Читать книгу Die beste Zeit ist genau jetzt - Robin Lang - Страница 5
3 Montag, 12. September 2016
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Meine letzten Tage „in Freiheit“ begannen, am 15. sollte ich zum ersten Mal mit in die Firma kommen. Sue und Nate waren früh zur Firma gefahren und ich hatte mir mehrere Termine für heute vorgenommen.
Zuerst hatte ich eine Verabredung mit einem Makler, denn alleine würde ich wohl kaum eine geeignete Wohnung für mich finden.
Dann hatte ich vor, mich in dem Schwimmbad umzuschauen, das ich gestern auf meinem Streifzug gefunden hatte. Von außen hatte ich gesehen, dass es mit Familien und Schwimmwütigen gut besucht war. Aber eindeutig zu voll, um ein Gespräch zu führen.
Nachdem ich alle nötigen Dinge in meinen Rucksack gestopft und für den Fall der Fälle meine Schwimmtasche im Kofferraum verstaut hatte, machte ich mich auf den Weg zum Makler.
Bei ihm handelte es sich um eine „sie“, sie war gut 20 Jahre älter als ich. Ich hatte ihr Büro übers Internet gefunden, ihre Homepage hatte mich direkt angesprochen. Sie hatte unter anderem darauf hingewiesen, dass sie auch speziell barrierefreie Wohnungen im Programm hätten.
Sie empfing mich in ihrem Büro und bot mir einen Kaffee an.
„Guten Tag, Frau Thoma. Nach Ihrem Anruf habe ich mich ein bisschen umgehört, ob ich etwas Geeignetes für Sie finden kann. Lassen Sie mich zusammenfassen – am liebsten wäre Ihnen eine barrierefreie Wohnung im EG, Garten nicht nötig, aber eine Terrasse wäre okay? Eventuell mit späterer Kaufoption, drei Zimmer, am liebsten die Küche separat. Richtig? Gut, ich muss gestehen, die Auswahl ist natürlich nicht riesig. Dennoch habe ich zwei interessante Angebote für Sie zusammengestellt. Die beiden Objekte liegen recht zentral, wenn man den Standort Ihrer Arbeitsstelle in Betracht zieht. Sie sagten, dass eine Arbeitgeberbescheinigung für Sie auch kein Problem sei? Gut, gut. Wenn Sie mögen, könnten wir uns beide Objekte gleich heute Vormittag ansehen. Sie klangen so, als wären Sie daran interessiert, diese Dinge schnell abzuwickeln?“
Wow, mit dem Tempo dieser Frau hatte ich nicht gerechnet. Aber die beste Zeit für alles im Leben war genau jetzt. Und so stand ich keine 20 Minuten später in der ersten Wohnung. Sie hatte ein Zimmer zu wenig (also zwei) und war recht dunkel. Außerdem roch es unangenehm, so als hätte der Vormieter in irgendeiner Ecke etwas hinterlassen.
Die zweite Wohnung war schon besser, aber auch nicht das, was ich suchte oder mir vorgestellt hatte. Ich hatte zwar noch nie alleine gewohnt, aber meine Vorstellungen waren recht klar. So dankte ich meiner Maklerin und erbat mir für die zweite Wohnung Bedenkzeit, die erste schloss ich sofort aus. Im Gegenzug versprach sie mir, sich noch mal umzuhören, ob sie nicht noch etwas Passenderes finden konnte.
Nach unseren Besichtigungen machte ich mich auf den Weg zur Schwimmhalle. Einen Aufzug hatten sie schon mal, das war gut.
Es war ein eher altmodisches Bad, denn statt eines unpersönlichen Kassenautomaten saß eine ältere Dame in einem Kassenhäuschen und strickte – Montag Vormittag war wohl nicht so die Zeit mit den meisten Besuchern.
Ich erklärte ihr kurz mein Anliegen, aber da sie mir nicht weiterhelfen konnte, holte sie schnell einen der beiden Schwimmmeister, die Dienst hatten.
Keine fünf Minuten später kam ein relativ junger Mann in typischer weißer Bekleidung um die Ecke und begrüßte mich freundlich.
„Hi, ich bin Dennis. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann willst du mal einen Rundgang bei uns machen und schauen, ob du hier trainieren kannst?“
„Genau, ich bin gerade hierher gezogen und suche ein behindertengeeignetes Becken – ich brauche keinen Kran, um ins Wasser zu kommen. Aber ich bräuchte eine geeignete Umkleide, Toilette und Dusche. Außerdem müsste mir immer jemand helfen, um aus dem Becken zurück in den Stuhl zu kommen – habt ihr einen Transportstuhl? Wenn nicht, ich hätte einen, der aber dann vielleicht hier deponiert werden müsste. Und dann wäre es toll, wenn der Stuhl weggeräumt würde, während ich schwimme, damit er nicht blöde im Weg rum steht. Und bevor du fragst – ja, ich kann schwimmen, ich bin kein Anfänger und weiß, was ich kann und was nicht.“
Dennis betrachtete mich kurz. „Das sollte alles überhaupt kein Problem sein. Wir haben hier noch einen anderen Rollifahrer, der regelmäßig kommt. Wenn ihr nicht gleichzeitig Hilfe braucht, sollte das kein großer Akt sein. Schwimmst du mit Handpaddel oder ohne?“
Ich atmete sichtbar leichter – Dennis schien sich auszukennen. Das machte mir den Start hier um vieles leichter. Ich bejahte seine Frage.
Dennis schlug mir dann noch vor, in den hiesigen Schwimmverein einzutreten, denn das würde die Eintrittskosten merklich reduzieren. Außerdem könnte ich ja mit dem anderen Rollifahrer zusammen eine Mannschaft bilden, dann würden sie den Verein der Nachbarstadt endlich in allen Wettkämpfen besiegen – unter der Voraussetzung, dass ich so gut sei, wie ich behauptete.
Da ich für den heutigen Tag sowieso nichts Besseres vorhatte, nutzte ich Dennis' Freundlichkeit direkt aus, ließ mir von ihm helfen und zog meine ersten Bahnen.
Die Schwerelosigkeit im Wasser konnte man mit nichts anderem vergleichen. Es war der Moment, in dem man das Gefühl hatte, dass alles in Ordnung war. Ich musste mir zwar meine Beine zusammenbinden, damit ich schneller schwimmen konnte, aber das sah man kaum. Und viel wichtiger: ich spürte es ja nicht. Ich hatte nur das einmalige Gefühl, mich genauso schnell oder sogar schneller als alle anderen bewegen zu können. Und wer nicht genau hinsah, sah auch nur mich – nicht meine nutzlosen Beine oder meinen Stuhl.
Ich schwamm meine üblichen zwei Kilometer und genoss das angenehme Brennen in meinen Armmuskeln.
Als ich fertig war, kam diesmal Dennis' Kollegin, brachte den Transportstuhl mit und half mir hinein.
Sie lachte mich an: „Dennis hatte recht – du bist ein unkomplizierter Fall, das sind mir die liebsten! Solltest du noch was brauchen – frag nach Moni. Du kannst den Stuhl anschließend einfach in der Umkleide stehen lassen, ich versorg ihn nachher!“
Damit war sie auch schon wieder weg.
Das war ja einfacher gewesen als gedacht.
Unwillkürlich musste ich an unser altes Schwimmbad zu Hause denken. Die hatten immer einen Aufstand gemacht am Anfang, als ich mit dem Training angefangen hatte.
Einmal war sogar die Mutter eines kleinen Kindes zu mir gekommen und hatte mich gefragt, ob ich nicht zu einer anderen Zeit schwimmen gehen könnte. Also zu einer Uhrzeit, wenn nicht gerade kleine Kinder da wären, die würden dann Fragen stellen, die man so schwer beantworten könnte. Ich glaubte, dass eher die Mutter und nicht das Kind ein Problem mit mir hatte. Kinder sind erstaunlich offen, sie sind ehrlich, stellen ihre Fragen und akzeptieren Tatsachen – Erwachsene denken immer, es gäbe richtiges und falsches Verhalten. Meistens sind sie es mit dem Problem. Integration ist ein tolles Wort – nur leider in den Köpfen noch nicht angekommen. Ich war körperlich eingeschränkt, behindert, gehandicapt, wie auch immer man es ausdrücken wollte, ich war weder blöde, blind oder sonst etwas.
Ich sah die Blicke – auch jetzt, wo ich im Transportstuhl saß, die Paddel auf dem Schoß und im Begriff, das Band um meine Beine zu lösen. Früher hatte ich zurück gestarrt, war sauer, böse, enttäuscht gewesen. Heute machte ich einfach weiter ohne mich umzuschauen. Ich hatte das Band gerade gelöst, als ein etwas vierjähriges Kind auf mich zukam.
„Warum hast du deine Beine zusammengebunden – und warum darfst du hier in einem Stuhl sitzen?“
Die Mutter der Kleinen kam mit rotem Kopf hinterher, sie wusste ganz offensichtlich nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie schwankte zwischen einer Entschuldigung in meine Richtung und einer Schelte für ihr Kind.
Ich sah sie an und schüttelte nur kurz den Kopf, dann wandt ich mich dem Kind zu.
„Ich kann meine Beine nicht bewegen und damit sie im Wasser nicht hin- und herwackeln, binde ich sie zusammen. Denn ich schwimme viel zu gerne, um mir das von meinen Beinen verbieten zu lassen.“
„Werden deine Beine wieder gut?“
„Nein, das werden sie nicht, aber wenn ich im Wasser bin, dann fühlt es sich fast so an!“
„Dann ist es ja gut, dass du so einen tollen Stuhl und das Band hast, oder?“
„Genau, das finde ich auch!“
Ich verabschiedete mich von dem Mädchen und sah der Mutter nochmal in die Augen, nun war es an ihr, mir zuzunicken.
Dann rollte ich in Richtung Dusche und Umkleide.
War das nun so schwer gewesen?