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Narben

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13.06.1938

Die beiden Arbeiter schliefen, als würden sie Kraft für die nächsten Wochen sammeln. Mischa beobachtete gedankenverloren ihre ausgestreckten Gliedmaßen, die unbequem über den Sitzbänken hingen. Und immer wieder schaute er aus dem Fenster in den Morgen, der ihm schon kühler vorkam als die letzte Nacht. Seit Stunden war er wach, mittlerweile länger als er geschlafen hatte, und wartete auf ein Zeichen der Natur, dass er tatsächlich in das gefürchtete Sibirien unterwegs war. Aber nichts. Keine Veränderungen. Nur die ewig grünen Nadelwälder seiner Kindheit, Jugend und der Armeejahre zogen dort draußen vorbei. Ab und an, wenn sich das Schienengeräusch änderte, meist wenn sie eine Brücke über einen Fluss nahmen, der sich nach einigen Kilometern schlängelnd in den Weiten der Bäume verlor, atmete er tief ein, blinzelte kräftig und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Doch bisher misslang es ihm.

Bei dem Zug handelte es sich um ein älteres Modell. Das Baujahr mochte rund um die Jahrhundertwende liegen, schätzte der Brigadeführer. Vielleicht hatte es mit fünfunddreißig Jahren sogar genau sein eigenes Alter. Es war ein rostiges, grün angepinseltes Ungetüm mit ausgeblichenen Vorhängen, die im Wind zappelten. Es fehlten die meisten Fenster wie auch der Großteil an Bankreihen, die wahrscheinlich ausgebaut worden waren, um Proviant zu transportieren und, so nahm er an, um bei der Fahrt zurück zusätzlichen Stauraum zur Verfügung zu haben. Einige größere Holzkisten standen gestapelt an den Enden seines Wagons und ächzten bei den vielen Unebenheiten der Strecke.

Jetzt entschied sich der Brigadeführer, Protokollant zu sein. Er streckte sich geräuschvoll, öffnete den Koffer, der ihm gegenüber auf der Sitzreihe lag und griff sich einen Stapel Papier. Gerade war ihm eingefallen, was ein guter Beginn der Aufzeichnungen sein würde. Er war stolz auf den eleganten Generals-Federhalter, den er im Koffer bei seiner neuen Uniform gefunden hatte. Er zog den Korken aus dem Tintenfass und tunkte die Feder in das Schwarz, welche ihm nun wie ein Schnabel der fetten Krähen Dmitrows vorkam, die er als Junge so gerne beobachtet hatte.

--- Erster Bericht ---

Ich frage mich, klingt so jede Fahrt nach Sibirien? Riecht der Weg nach Nord-Osten immer gleich? Neben mir knarren die Proviantkisten, um mich herum quietscht das Metall des Zuges. Die beiden Arbeiter, die man mir zur Verfügung gestellt hat, die noch Fremde sind, schnarchen. Im Geruch, der mir an die Nase weht, erkenne ich die Wälder, aber auch Kohle und Rost. Das Triebfahrzeug ist ein Baldwin, alt und verlässlich. Die wenigen Wagons dahinter scheinen mir bunt zusammengewürfelt, aber alle kurz vor dem Ruhestand, oder aus eben dem geholt.Ich vermute, dass ein Krieg bevorsteht und hoffe, dass er weiterhin nicht ausgebrochen sein wird, wenn ich wiederkehre. Dies könnte jedenfalls den Zustand des Zuges und den Umstand erklären, dass die Schienen vom Bahnhof bis einige Kilometer aus der Stadt heraus entfernt worden waren, als ich an der Eisenbahn eintraf. Man sichert die Grenze, mit allem, was das Innenland zu geben im Stande ist.Angehalten wurde ich, Namen von Orten und Menschen, die mir im Laufe dieser Operation begegnen, zu anonymisieren. Ich werde mich selbst darum als Brigadeführer einsetzen.Ich muss zugeben, ich bin gespalten. Das Amt eines Protokollanten -- und kaum etwas anderes werde ich in Sibirien sein können -- fühlt sich wie eine Degradierung an, der ich rein von meiner Ausbildung nicht einmal voll und ganz gewachsen scheine. Die Graduierung zum Brigadeführer hingegen hätte ich mir nicht träumen lassen, mag sie auch verdient sein, rückblickend. Nur verstehe ich den Zeitpunkt nicht. Nach meiner Verletzung war dies wohl der unwahrscheinlichste Karriereweg, den mir die Rote Armee anbieten konnte. Ich freue mich allerdings über das Vertrauen und die künftig neuen Aufgaben, die mir übertragen wurden.Dieser Morgen beschreibt den ersten Tag einer mit rund fünfzig Stunden angesetzten Fahrt in den hohen Norden. Mir obliegt die Leitung zur Schließung des dortigen Außenpostens. Mit Spannung erwarte ich vor allem die Parana aus nächster Nähe betrachten, in die Hand nehmen und natürlich probieren zu können. Ich bin gespannt, wie sie schmeckt. Wann bietet sich einem schon solch eine Gelegenheit? Die Einweisung in der Zentrale war kurz, Fragen waren mir kaum gestattet und die Frucht wurde nur beiläufig erwähnt. Auf den Märkten Moskaus ist sie mir jedenfalls bisher nicht untergekommen. Mütterchen Russland verblüfft mich nach all diesen Jahren weiter mit ihren Schätzen! Wohl noch größer ist jedoch mein Interesse am Lebensalltag der Nenzen, denen ich hoffentlich ebenso während meines Aufenthaltes begegnen werde. Neben dem Rückbau des Forschungs- und Kultivierungsstandortes ist es auch an mir, die Zusammenarbeit mit dieser indigenen Volksschar zu beenden -- vielleicht ja nur vorerst -- und alle Erkenntnisse aus der einjährigen Arbeit sicher zurückzubringen. Mir wurde gesagt, ein Übersetzer im Lager steht mir für dieses Unterfangen bereit. Ich freue mich auf meine Genossen vor Ort und ihre Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr Sibirien.Ich wurde zudem befehligt, über die Situation im Außenposten Bericht zu führen. Sicher ist mein Blick als Unbeleckter von Wert. Ich werde versuchen auf die Organisation des Camps einzugehen und im Rahmen meines beschränkten landwirtschaftlichen Wissens auch Details über die Kultivierungsprozesse der Parana-Frucht zu Protokoll zu geben. Es wird politisch ruhigere Zeiten geben, in denen meine Aufzeichnungen von Wert sein werden, dessen bin ich mir sicher. Mischa überflog seine geschriebenen Zeilen noch mehrfach mit krauser Stirn. Dann verstaute er seine Schreibutensilien im Koffer, ließ die Krücke liegen und humpelte an den Schlafenden vorbei in den zweiten Personenwagen. Aus den Säcken, die ähnlich müde wie seine Mitfahrer auf den Sitzen lagen, roch es nach Weizen, bei den größeren meinte er in den Beulen im derben Stoff Kartoffeln zu erkennen. Zum Wagenende hin, wo es weder Bänke noch Tische gab, standen einige schwere Holzfässer, aus denen ein salziger Geruch gepökeltes Fleisch vermuten ließ. Doch was er eigentlich suchte, war eine Toilette. Am Ende des Abteils war Schluss für ihn. Ein ovaler Benzintank war den beiden Passagierwagons angehängt. Wie er annahm, wurden damit die Generatoren im Lager betrieben. So hielt er sich am Geländer fest und urinierte vom Zug auf die Holzschwellen der Schienen sowie auf die Räder des Tankwagens. Ein Gefühl von Freiheit umwehte ihn. Mischa hatte die Natur seines Landes, diese Grenzenlosigkeit, die einen nur melancholisch machen konnte, schon immer von ganzem Herzen genossen. Und Eisenbahnfahren, das war trotz des geringen Komforts seit jeher ein Konstrukt aus Eroberungsgeist, technischem Fortschritt und Romantik. Er ließ den Blick schweifen und als er sich zur Lok drehte, nickten ihm zwei grinsende Gesichter von der Plattform am anderen Ende des Schlafwagens zu. Auch sie ließen Wasser. Fremde, dachte er und winkte mit der Hand, die er entbehren konnte, das waren sie nun wohl nicht mehr. Kaum kam er wieder in Bewegung, als Kommandeur galt es die Männer nun anständig zu begrüßen, da schoss die Scham zurück in seinen Kopf. Es war das dumpfe Gefühl aus seinem rechten Knie, diese verdammte Bürde!, die nicht müde wurde, ihn an seine neue Realität zu erinnern. Er würde bei den körperlich schweren Arbeiten, die in den kommenden Tagen unweigerlich von der ganzen Brigade geleistet werden mussten, kaum eine Hilfe sein. Das wog schwer auf seinem Herzen, strotzte er doch vor Monaten noch vor Kraft. Er würde umdenken müssen, wenn er schon selbst nicht mit gutem Beispiel vorangehen konnte. Bei seinen wenigen Einsätzen vor der Graduierung hatte er sich den Ruf eines Vorbilds und unter Gleichrangigen eines Strebers, wenn auch eines beliebten Strebers, verdient gemacht. Auf beides war er stolz. Doch das Feuer zu bändigen, welches nach wie vor in ihm loderte, und seinem neuen Posten getreu zu verwerten, fiel ihm mächtig schwer, hatte er doch immer nur Soldat sein wollen. Er war in bescheidenen Umständen bei seiner Mutter aufgewachsen, hatte früh mit anpacken müssen, und daraus den Grundsatz entwickelt, dass man von anderen nur etwas fordern konnte, was man auch selbst zu leisten im Stande war. Das abzulegen, widerstrebte ihm zu tiefst und ständig schlichen sich alte Gewohnheiten zurück in seinen Alltag – meist mit demütigenden Auswirkungen. So war er aus dem Stand gestürzt, vor seinen Vorgesetzten, weil er lospreschte, den Befehl sofort erledigen wollte, und das unbewegliche Bein schlicht vergessen hatte. Wenn er bei seiner ersten, eigenen Brigade nicht nur als Protokollant sondern als Brigadeführer wahrgenommen werden wollte, musste er das richtige Mittelmaß finden. Und diese Operation begann, wenn er sich den beiden Männern vorstellte. Sein Makel zeigte sich zu offensichtlich, also war es sinnlos, ihn zu ignorieren. Humor würde helfen. Wodka half immer, das hatte er im Vorfeld geplant und die zugeteilte Ration verdoppeln lassen. Seit seiner Vereidigung in der Roten Armee hatte er sich rasch als Führungsperson hervorgetan und zwischen den Genossen in der Brigade und den leitenden Kommandeuren als Bindestück gedient. Dieser Kurs lag ihm und so wollte er es weiterführen. Ihm war es wichtig, kollegial zu agieren, immer ein offenes Ohr für seine Männer zu haben und trotzdem Respekt und Distanz zu wahren. Ein General konnte eben nur bei jedem zweiten, dreckigen Witz mitlachen. Zu schnell verwässerte man sonst seine Autorität im Kreise der Brigade. Während Mischa den Passagierwagon durchquerte, legte er sich darum die Worte für den Empfang seiner Arbeiter zurecht. »Genossen!«, sagte der Brigadeführer, das geübte Lächeln im Gesicht, und reichte dem Vorderen die Hand zum Gruß. »Ich hatte schon befürchtet, außer ihres Schnarchens gar nichts mehr von ihnen zu hören.« Schwer zu deutende Mienen schauten zurück. Seine Hand hing in der Luft. Mit ruppiger Geste zeigte der Ältere in Höhe der Stimmbänder erst auf seinen Hals, dann auf den des anderen und formte mit den Lippen stumm das Wort »Nicht«. Und jetzt sah der Brigadeführer es auch – das Narbengewebe und wie es sich unter den khakifarbenen Armeehemden der Männer bis zum Kinn spannte. Er schluckte. Im dunklen Wagon hatte er es nicht bemerkt, doch hier auf der Übergangsplattform zwischen den Wagen war es kaum zu übersehen. Wie eine Vulkanlandschaft prangten die hellen Male in der Haut. »Feuer?«, fragte er steif und erntete ein Blinzeln und ein kurzes zu Boden blicken anstelle eines Kopfschüttelns. Doch wenn Hitze diese Wunden nicht verursacht hatte, blieb seines Wissens nur eine Möglichkeit übrig. Und überrumpelt wie Mischa war, stellte er diese Erkenntnis trotzdem als Frage: »Dann hat Säure Ihnen das angetan?« Das klang nun, als würde es sich bei Säure um eine Person handeln, ging es ihm durch den Kopf, kaum dass die Worte seinen Mund verlassen hatten. Mischa kam sich bescheuert vor. Schweiß bildete sich auf seiner Oberlippe. Als Antwort nickten die beiden Arbeiter kurz und hart. Unter ihnen pochte der monotone Herzschlag der Schienen. Der Mund des Brigadeführers verbitterte sich. Schrecklich, dachte er und hatte tausende Fragen. Was um Himmels willen war den Männern zugestoßen? Wieso war er davon nicht in Kenntnis gesetzt worden? Und wie sollte er mit dieser Situation bloß umgehen? Da griff der kleinere Arbeiter endlich seine Hand, lächelte wenig zahnreich und machte Platz für seinen Kollegen, der seine Rechte zum militärischen Gruß an die Schläfe hob. Gut sichtbar für die Männer atmete Mischa durch und zeigte mit dem Kopf in Richtung des Personenwagens. »Geht Wodka?« Er musste jetzt dringend etwas richtigmachen. Die Arbeiter lachten, einer tiefer, aber beide kehlig, und schulterten ein »Ja, warum nicht?«. Der Ältere mit den ergrauten Haaren klopfte dazu den gestickten Stern auf seiner Brust. Drinnen wies er seinen Brigadeführer an, ihm Schreibzeug zu geben. Mischa öffnete seinen Koffer und suchte Papier und Bleistift heraus. Er spitzte ihn eilig für den Mann, wischte sich die Holzspäne von den Hosenbeinen und reichte ihm die Sachen rüber. KomBrig, wären wir hier, wenn wir kein’ Wodka mehr trinken könnten? Bin Alexej, der da Iwan. Aber er hat nie Schreiben gelernt. Bring’s ihm bei. Aber er ist mehr stark als schlau. Und ist schwierig ohne Stimme.Als die beiden begannen ihre Sitzreihen freizuräumen, wurde Mischa bewusst, dass er als einziger im Besitz einer Decke war. Sie hatte ihm in der vergangenen Nacht wenigstens etwas den Fahrtwind vom Körper ferngehalten. Ja, womöglich hätte er sonst überhaupt kein Auge zu bekommen. Doch nur ihm als Brigadeführer so etwas hinzulegen, während seine Unterstellten sich mit ihren Jacken und Hemden bedecken mussten, fand Mischa unmöglich. Er hatte Mitleid mit seinen Genossen, als er sah, wie sie ihre zerschlissenen Kleider zurück in eben solche Säcke stopften, welche im anderen Wagon Lebensmittel fassten. Wieder griff er nach den Metall-Schnallen seines Koffers. Er entschied sich den neuen Bekanntschaften eine Flasche Alkohol aus eigenem Vorrat zu spendieren. Auch in der Hoffnung damit wenigstens ein Stück weit den misslungen Einstand auf der Plattform wettzumachen.

Komandir brigady

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