ähnelnde Probleme hatten, vor allem wirtschaftliche.«
»Bist du sicher, dass ich diese Probleme auch haben werde?«
»Nein«, sagte ich. »Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass sich solche Muster wiederholen und jeder, der eine solche Evidenz konstruieren würde, wäre ein Scharlatan. Ich kann die Muster bei meiner Arbeit nur erkennen und Schlüsse aus ihnen ziehen, die immer subjektiv bleiben. Ich kann mir die Frage stellen: Was würde es bedeuten, wenn sich diese Muster fortsetzen? Setzt sich das am deutlichsten erkennbare Muster in der Geschichte dieses Hauses fort, erzielst du vielleicht nicht die Rendite, mit der du bei der Verwertung rechnest. Vielleicht zahlst du sogar drauf. Eben weil du keine Mieter findest oder weil Kosten auftauchen, mit denen du nicht gerechnet hattest.«
Besorgt legte er seine Stirn in Falten. »Was würdest du tun?«
»Du kannst deine Entscheidung nur selbst treffen«, sagte ich. »Sie wird nie zu hundert Prozent rational sein und du wirst nie erfahren, ob sie richtig war, nicht einmal dann, wenn du dir die Mühe machen würdest, zu beobachten, was weiter mit und in dem Haus passiert. Ein anderer Mensch kann ein anderes Schicksal haben, das sich dort auf andere Weise erfüllt, als sich deines erfüllt hätte.«
Er überlegte eine Weile. »Meine Frau wird sich wundern«, sagte er schließlich. »Würdest du es ihr erklären?«
Tags darauf aß ich mit seiner ganzen Familie zu Mittag. Die Frau des Notars war eine elegante, zierliche Person mit schulterlangen, blonden Haaren und einem freundlichen Lachen. Ich fand ihre herzliche Art auf Anhieb sympathisch. Auch die beiden Kinder des Ehepaares waren dabei. Ein Junge und ein Mädchen im Teenageralter. Es gab buntes Ofengemüse, Zucchini, Tomaten, Fenchel, alles Mögliche, dazu Salat.
»Mahlzeit«, sagte die Frau, als sie jedem eine große Portion auf den Teller anrichtete. »Lasst es euch schmecken!«
Wir plauderten beim Essen über das Wetter und wir waren alle zufrieden damit. Dieser Herbst war tatsächlich schön. Viel Sonnenschein, kaum Niederschlag. Die Familie plante, in den kommenden Wochen für ein paar Tage zu verreisen. Nicht weit weg, aber raus aus den eigenen vier Wänden, mal wieder etwas anderes sehen, neue Eindrücke sammeln. Ich sagte, dass ich das nachvollziehen könne und dass sie ihren Kurztrip in vollen Zügen genießen sollten.
Dazwischen zog Leya immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ihren Kopf schief legte und Streicheleinheiten einforderte. Darin ist sie wirklich gut.
Auf das Thema »Immobilie« kamen wir erst spät zu sprechen, nach dem Essen bei Kaffee und Kuchen. Nachdem es hier um viel Geld ging, war die Anspannung des Notars die ganze Zeit über groß. Vor unserem Treffen hatte er mich darauf hingewiesen, dass er mir ein Zeichen geben würde, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, um über diese eine bestimme Sache zu reden. Als er mir das Signal gab, sagte ich wie mit ihm abgemacht in die Runde: »Was das Haus betrifft: Ich glaube, es wäre gut, wenn ihr es verkaufen würdet.«
Die Frau riss die Augen weit auf und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Einem Moment der absoluten Stille folgte ein lautes »Endlich!« Sie rief: »Endlich sagt das jemand! Es wird Zeit, dass wir diese Immobilie loswerden. Schnell weg damit!«
Der Mann war genauso verblüfft über ihre Reaktion wie ich. Dann erzählte sie mir, dass ihr Mann seit dem Kauf immer angespannt und nervös war, wenn er zu dem Haus fuhr, auch wenn er ständig behauptete, so begeistert davon zu sein.
»Vielleicht habe ich mir tatsächlich etwas vorgemacht«, überlegte er. »Wahrscheinlich hat mich der Papierwert der Immobilie, ihr vergleichsweise günstiger Preis und die theoretisch erzielbare Rendite abgelenkt. Wenn man dann einmal so viel investiert hat, hört man nicht mehr richtig hin, wenn tief in einem ein Bauchgefühl Alarm schlägt. Man will davon nichts wissen, verdrängt und verkrampft sich. Bloß eine Frage stelle ich mir. Kann ich das Haus überhaupt mit gutem Gewissen verkaufen? Jetzt, wo ich weiß, was mich dort vielleicht erwartet?«
»Diese Frage stellen mir meine Klienten oft«, sagte ich. »Aber ich warne euch vor. Meine Antwort darauf klingt etwas jungianisch und sie ist auch tatsächlich von dem Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung, auf den ich später noch zurückkommen werde, geprägt. Sie lautet: Wenn jemand etwas in seinem Leben unbedingt haben möchte, heißt das, dass sein Unterbewusstsein ihn aus irgendeinem Grund dorthin lenkt.
Vielleicht besitzt derjenige, der das Haus kaufen und behalten wird, sogar die Kraft, sich diesen Umständen zu stellen und die Sache zu bewältigen. Oder er sucht unbewusst nach genau diesen Erfahrungen, die er dort machen kann, um daran zu wachsen. So wie du. Jung sagte: ,Bis du dem Unbewussten bewusst wirst, wird es dein Leben steuern und du wirst es Schicksal nennen.‘
Du hast gelernt, dass du besser auf dein Bauchgefühl achten solltest, auch wenn es etwas anderes sagt, als die Zahlen am Papier. Man könnte es so sehen: Du hast mich engagiert, um dir das bestätigen zu lassen.«