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Kapitel 1 Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

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Ich habe das Gestern gesehen. Ich kenne das Morgen.

INSCHRIFT AM GRAB TUTANCHAMUNS

»Mein Vater«, sagte die alte Dame leise, »wurde noch als Sklave geboren.«

In den Achtzigern, als ich an der University of Louisville Anthropologie lehrte, hielt ich eine Vorlesung, bei der ich anhand archäologischer Erkenntnisse einen Blick in die Zukunft wagte. Ich versuchte, betont optimistisch zu sein, und dachte, mir wäre das auch gelungen – bis ein Student in der vorderen Reihe die Hand hob und in missmutigem Tonfall sagte: »Alles ist so, wie es schon immer war, nichts wird sich je ändern.« Ich rang um eine Antwort, bis eine alte schwarze Frau mir zu Hilfe kam. Ich kannte sie, weil sie häufig nach dem Unterricht noch auf einen kleinen Plausch im Hörsaal blieb. Ich wusste, dass sie Jahrgang 1905 war, dass sie als junger Mensch keine Chance auf eine höhere Bildung gehabt hatte und dass sie sich später erst einmal darum gekümmert hatte, dass ihre Kinder und Enkelkinder eine gute Ausbildung erhielten, bevor sie fand, es sei an der Zeit, selbst noch einmal die Schulbank zu drücken. Dennoch wusste ich nicht alles über sie.

Als sie sprach, drehten sich die Studentinnen und Studenten um und schauten die Frau an, als sähen sie sie zum ersten Mal. Sie hatten noch nie jemanden kennengelernt, der der abscheulichen Einrichtung der Sklaverei so nah gewesen war. Sie erzählte, ihr Vater sei kurz vor der Emanzipationsproklamation geboren worden und habe spät geheiratet. Er war Zeitzeuge der Wiedereingliederung der Südstaaten in die Union gewesen, und sie hatte die Jim-Crow-Ära, die Lynchmorde des Ku-Klux-Klans und die Bürgerrechtsbewegung miterlebt. »Es kann sich durchaus etwas ändern«, schloss sie.

Der pessimistische Student tat ihre Worte mit einer kurzen Handbewegung ab. Das war zwar unhöflich, aber es sollte wohl weniger Geringschätzigkeit ausdrücken als vielmehr Resignation.

Sie haben wahrscheinlich schon mal den Spruch gehört, dass das Licht am Ende des Tunnels auch ein entgegenkommender Zug sein kann. Viele Menschen nehmen genau so die Zukunft wahr – als Lokomotive, die auf sie zurast, und sie haben keine Zeit mehr, von den Gleisen zu springen. So ganz von der Hand zu weisen ist das ja auch nicht. Der Klimawandel, die Schere zwischen Arm und Reich, übervölkerte Großstädte, globale Umweltzerstörung, Terrorismus, korrupte politische Systeme, Amokläufe an Schulen, Gräueltaten im Namen der Religion – all das lässt wenig Raum für Hoffnung. Viele Menschen halten schon heute ihr Leben für eine nie enden wollende Episode von The Walking Dead. An jeder Ecke lauern Zombies.

Dass es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt, erklärt uns der Ökonom Herbert Stein mit seinem berühmten »Gesetz«: Wenn etwas nicht ewig so weitergehen kann, dann tut es das auch nicht. Als Archäologe kenne ich zahlreiche Belege für die Richtigkeit von Steins Gesetz. Ein kurzer Blick auf die Vor- und Frühgeschichte reicht, um festzustellen, wie sehr sich unsere Vergangenheit von der Gegenwart unterschied. Vor 15.000 Jahren waren alle Menschen Jäger und Sammler. Heute fast keiner mehr. Selbst Bauern gibt es kaum noch. Nur ein winziger Bruchteil der Weltbevölkerung ist direkt an der Nahrungsmittelproduktion beteiligt. Unsere Vorfahren in der Steinzeit hätten sich so ausgeklügelte Technologien und eine dermaßen globalisierte Wirtschaft wie die unsere nicht einmal im Ansatz vorstellen können. Jawohl, die Dinge ändern sich.

Sie sagen nun sicherlich: »Na gut, wie es damals war, ist es natürlich heute nicht mehr. Aber vielleicht bleibt in Zukunft alles so, wie es jetzt ist. Vielleicht haben wir das Ende der Geschichte erreicht.«

Das kann natürlich sein, aber ich bezweifle es. Ich bezweifle es, weil das Wissen darum, weshalb sich die Menschheit in der Vergangenheit verändert hat, uns hilft zu verstehen, warum unsere Zukunft anders sein wird als unsere Gegenwart. Mein Verständnis der Vor- und Frühgeschichte lässt mich zu dem Schluss kommen, dass uns schon in naher Zukunft radikale Veränderungen erwarten – von der Technologie über die Politik bis hin zur internationalen Ordnung. Und auch die Menschheit als solche wird sich verändern.

An dieser Stelle wird wohl der eine oder andere sagen: »Natürlich wird sich alles verändern: Wir steuern unweigerlich auf die Katastrophe zu!«

Ich kann diese Möglichkeit selbstverständlich nicht ausschließen, aber ich glaube kaum, dass dies die Lehre ist, die man aus sechs Millionen Jahren menschlicher Evolution ziehen sollte.

Aus der Perspektive einer Spezies betrachtet, besteht die Aufgabe der Evolution darin, für die Weitergabe des genetischen Materials dieser Spezies zu sorgen. Solange man Nachkommen zeugt, die sich ihrerseits fortpflanzen, ist man der Evolution vollkommen egal. Sie verfolgt keinen übergeordneten Zweck. Das Besondere an diesem Prozess ist, dass die Evolution zur Verwirklichung des ihr eigenen Zwecks im Laufe der Zeit Geschöpfe hervorbringt, die sich auf ganz erstaunliche Weise von denjenigen unterscheiden, mit denen sie einst angefangen hat. Säugetiere sind das Produkt einzelliger Organismen, die einander vor hunderten Millionen Jahren mikroskopische Schlachten im Urmeer lieferten. Die niedlichen Vögel, die auf Ihrem Gartenzaun tirilieren, stammen von riesigen, furchterregenden Dinosauriern ab (denken Sie mal darüber nach, wenn Sie das nächste Mal ein halbes Hähnchen auf dem Teller haben!). Und wir alle – vom Milchbauern in der Norddeutschen Tiefebene bis zum Informatiker im Silicon Valley – sind das Resultat davon, dass unsere Vorfahren sich bemühten, möglichst erfolgreiche Jäger und Sammler zu sein. Organismen versuchen stets zu sein, was sie sind, kommen dabei aber irgendwann an einen Wendepunkt, ab dem sie plötzlich zu etwas völlig anderem werden. So etwas bezeichnen Evolutionstheoretiker als Emergenz bzw. als emergente Phänomene.

In diesem Buch will ich zeigen, dass der Mensch in den vergangenen sechs Millionen Jahren vier solche Wendepunkte erreicht hat. Ich bezeichne sie als Umbrüche, da sich an diesen Punkten jedes Mal der Charakter der menschlichen Existenz ganz grundlegend veränderte und ein neues Zeitalter für unsere Spezies einläutete. In chronologischer Reihenfolge sind dies: das Aufkommen der Technologie, der Kultur, der Landwirtschaft und von staatlichen Organisationen. Die Erkenntnis, wie die Archäologie diese Umbrüche erkennt, führt unweigerlich zu dem Schluss, dass wir einen weiteren Wendepunkt erreicht haben.

Zu jedem dieser Wendepunkte gelangte der Mensch durch verschiedene Prozesse, aber ein wichtiger Antrieb war stets zunehmende Konkurrenz aufgrund von Bevölkerungswachstum. Auch wenn Sie sich überhaupt nicht mit Evolution auskennen, werden Sie zumindest schon einmal vom »Überleben des Stärkeren« gehört haben. Dieser Ausdruck wird oft Darwin zugeschrieben, obwohl jener ihn gar nicht geprägt hat, sondern sein Zeitgenosse Herbert Spencer; Darwin griff ihn erst in späteren Ausgaben seines Buches Über die Entstehung der Arten auf. Es ist tatsächlich so, dass die Evolution von der Konkurrenz beflügelt wird – zumindest jener Teil der Evolution, der »rot an Zähnen und Klauen« ist (auch diese berühmte Phrase ist kein Darwin-Zitat, sie stammt aus Alfred Lord Tennysons Gedicht In Memoriam A. H. H. von 1850). Konkurrenz sorgt dafür, dass ein Organismus erhält, was er zum Leben braucht, indem er seine Vorteile einem anderen Organismus gegenüber ausspielt – er ist besser als der andere in der Lage, Nahrung, Schutz oder einen Partner zu finden. Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, stachen im Pleistozän unsere Vorfahren, die Steinwerkzeuge benutzten, diejenigen aus, die dies nicht taten. Jene, die die Fähigkeit zur Kultur erworben hatten, überflügelten diejenigen, die dies nicht hatten. Die Menschen, die Ackerbau betrieben, verdrängten die Jäger und Sammler. Und Häuptlinge und Stämme mussten Staatsgebilden weichen, die bis heute die Welt beherrschen.

So wichtig der Faktor Konkurrenz auch ist: Jedem, der sich mit der Evolution befasst, ist bewusst, dass auch Altruismus und Kooperation wesentliche Bestandteile des Evolutionsprozesses sind.1 Sie tragen dazu bei, Allianzen zu bilden, die für beide Seiten von Vorteil sind; Beziehungen à la »eine Hand wäscht die andere« sind oft ein wesentlicher Bestandteil von Konkurrenzsituationen. Ich gehe davon aus, dass der Evolutionsprozess bei dem Umbruch, den wir gerade erleben, mehr als bisher auf solche Beziehungen setzen und eine wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung schaffen wird, die eher auf Kooperation gründet als auf Konkurrenz. Insofern könnte er eine Ära einläuten, in der wir darum wetteifern, zu kooperieren.

Die einzige Frage, die sich für mich dabei stellt, lautet: Werden wir diesen Übergang, diesen großen Umbruch, auf die einfache oder auf die harte Tour schaffen?

Ich bin mir sicher, ich wollte als kleiner Junge auch einmal Cowboy, Feuerwehrmann oder Astronaut werden. Aber so lange ich zurückdenken kann, lautete mein Berufswunsch: Archäologe. Als Kind liebte ich die Natur. Ich ging gerne zelten und mochte den Gedanken, nur von dem zu leben, was ich dort draußen vorfand. Das brachte mich dazu, mich für die amerikanischen Ureinwohner zu interessieren und dafür, wie sie früher lebten. Ich las alles, was ich in die Finger bekam, suchte nach Höhlen und sammelte auf dem Acker eines Milchbauern in der Nachbarschaft Pfeilspitzen. Mich faszinierte alles, was alt war. Ich schaute mir uralte Landkarten an, um herauszufinden, wo in der Zeit der Kolonialisierung die Straßen verliefen, erkundete die zerstörten Fundamente verlassener Mühlen und durchsuchte historische Müllplätze nach Flaschen. In meinem Kinderzimmer häuften sich die Pfeilspitzen, Knochen und Fossilien. Glücklicherweise förderten meine Eltern mein Hobby. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, kaufte meine Mutter mir Leonard Woolleys Buch The Young Archaeologist aus dem Jahr 1961; es steht heute noch auf meinem Schreibtisch in der Universität. Es mag Ihnen ein wenig seltsam erscheinen, dass sich jemand schon als Kind für diese Dinge begeistert, aber viele Archäologen haben ihre Leidenschaft zum Fach bereits in jungen Jahren entdeckt.

Ich las stundenlang Magazine von National Geographic. Vor allem Artikel über »primitive« Völker in fernen Ländern und über Jane Goodall, und ihre Schimpansen faszinierten mich. Die Zeitschrift brachte mich dazu, mich mit der Arbeit von Louis und Mary Leakey zu beschäftigen, die damals die Spuren unserer frühesten Vorfahren in Ostafrika entdeckten. Ich wäre so gerne dort gewesen, in der Olduvai-Schlucht, wollte ebenfalls über die kahlen Hügel laufen und nach Knochensplittern suchen. Ich wuchs im ländlichen Neuengland auf, doch mit dem Herzen war ich immer in irgendwelchen windgepeitschten Wüsten unterwegs.

1973 – ich war sechzehn Jahre alt – brachte mir ein aufmerksamer Berufsberater an der Highschool eine Broschüre von Educational Expeditions International (EEI) mit. Heute heißt diese Organisation Earth-watch, und sie vermittelt nach wie vor interessierte Freiwillige an Geologen, Biologen, Zoologen und Archäologen, die im Feld arbeiten. Das EEI vergab damals Stipendien an Schülerinnen und Schüler, die in den Sommerferien bei einem Forschungsprojekt mitarbeiten wollten. Ich bewarb mich, erhielt eine Zusage und wurde zu David Hurst Thomas geschickt, einem Archäologen des American Museum of Natural History, der später zu einem der bekanntesten Vertreter unseres Fachs avancierte. Das war ein großes Glück für mich. Hurst Thomas leitete damals die Ausgrabung einer Höhle in Nevada, und ich arbeitete danach noch mehrere Jahre mit ihm zusammen, bis ich als Doktorand mit meinem eigenen Feldprojekt begann. Später publizierten wir gemeinsam zwei Archäologie-Lehrbücher.

In den vergangenen vierzig Jahren habe ich in den westlichen Bundesstaaten und im Südosten der USA gegraben, in New York City (dort habe ich auf einer Ausgrabungsstätte an der Wall Street mitgearbeitet), in Maine und Kentucky. Ich war auf einer Inka-Stätte am Rande der Atacama-Wüste in Chile tätig, habe 13.000 Jahre alte Siedlungen von »Paläo-Indianern«, Plumpsklos aus dem 19. Jahrhundert, Grabstätten, Pueblos und Höhlen ausgegraben, in Wüsten, im Regenwald, am Meer und auf viertausend Meter hohen Berggipfeln. Und ich habe ethnografische Untersuchungen bei den Mikea durchgeführt, den letzten Jägern und Sammlern Madagaskars.

Bei allem, womit ich mich beschäftigt habe, sind immer wieder die Jäger und Sammler aufgetaucht. Ich gebe zu: Mein Interesse an ihnen war zu Beginn eher romantischer Natur. Menschen, die dermaßen einfach leben und die ihren Einfallsreichtum und ihre ganze Kraft dafür aufwenden, sich von dem zu ernähren, was die Natur ihnen bietet, und dabei in ihrer Umwelt kaum Spuren zu hinterlassen, haftet etwas sehr Authentisches an. Ich fand immer, dass die Lebensweise der Jäger und Sammler am ehesten dem entsprach, wie der Mensch eigentlich leben sollte: friedlich, in kleinen Gruppen und mit wenig materiellem Besitz.

Wie vieles, das wir als junge Menschen glauben, entsprach dies nicht ganz der Wahrheit: Jäger und Sammler können genauso gewalttätig und gebietsbewusst und materialistisch sein wie sesshafte Menschen auch. Ein junger Mann vom Stamm der Mikea bat mich, ihm ein »Flugzeug oder vielleicht einen Traktor« mitzubringen, ein anderer wollte mir alles abnehmen, was ich bei mir trug, sogar meinen Ehering. Jäger und Sammler jagten manche Tiere, bis die ganze Spezies ausgestorben war, andere veränderten die Vegetation ihrer Landschaft, indem sie sie regelmäßig niederbrannten. Als ein Mikea, mit dem ich unterwegs war, hinter uns die Savanne in Brand steckte, fragte ich ihn entgeistert, warum er das getan habe. Er sah mich überrascht an und antwortete: »Damit wir es auf dem Rückweg leichter haben.« (Er hatte recht.)

Die Menschheit hat 99 Prozent ihrer Zeit auf Erden als Jäger und Sammler zugebracht; es war eine enorm erfolgreiche Lebensweise. Man kann sich daher kaum mit den Jägern und Sammlern der Vor- und Frühgeschichte beschäftigen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie die Menschen damals lebten und wie die Spezies, der wir angehören, zu dem wurde, was sie ist. Insofern drängte sich für mich die Frage auf, warum wir überhaupt sesshaft wurden und warum wir später Städte bauten, Armeen aushoben, die Sklaverei erfanden und verschiedene Staatsformen entwickelten. Wenn das einfache Leben ohne große technologische Neuerungen, organisiert in kleinen egalitären, nomadischen Gruppen so lange so gut funktionierte, warum gab der Mensch es dann auf? Warum sind wir nicht heute noch Jäger und Sammler?

Archäologen machen es sich zur Lebensaufgabe, zu untersuchen, wie der Mensch früher einmal lebte. Für jemanden, der wie ich in diesem Buch über die Zukunft der Menschheit schreiben möchte, erscheint dies auf den ersten Blick ein wenig paradox. Doch ich will Ihnen zeigen, dass es der Archäologie nicht nur um die Toten geht, sondern immer auch um die Lebenden. Dass es ihr nicht nur um die Vergangenheit geht, sondern immer auch um die Zukunft.

Die Archäologie liefert einen entscheidenden Beitrag zur Aufzeichnung der Menschheitsgeschichte. Für den allergrößten Teil unserer Geschichte ist es der einzige Beitrag, den wir besitzen. Wenn Sie allerdings ein x-beliebiges Geschichtsbuch aufschlagen, wird die Vor- und Frühgeschichte höchstwahrscheinlich lediglich im ersten Kapitel, vielleicht auch nur in den ersten Absätzen des ersten Kapitels abgehandelt. In den Lehrbüchern beginnt die »eigentliche« Geschichte oft erst mit der ägyptischen, griechischen, römischen und chinesischen »Zivilisation«. Die Prähistorie ist dabei kaum mehr als ein Ausgangspunkt, ein Prolog: Da sind Affen, einige davon steigen herunter von den Bäumen und gehen aufrecht, ihr Gehirn wird größer, sie fertigen Steinwerkzeuge an, bemalen die Wände von Höhlen, bauen Weizen an – und dann kommen endlich die wichtigen Epochen der Geschichte. Doch wenn Historiker die Vor- und Frühgeschichte dermaßen in den Hintergrund drängen, gelingt es ihnen kaum noch, das große Ganze zu überblicken.

Bei Hyperbeln wie »Er ist der beste Fußballer aller Zeiten« oder »Dieser Film ist der größte Blockbuster, den es je gab« müssen viele Archäologen schmunzeln. Der moderne Fußball und die bewegten Bilder sind Erfindungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also gerade einmal 150 Jahre alt. Für einen Archäologen ist das kaum mehr als der sprichwörtliche Wimpernschlag. Wir denken eher in tausenden, zehntausenden oder hunderttausenden Jahren. Sicher, es ist nicht ganz einfach, sich solche zeitlichen Dimensionen vorzustellen. Doch wenn wir die wirklich bedeutenden Stationen in der Geschichte der Menschheit verstehen wollen, nicht die winzig kleinen Veränderungen, die die schriftlich bezeugte Geschichte dokumentieren, sondern die großen, alles verändernden Umwälzungen, so müssen wir die Geschichte der Menschheit in den größtmöglichen Dimensionen betrachten, und die bietet uns eben nur die Archäologie.

Doch was glauben Archäologen, warum die Menschheit diesen Kurs eingeschlagen und dabei mehrere Neuanfänge durchlaufen hat? Hier ein erster Hinweis: Es hat nichts mit Fortschritt zu tun. Die Evolution steuert nicht etwa auf eine Art Endziel hin, sondern versucht immer, uns in einer bestimmten Hinsicht zu Spitzenleistungen zu führen, und genau dadurch macht sie uns schließlich zu etwas ganz anderem. Zum Beispiel wurden die von mir so geschätzten Jäger und Sammler, indem sie versuchten, die besten Jäger und Sammler aller Zeiten zu sein, am Ende zu Landwirten. Und wir sollten damit rechnen, dass wir beim Versuch, die besten kapitalistischen und wettbewerbsorientierten Industrienationen aller Zeiten zu sein, plötzlich zu etwas völlig anderem werden. Um es kurz zu machen: Der Kapitalismus, die kulturelle Globalisierung und das internationale Wettrüsten werden zusammengenommen über kurz oder lang zu einem vollständigen Wandel in der Organisation des menschlichen Zusammenlebens führen. Dann wird man keine Kriege mehr führen, um Streitigkeiten beizulegen, und die heute so sakrosankte Organisations- bzw. Wirtschaftsform Nationalstaat und Kapitalismus werden einer Gemeinschaft der Weltbürger weichen. Es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

Kurz vor Mitternacht am 31. Dezember 1999 erwarteten die Menschen, dass eine Minute später das Chaos regieren würde, weil die Uhren der Computer das Jahr 2000 nicht erkennen würden (dass es in Peking oder Sydney bereits Neujahr war und dort überhaupt nichts geschehen war, fiel kaum ins Gewicht). Ältere Computer waren darauf ausgelegt, das Jahr nur mit den letzten zwei Ziffern anzuzeigen, sodass bei ihnen auf das Jahr 1999 automatisch das Jahr 1900 folgen würde, und man erwartete Fehlfunktionen bei Fluggesellschaften oder Banken. Aber das Ganze war ein Strohfeuer. Kein Flugzeug fiel vom Himmel, und auch das weltweite Finanzsystem brach nicht zusammen.

Diejenigen, die unbedingt glauben wollten, dass bald die Welt untergeht, sahen sich anderswo um und fanden bald heraus, dass die Überlieferung der Maya angeblich für den 21. Dezember 2012 den Weltuntergang prophezeite.

Da Sie gerade dieses Buch hier lesen, können Sie sicher sein, dass sich diese Prophezeiung nicht erfüllt hat. Aber man sollte auch nicht davon ausgehen, dass die Maya wie die Gallier ständig fürchteten, der Himmel würde ihnen auf den Kopf fallen. Die Maya beschäftigten sich viel mit Zeit und Zeitrechnung, und sie hatten verschiedene Kalender, die ihnen verrieten, wann ihr König bestimmte Zeremonien durchführen musste, um die Welt zu »erneuern« – Riten, bei denen oft sein Blut eine Rolle spielte (manchmal wurde ihm dabei mit einer Obsidianklinge in die Zunge geschnitten; man sieht: Es hat nicht nur Vorteile, König zu sein).

Die Weltuntergangspropheten interessierte vor allem ein ganz bestimmter Kalender der Maya, die sogenannte Lange Zählung. Die Lange Zählung zählt buchstäblich die Tage seit dem Beginn der Zeit bzw. dem, was die Maya als Beginn der Zeit betrachteten. Da die Maya für alles (so auch für den Beginn der Zeit) ein genaues Datum hatten, gelang es findigen Forschern schließlich, die Lange Zählung mit dem Gregorianischen Kalender abzugleichen und auszurechnen, wann für die Maya die Zeit und damit die Lange Zählung begann – am 11. August 3114 v. Chr. nämlich. Die Tageszählung erfolgte bei den Maya anhand eines speziellen Systems: in den Einheiten b’ak’tun (144.000 Tage), k’atun (7200 Tage), tun (360 Tage), uinal (20 Tage) und k’in (1 Tag). Bei Mayanisten sieht eine Datumsangabe daher folgendermaßen aus: 12.2.6.4.2 = 12 b’ak’tun (12 × 144.000 = 1 728.000 Tage), 2 k’atun (2 × 7200 = 14 400 Tage), 6 tun usw. Zählt man diese Zahlen zusammen, so erhält man die Anzahl der Tage, die seit dem 11. August 3114 v. Chr. vergangen sind. Mithilfe dieser Informationen sind Archäologen in der Lage, Ereignisse in der Geschichte der Maya mit bemerkenswerter Präzision zu datieren.

13.0.0.0.0 ist in der Langen Zählung der 21. Dezember 2012. Angehörigen einer Kultur, die die Zahl 13 stigmatisiert, erschien dies offenbar bedrohlich. Die Maya indes würde dieses Datum kaum beunruhigt haben (zwar galt die 13 bei ihnen als besondere Zahl, aber ebenso zum Beispiel die 20). Soweit wir wissen, haben sie dieses Datum nur zweimal erwähnt und beide Male in einem ganz und gar harmlosen Zusammenhang. Der Hype um den 21. Dezember 2012 hatte mit dem, was die Maya glaubten, rein gar nichts zu tun.2

Die Maya haben das Ende der Welt nicht vorhergesagt, aber viele andere Menschen schon. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen in den USA diverse Sekten auf, die behaupteten, die Wiederkehr Jesu Christi und die Apokalypse stünden unmittelbar bevor. Die größte mormonische Glaubensgemeinschaft, die »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage«, entstand in den 1820er-Jahren, genau wie eine Reihe Gemeinden freikirchlicher Utopisten wie New Harmony, Indiana (1825). Die Shaker (Eigenbezeichnung: »Vereinigung derer, die an die Wiederkunft Christi glauben«) wurden bereits Mitte des 18. Jahrhunderts in England gegründet, hatten aber um 1840 in den USA ihren größten Zulauf.

Solche Phänomene bezeichnen Anthropologen als »Revitalisierungsbewegungen«. Diese Bewegungen haben immer einen Propheten, der behauptet, das Ende der aktuellen Weltordnung stehe unmittelbar bevor; die Menschen seien vom rechten Weg abgekommen, und um die nahende Apokalypse zu überleben, müssten sie sich auf ihre Wurzeln besinnen, ein Prozess, der – seltsamerweise – fast immer neue religiöse Überzeugungen beinhaltet. Die Shaker zum Beispiel sahen im Geschlechtsverkehr die Wurzel allen Übels, aber da die Welt bald unterging, war er ja eh nicht mehr vonnöten. Und die Mormonen fügten der Bibel kurzerhand ein neues Kapitel hinzu, das beschreibt, wie der auferstandene Jesus in Amerika auftaucht.

Natürlich ging die Welt auch in den 1840er-Jahren nicht unter, aber das hielt die Menschen auch später nicht davon ab zu glauben, dass die Apokalypse unmittelbar bevorstand. Es kommt einem fast so vor, als glaube jede Generation aufs Neue, sie werde das Ende aller Tage erleben. Die aktuelle Runde der Weltuntergangsszenarien wurde 1987 von der Rockband R.E.M. eingeläutet, die sang: »It’s the end of the world as we know it / and I feel fine.« Aber nicht nur Rockstars glauben, die Welt gehe unter. Den Spruch »Das Ende ist nah« kennt man vor allem von Plakate tragenden Cartoonfiguren, doch ab Ende der Achtzigerjahre meldeten sich zahlreiche Autorinnen und Autoren zu Wort, die dieser Empfindung im Titel ihrer Bücher Rechnung trugen, sei es Bill McKibbens’ Das Ende der Natur (1990), Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte (1992) oder Jean-Marie Guéhennos Das Ende der Demokratie (1994). Dutzende Titel kündigten damals das Ende des einen oder anderen Aspekts unseres Lebens an.3

In den Neunzigerjahren war die Formulierung »Das Ende des/der …« in einem Buchtitel ganz eindeutig ein Marketing-Trick, der auf die Mystik des Jahrs 2000 abzielte, des Endes eines Jahrtausends. Auch wenn es sich nicht um religiöse Traktate handelt, sind solche Werke dennoch gewissermaßen »Endzeit«-Bücher. Und obgleich einige eher optimistisch in die Zukunft blicken (wer sehnt nicht das Ende von Rassismus, Armut, Krieg oder ganz allgemein der Politik herbei?), künden viele von anstehenden Tragödien, die wir selbst fabriziert haben und die unmittelbar bevorstehen, wenn wir nicht schleunigst Reformen in die Wege leiten, um diese fatalen Entwicklungen zu verhindern. Andere Autoren (wie Jared Diamond in Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen) vermeiden den Marketing-Gag mit dem »Ende der Welt«, weisen aber dennoch darauf hin, dass die Evolution für den Menschen etwas anderes vorgesehen habe als das Leben in den modernen Metropolen; dass unsere an Fett, Zucker und Kohlenhydraten reiche Ernährung ungesund für uns ist und dass wir heute in einem solchen Maße mit anderen Menschen kooperieren müssten, dass wir dazu gar nicht in der Lage sind. Der Biologe Edward O. Wilson warnt seit Jahren vor diesen Entwicklungen (zum Beispiel in Die Hälfte der Erde – Ein Planet kämpft um sein Leben).4 Ein kurzer Blick in die Sachbuch-Abteilung einer jeden Buchhandlung zeigt, dass viele Bestseller betont pessimistisch sind – und das aus gutem Grund.5

Trotz der bemerkenswerten technologischen Fortschritte, die wir in den vergangenen hundert Jahren gemacht haben, sorgen die täglichen negativen Schlagzeilen dafür, dass viele den Glauben an die Zukunft der Menschheit verlieren. Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore präsentierte in Die Zukunft – Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern eine Reihe miteinander verbundener Probleme, mit denen wir uns in Zukunft auseinandersetzen müssen, und auch Henry Kissinger warnte in Weltordnung vor einem bevorstehenden Chaos. In Reisen an die Grenzen der Menschheit – Wie die Zukunft aussehen wird sieht Robert Kaplan für einen Großteil Afrikas und Asiens, wo viele Länder von Krankheiten, gescheiterten Regierungen, Warlords, Verbrechen und Umweltzerstörung geplagt sind, wenig Anlass zur Hoffnung.6 Seit 1980 hat die soziale Ungleichheit sowohl innerhalb der meisten Länder als auch zwischen diesen Ländern dramatisch zugenommen. Oxfam schätzt, dass die reichsten 62 Personen der Welt heute zusammen genauso viel Geld besitzen wie die ärmsten 3,5 Milliarden Menschen auf der Welt.7 Und selbst wenn es 620 oder 6200 wären: Die Statistik wäre nicht weniger alarmierend.8

Und das ist längst nicht alles. Elizabeth Kolbert (Das sechste Sterben – Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt), Naomi Klein (Die Entscheidung – Kapitalismus vs. Klima), Gaia Vince (Am achten Tag – Eine Reise in das Zeitalter des Menschen), Alan Weisman (Countdown – Hat die Erde eine Zukunft?), Julian Cribb (The Coming Famine) und Naomi Oreskes und Erik M. Conway (Vom Ende der Welt – Chronik eines angekündigten Untergangs) erwarten allesamt, dass uns Bevölkerungswachstum und Klimawandel fürchterliche Probleme bereiten werden. Tatsächlich sieht es so aus, als hätten wir den Rubikon des Klimawandels bereits überschritten und könnten nur noch hoffen, seine Auswirkungen ein wenig zu lindern.9 Die Weltbevölkerung, die momentan über siebeneinhalb Milliarden zählt, dürfte bis Ende des Jahrhunderts auf zehn bis elf Milliarden anwachsen – und das, obwohl einige Demografen schätzen, dass gerade einmal anderthalb Milliarden Menschen dauerhaft mit minimalen Auswirkungen auf die Umwelt so leben können, wie die »erste Welt« es derzeit tut.10 Irgendjemand wird das Nachsehen haben.

Leider bezweifeln die meisten dieser Autorinnen und Autoren, dass wir den gemeinsamen Willen aufbringen werden, die erforderlichen Lösungen so schnell umzusetzen, wie es nötig wäre. Stattdessen glauben sie, dass unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme dafür sorgen werden, dass nur eine kombinierte ökologische, demografische, wirtschaftliche und politische Katastrophe echte Veränderungen bewirken wird.

Es gibt aber auch optimistischere Stimmen. Dazu zählen Robert Wright (Non-Zero – The Logic of Human Destiny), Matt Ridley (Wenn Ideen Sex haben – Wie Fortschritt entsteht und Wohlstand vermehrt wird), Steven Pinker (Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit), Charles Kenny (Getting Better), Joshua Goldstein (Winning the War on War) und Angus Deaton (Der große Ausbruch – Von Armut und Wohlstand der Nationen). Sie weisen darauf hin, dass es noch weitere Statistiken gibt: Alle Formen von Gewalt gehen immer mehr zurück (auch wenn uns unsere Wahrnehmung das Gegenteil weismachen will). Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln verbessert sich (auch wenn zugleich Mangelernährung und Fettleibigkeit grassieren). Die Kindersterblichkeit ist im vergangenen Jahrhundert drastisch gesunken und die allgemeine Lebenserwartung um 50 Prozent gestiegen. Seit 1980 ist der Anteil der Weltbevölkerung, der nur 1 US-Dollar pro Tag zum Leben hat, von 42 auf 14 Prozent gesunken. Die Medizin hat erstaunliche Fortschritte verzeichnet, und die Bewohner der entwickelten Länder leben rund dreißig Jahre länger. Die Globalisierung öffnet den Menschen mehr Chancen als je zuvor. Das Internet hat den Gedankenaustausch zwischen Menschen rund um die Erde möglich gemacht, und dies schafft eine Menge an Wissen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Die eine bemerkenswerte Fähigkeit unserer Spezies, die Klugheit, gibt Diane Ackerman in ihrem Buch The Human Age Anlass zur Hoffnung, dass wir die Umweltprobleme lösen werden. Auch wenn wir noch einen weiten Weg vor uns haben, gibt es doch zumindest einige Indikatoren, die zeigen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen.11

Die Vor- und Frühgeschichte lehrt uns, dass der Mensch erstaunlich gut darin ist, Probleme zu lösen, und dass die Evolution uns immer wieder dazu gebracht hat, uns neu zu erfinden. Natürlich ist, wie ein Börsenmakler beteuern würde, die Wertentwicklung der Vergangenheit kein verlässlicher Indikator für zukünftige Ergebnisse. Mag sein, dass wir wirklich zum Untergang verdammt sind. Aber als Prähistoriker weiß ich, dass dies nicht unbedingt der Fall sein muss. Vielleicht werden wir das Ruder noch herumreißen.

Doch bevor wir uns mit der Zukunft beschäftigen können, müssen wir die Vergangenheit unter die Lupe nehmen. Und bevor wir das tun, will ich mich ein wenig damit beschäftigen, wie Archäologen denken, um zu demonstrieren, wie sie die bedeutenden Umbrüche der Menschheit erkennen, die immer wieder aufs Neue das Ende unserer Welt markiert haben.

Warum es normal ist, dass die Welt untergeht

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