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Das Geisterhaus

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Viele meiner Auftraggeber wollen möglichst genau wissen, wie das mit der Wirkung der Orte ist, wie sie entsteht, wenn sie nicht auf Ursachen wie Bodenstrahlungen zurückzuführen ist. Dann geht es manchmal um die Henne-Ei-Frage: Prägt ein Ort von Anfang an die Menschen, die ihn benutzen? Entstehen also die historischen Muster, die ich entdecke, allein aus ihm heraus? Oder prägen zuerst Menschen mit ihrem Verhalten den Ort und er gibt diese Prägungen an die nächsten Generationen weiter?

Mit einer historischen Expertise kann ich diesbezüglich nicht aufwarten. Was ich kann, ist subjektiv auf Basis meiner Erfahrung und meiner Intuition antworten. Ich glaube, dass es eine ständige Wechselwirkung gibt, einen ständigen Austausch von Energien zwischen uns Menschen und den Orten, die wir benützen.

Warum besuchen wir so gerne die Ateliers großer Künstler, auch wenn sie längst verstorben sind? Hat die Magie dieser Orte die Künstler hervorgebracht, oder haben die Künstler mit ihrer Magie diese Orte geprägt? Ich denke, dass es beides ist. Wenn ich ein Bild sehe oder ein literarisches Werk lese, interessiere ich mich immer dafür, wo der Künstler oder die Künstlerin daran gearbeitet hat. Ich finde immer Manifestationen des Ortes im Werk, ganz vordergründige, in Form von Darstellungen und Beschreibungen, aber auch subjektive, die etwas mit Atmosphäre zu tun haben.

Andererseits verstehe ich auch, warum Menschen sich an Orten inspiriert fühlen, an denen Großes geschaffen wurde, und dass sie dort an der dabei frei gewordenen Energie teilzuhaben glauben. Als hätte dieses Große den Ort mit etwas aufgeladen, von dem sie etwas für sich mitnehmen können.

Ich will versuchen, das anhand eines Hauses an einem Waldrand zu erklären. Es steht mitten in der Natur, ohne direkte Nachbarschaft. Wer sich dort aufhält, kann ungestört die Ruhe genießen, nur ab und zu kommen Wanderer vorbei. Das Haus hat einen Keller, ein Erdgeschoss, ein Stockwerk und eine weitläufige Terrasse, von wo der Blick auf den angrenzenden Wald fällt.

Der Besitzer kontaktierte mich, weil er das Haus vermieten wollte, aber niemanden fand, der dort wohnen wollte. Er hatte keine Erklärung dafür. Immerhin war das Gebäude in ausgezeichnetem Zustand und die Umgebung konnte schöner kaum sein. Mit diesem Wissen machte ich mich an die Recherche.

Die Geschichte des Hauses war relativ jung, da es erst Anfang der 1940er-Jahre errichtet worden war. Ein verliebtes und frisch verheiratetes Paar wollte sich dort ein glückliches gemeinsames Leben aufbauen. Der Mann war Tischler, die Frau absolvierte in der Zeit, als sie eine gemeinsame Bleibe suchten, eine Ausbildung zum Bürofräulein, wie das damals noch hieß.

Nachdem sie das Grundstück gekauft hatten, machten die beiden große Pläne für das Haus. Es sollte gemütlich werden und ausreichend Platz bieten, für sie selbst und für die Kinder, die sie haben wollten. Das erste war schon unterwegs.

Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Der Mann wurde einberufen und musste seine schwangere Frau allein lassen. »Kümmere dich um das Haus«, sagte er zum Abschied und strich ihr durch die rotblonden Haare. »Wenn ich wieder zurück bin, genießen wir jeden einzelnen Tag in unserem schönen, neuen Eigenheim. Versprichst du mir das?«

»Ja, das verspreche ich dir«, beteuerte sie unter Tränen. »Pass gut auf dich auf! Und komm so schnell wie möglich wieder nach Hause.«

So oder so ähnlich muss der Abschied zwischen den beiden wohl verlaufen sein, zumindest wiesen die Aufzeichnungen und Erzählungen, die von der Frau überliefert waren, darauf hin. Vor allem lagen mir Briefe vor, die sie ihrem Mann und dem Vater ihres noch ungeborenen Kindes schrieb. Sie fingen immer mit »Mein süßer, tapferer Ehemann!« an.

In der Folge erzählte sie, wie sie mit dem Hausbau vorankam. Sie schilderte bis ins kleinste Detail, wie die Küche aussah und das Badezimmer. »Für das Baby ist jetzt alles vorbereitet«, schrieb sie einmal. »Ich habe weiße Gardinen genäht und eine Bordüre mit Blumenmuster als Wandschmuck gewählt. Das Gitterbettchen steht auch schon bereit. Ich freue mich schon so sehr darauf, wenn das Kind endlich da ist. Noch ein paar Wochen, dann ist es so weit. Dann darf ich unseren Schatz zum ersten Mal in den Armen halten. Ich hoffe, die Geburt verläuft gut und ohne Probleme. Ich wünschte, du wärst hier. Ich werde unbeschreiblich glücklich sein, wenn du wieder bei uns bist. Ich hoffe, dir geht es gut und du kehrst bald zu uns zurück. Du fehlst mir so. Pass auf dich auf. Wenn du da bist, sitzen wir abends im Kinderzimmer und sehen unserem Baby beim Schlafen zu. Das machen wir, machen wir das? Ich sende dir tausend Küsse in die Ferne.«

Das Leben hatte allerdings andere Pläne für die junge Frau. So kam, was Sie an dieser Stelle vielleicht schon geahnt haben: Der Mann fiel im Krieg und die junge Frau musste ihre Tochter allein zur Welt bringen und großziehen. Das fertige Haus bezog sie nie. Zu groß waren ihr Schmerz und ihre Trauer um den Verlust ihres Mannes. Zu viele unerfüllte Hoffnungen und Träume waren damit verbunden. Sie blieb lieber bei ihrer Familie und verbrachte den Rest ihres Lebens in ihrem Elternhaus.

Das Haus, das für sie und ihren Mann gedacht war, besuchte sie jeden Tag. Sie hielt es sauber und wohnlich. Manchmal verlor sie sich dabei in Tagträumen. Dann hatte sie so bunte und lebhafte Bilder von ihm vor ihrem inneren Auge, dass ihr ein paar Momente lang war, als wäre er gar nicht gefallen. Als würde er vielmehr jeden Moment zur Tür hereinspazieren, »Hallo, Schatz, ich bin wieder hier!«, würde er rufen und sie dafür loben, was sie aus dem Haus gemacht hatte. Sie würde auf der Stelle alles stehen und liegen lassen und sich voller Freude in seine Arme werfen. Tränen der Erleichterung würden über ihre Wangen rollen.

Doch nach wenigen Sekunden verlor ihr Körper jegliche Spannung und sie ließ die Schultern verzagt hängen. Sie wusste, dass das nie passieren würde. Ihr Mann war tot und würde nie wieder heimkehren. Dann öffnete sie stumm alle Fenster, um zu lüften und wenn sie damit fertig war, schloss sie die Tür hinter sich wieder ab.

Ihr ganzes Leben lang machte sie das so.

Als die Frau starb, erbte ihre längst erwachsene Tochter das Haus. Sie fühlte sich dort nie wohl, weil es sie an das Leid ihrer Mutter erinnerte und an ihren Vater, den sie nie kennengelernt hatte. An so einem Ort wollte sie nicht leben. Doch aus Respekt gegenüber ihrer Mutter entschied sie sich dagegen, das Haus zu verkaufen. Sie behielt es und fuhr regelmäßig hin, um nach dem Rechten zu sehen. Sie sorgte dafür, dass ihr eigener Sohn lange nichts davon mitbekam. Sie wollte ihn nicht belasten mit den düsteren Gefühlen, die an dem Haus hafteten.

Als ihr Sohn älter wurde, wurde er dennoch aufmerksam auf das alte Haus. »Ich will es sehen! Nimm mich mit«, bat er seine Mutter. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst schon erwachsen.

»Wie du willst«, antwortete sie ihm. »Erwarte aber nicht zu viel. Es ist nichts weiter als ein leerstehendes, altes Haus.«

»Das macht nichts. Ich will es trotzdem sehen«, beharrte ihr Sohn. Er wollte den Ort sehen, der so eng mit der tragischen Geschichte seiner Großmutter verknüpft war.

Als der Sohn das Haus zum ersten Mal betrat, war er erstaunt. Alles war eingepackt, sogar der Kachelofen war in Plastik gehüllt. Wie im Dornröschenschlaf offenbarte sich ihm das Innenleben dieses Hauses und er entschloss sich, den Räumen endlich Leben einzuhauchen.

Als ich selbst vor Ort war, konnte ich mich von der liebevollen Auswahl an Mobiliar überzeugen, die seine Großmutter getroffen hatte. Viele alte Sachen erinnerten an das junge Paar, das hier zu Beginn des Zweitens Weltkriegs ein glückliches Leben geplant hatte. Da und dort lehnten Bilder von dem angehenden Bürofräulein und dem Tischler. In einem Zimmer stand eine verglaste Vitrine, die in der typischen Formensprache der 1940er-Jahre gehalten war und die unter Antiquitätensammlern vielleicht sogar einiges wert war. Darin befand sich altes Werkzeug aus der Werkstatt des Tischlers. Alte Meißeln und Zangen lagen sorgfältig nebeneinander aufgereiht. In einer weißen Schüssel aus Porzellan hatte die Frau sogar eine Handvoll Holzspäne aufbewahrt. Neben der Vitrine stand ein dunkelbrauner Werkzeugkoffer, ebenfalls voll mit Arbeitsutensilien des Gefallenen.

Es war eine Zeitreise, das Haus zu betreten und das Plastik schien nicht nur die Möbel, sondern auch den Schmerz zu konservieren. Selbst ich spürte dort eine innere Schwere.

»Für mein Empfinden ist das alles hier mit trauriger Energie aufgeladen«, sagte ich zu meinem Auftraggeber, dem Enkel des Bürofräuleins und des Tischlers, nachdem er mich durch alle Zimmer geführt hatte. Ich erklärte ihm, dass die Trauer in diesem Haus auf gewisse Weise gespeichert war. »Es war mein erster Eindruck, als ich das Haus betrat«, sagte ich. »Verstehen Sie, was ich meine?«

Er nickte. »Ich sollte wohl die Einrichtung loswerden«, sagte er. »Ich könnte einen Teil verkaufen und den Rest spenden. Dann lüfte ich gründlich und lasse alles neu ausmalen.«

Der Enkel befreite das Haus von seiner Trauer, die sich über all die Jahre auf diesen Ort übertragen zu haben schien. Inzwischen wohnt eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern dort. Sie erfüllt das einstige Geisterhaus mit frischem, neuem Leben und prägt diesen Ort damit möglicherweise für künftige Generationen um.

Der Topophilia-Effekt

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