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Tod oder Ehre
Оглавление13.06.1938
Eigentlich sollte Mischa dem Regen dankbar sein, der durch die fehlenden Fensterscheiben in den Zug spuckte und ihn in den Speisewagen vertrieben hatte. Womöglich hätte er sonst noch weiter gespielt, vielleicht sogar den Einsatz erhöht und die Verluste weiter gesteigert. Zwanzig Rubel hatte sein Unterstellter ihm abgenommen – fast ein halbes Sold –, immer mit dem Achselzucken und dem selbstgefälligen Grinsen, obwohl Mischa darauf bestand, die Steine selbst zu mischen und Iwan, den er erst verdächtigte, sich dem improvisierten Spieltisch ferngehalten und in den beiden Wagons nach Essbarem gesucht hatte. Er war Alexej, der in seinen Gedanken nur noch »Der Dieb« hieß, nicht auf die Schliche gekommen und das ärgerte ihn maßlos. Seine aktuelle Vermutung war, dass der Doppel-Sechs-Satz gefälscht war, dass vielleicht nur zwei oder drei Steine anders bedruckt waren. Aber wieso waren ihm dann in keinem der Spiele doppelte oder fehlende Steine aufgefallen? Oder war er einfach nur zu betrunken und unaufmerksam gewesen, um die Schieberei zu enttarnen? Jetzt, wo ihn der feuchte Wind abkühlte, der durch die Wagen zog, und seinen Körper über und über mit Regentropfen bestrich, war er nicht mehr darauf aus, weitere Runden gegen diesen Dieb zu spielen. Er sah ein, dass er nicht gewinnen konnte. Nicht, wenn es um Geld ging. Nicht, wenn es darauf ankam.
Er wischte sich mit der Hand die Nässe aus dem Gesicht und drückte sich enger an die Fässer mit dem gepökelten Fleisch. Der Brigadeführer saß auf dem Boden und hatte sich hinter den Vorräten verschanzt, sodass einzig die Stiefel auf den Gang herausragten und das Wetter nur von oben auf ihn fiel. In seinem Schoß lagen zwei Äpfel und eine Handvoll Würste. Mehr hatten sie nicht entdeckt, was ohne Hitze oder Gerätschaften essbar war. Der Regen trommelte gegen die Seiten des Zuges. Mischa fühlte sich elend. Diese ersten paar Stunden mit großer Verantwortung waren desaströs verlaufen: Die fehlenden Schienen, der uralte Zug und die zwielichtigen Männer unter seinem Kommando, vor denen er bisher kein führungsstarkes Bild abgegeben hatte. Hinzu kam die Aussicht auf wenig Essen in den nächsten Tagen und dieses verfluchte Wetter zu allem Überfluss! Auf was für eine Operation hatten sie ihn hier geschickt? Er steckte sich eine der Würste in den Mund und kaute erschöpft. Er erinnerte sich an Lieder, die ihm seine Mutter als Kind vorgesungen hatte und es spendete ihm etwas Wärme, wenn er sich vorstellte, wie ihre lockigen Haare damals auf den Schultern wippten, während die Hände auf den schwarzen und weißen Tasten des heimischen Klaviers auf und ab tanzten und sie es zusätzlich vollbrachte, die Pedale zu ihren Füßen im richtigen Moment zu bedienen. Drei Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen und in ihren Briefen schrieb sie zwar immer wieder, dass es ihr gut ginge, ein Besuch von ihm aber trotzdem das schönste Geschenk wäre. Und weil ihm dieses Thema einen Kloß in den Hals setzte, nahm er sich erneut vor, sie endlich einmal zu besuchen – wenn es sich einrichten ließ, im Anschluss an diese Operation – und schob die Gedanken fort. In seinem Kopf fand er nun den Geruch der feuchten Erde des Dmitrower Sportplatzes. Auf dem hatte er sich abgemüht, in lächerlichen Disziplinen, die er aus der Schule kannte, um für die Armee einsatzbereit zu sein, da war er noch keine zehn Jahre alt. Und dann dieser stolze Moment der Vereidigung in Moskau, den er sein Leben lang herbeigesehnt hatte! All die wehenden Flaggen an den Fahnenmasten, egal wohin man schaute, und die Salutschüsse in die frische Mailuft. Und immer wieder dachte er an seinen stolzen, vaterlandstreuen Vater, der unter Stabshauptmann Alexander Kasakow bei Luzk in einem der Jagdflieger gesessen und so heldenhaft ein österreichisch-ungarisches Flugzeug gerammt und zum Absturz gebracht hatte. Fliegerstaffel 19, so lernte man im Geschichtsunterricht sowjetischer Schulen, war die erfolgreichste Fliegereinheit auf russischer Seite im Ersten Weltkrieg an der Ostfront. Und sein Vater war einer von ihnen.
Die Männer in den Morane Eindeckern waren gefürchtet. Sie saßen in schmalen, französischen Fabrikaten, da die Flugzeugproduktion der Kaiserlich Russischen Armee im Vergleich zu den anderen Kriegsmächten kaum im Stande war, eigene Flieger in ausreichender Anzahl und Qualität zur Verfügung zu stellen. Sahen ihre Gegner die wendigen Maschinen mit den schwarz-weißen Totenköpfen auf dem Rumpf vor oder hinter sich durch die Wolken brechen, wussten sie, dass es um sie geschehen war. Die Kugeln der Maschinengewehre pfiffen durch die Luft und zerrissen ihre Tragflächen. Zusätzlich schossen die sowjetischen Piloten, wenn sie auf wenige Meter herangekommen waren, mit Handfeuerwaffen aus dem Cockpit der offenen Flieger auf die Propeller oder Körper ihrer Feinde und schrien dabei »Tod oder Ehre!«, sodass es den Empfängern ihrer Patronen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hatten es die Soldaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie dennoch geschafft in hektischen Manövern den Kugeln zu entgehen oder saßen schlicht in besseren Maschinen, entschieden sich die Piloten der russischen Armee auf eine letzte Attacke und warfen sich mit ihren Flugzeugen in die ihrer Gegner.
Schon oft hatte Mischa sich das Szenario ausgemalt, in dem sein Vater so ruhmreich gefallen war. Es hatte ihn stark werden lassen. Immer wenn er die unsichere, weiche Veranlagung seiner Mutter in sich zutage treten spürte, dachte er an den entschlossenen Blick seines Vaters, bevor er in das Cockpit des Feindes knallte. Das machte ihm bewusst, wie viel besser es ihm ging. Wie er auf festem Boden stand, umgeben von Technik und Ausrüstung, die ausgereifter war als alles, was sein Vater jemals besessen hatte, in seiner hakeligen, zum Kriegsflugzeug umgerüsteten Sportmaschine, und dass er einem Feind nie selbst Auge-um-Auge entgegen gestanden war. Ihm hatten die Umstände die Zeit gegeben, in drei Jahren eine Ausbildung zum Unterleutnant zu absolvieren, um sich auf einen Krieg vorzubereiten, der bisher nur eine Möglichkeit war. Sein Vater, der nie zuvor in einem Flugzeug gesessen hatte, war aus reiner Überzeugung an die Front gezogen und nach wenigen Wochen bereits aufgestiegen, um den Himmel des Russischen Kaiserreichs vor den Kriegstreibern Europas zu schützen.
Und ich?, dachte Mischa. Ich lasse mich anschießen von einem Gefreiten in der Grundausbildung und sitze in einem Zug auf einer ungefährlichen Mission als einer der jüngsten Brigadeführer und bemitleide mich selbst wegen eines Regenschauers und zwei Rumtreibern, die ich für mich Holz und Steine schleppen lassen werde. Er schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel – Schluss jetzt damit! –, doch weil es nichts zu tun oder zu befehligen gab, blieb er sitzen und biss entschlossen in einen Apfel.
Nach einer Weile kam Iwan in den Wagon. Er trug sein Haupt so kurz rasiert wie Mischa, doch saß eine Insel längerer blonder Haare über seiner Stirn, was bescheuert aussah und ihm dank des Wetters strähnig im Gesicht klebte. Der Arbeiter, nur mit einer Unterhose bekleidet, weil der Rest durchnässt war, hatte ein Stück Käse in der Hand, obwohl diese Bezeichnung den Ausmaßen spottete. Es mochte das Fünftel eines Laibs sein. Selbst in den Pranken des Mannes wirkte es groß.
Nachdem er fast über das steif-ausgestreckte Bein seines Kommandeurs gestolpert war, hielt er ihm nun das hellgelbe Stück entgegen und sah ihn auffordernd an. Sein Körper war ein vergessenes Schlachtfeld mit all den Narben, die sich darüber spannten.
»Oh, Sie haben Käse gefunden?«, entgegnete Mischa, um nicht zu schweigen. Dass er etwas so Offensichtliches fragte, kam ihm dumm vor, aber der Hüne war ein dankbarer Abnehmer. Er nickte eifrig, wie er sich zu Mischa herunterbeugte und ein Lächeln zwischen seine hängenden Wangen stellte.
Mischa winkte ab, deutlicher als er musste – aus irgendeinem Grund zwang ihm die Stummheit der Männer selbst ein verstärktes Gestenspiel auf. »Danke, danke. Aber das ist zu viel, Genosse. Damit können wir ja die ganze Brigade durchfüttern.«
Iwan zog die Hand zurück, biss ein großes Stück aus der Mitte und schob es seinem Brigadeführer dann erneut zu. Mischa nahm an – was sollte er auch tun? – und der Arbeiter verschwand zu seiner Linken.
Amüsiert, wie er dort saß – mit dem Käsestück in den Händen, dessen Gewicht er versuchte abzuschätzen –, stieß der Brigadeführer Luft durch die Nase und ein Schwall Regenwasser stob zu Boden. Er beobachtete eine Spinne, die ihm gegenüber in einem Netz flatterte, welches sie in der rostigen Gepäckablage an einem ruhigeren Tag gesponnen hatte. Und so unangenehm die Umstände auch waren, Mischa schlief ein, den Rücken an den Holzfässern, den Käse im Schoß.
Als er aufwachte, war das nasse Grau aus dem Zug gezogen und draußen in den sowjetischen Wäldern hatte die zurückgelegte Strecke ein paar Bäume aus der vorher so dichten Natur gestohlen.
Der Brigadeführer hatte sich hochgehievt und angeekelt festgestellt, dass die Rückseite seiner Uniform noch triefend nass war. Jetzt zog er sie aus und hängte sie über die Gepäckgitter, die keine Spur mehr von der Spinne zeigten. Er stellte sich ans Fenster und strich sich über die ersten Stoppeln seines Hinterkopfes. Tatsächlich! Draußen begann die Transformation. Die Ebenen wurden flacher, die Nadelhölzer die den Horizont säumten, bekamen Zahnausfall und die weißen Berge im fernen Norden traten langsam hervor. Zwischen die baumfreien Flecken hatten sich Gräser und kümmerliche Büsche in Grün- und Brauntönen gesetzt. Sprenkel von Wasserflächen tauchten vermehrt auf. Es waren die ersten Anzeichen des Permafrosts, der Sibirien seit Anbeginn der Zeit in der Hand hielt und die Böden im Sommer schlammig werden ließ. Große Wolkendecken lagen schlafend darüber, nur er schien sich zu bewegen, nur sein Herz schien in diesem Moment zu schlagen. Das gleichförmige Abrackern der Eisenbahn hatte Mischa bereits in den Hintergrund gestellt.
Er stand so nah am offenen Fenster, dass er den Rahmen nicht wahrnahm. Nichts vom Zug sah er. Der Brigadeführer setzte den Blick seines Vaters auf, den er früher im Spiegel geübt hatte und starrte in die Ferne, die sich so kaum zu erfassen und doch unweigerlich veränderte, die härter und kühler wurde, und er mit ihr.