Читать книгу Die beste Zeit ist genau jetzt - Robin Lang - Страница 6
4 Donnerstag, 15. September 2016
Оглавление- Lucca -
Heute war er also, der erste Tag in der neuen Firma. Zuerst sollte ich nur stundenweise da sein und mir alles genau anschauen. Obwohl wir alle drei zum selben Büro mussten, machten Nate, Sue und ich uns mit drei Fahrzeugen auf den Weg – Sue nutzte bei halbwegs gutem Wetter immer ihr Rad, Nate und ich fuhren mit unseren Autos. Ich hätte auch mit Nate fahren können, aber ich wollte unabhängig sein.
Meinen Schreibtischstuhl hatte Nate schon am Tag vorher mitgenommen. Der Stuhl war eine nette Abwechslung zum Rollstuhl. Er erfüllte zwar den selben Zweck, war aber kleiner, wendiger und für die Büroarbeit praktischer. Zwar hasste ich es, von anderen abhängig zu sein, aber ab und zu ging es nicht anders. Ich würde also auf meinen Bürostuhl umsteigen und ein Mitarbeiter musste dann meinen Rolli wegfahren. Einen festen Ort hatte Nate sich noch nicht überlegt, solange würde er in der Büroküche in der Ecke stehen. Sue versicherte mir, dass alle Kollegen helfen würden – bis auf eine vielleicht. Eine doofe Stute, wie sie sich ausdrückte. Den Namen wollte sie mir nicht verraten, ich sollte meine Erfahrungen selber machen – außerdem würde die die Firma zum Jahresende sowieso verlassen, so lange müsste man sie noch ertragen.
Monika, die Frau deren Stelle ich übernehmen würde, erwies sich als nette Frau kurz vor der Rente, die mich den halben Vormittag mit Geschichten über ihre Enkel unterhielt. Die andere Zeit arbeitete sie mich in die wichtigsten Computerprogramme ein, stellte mir die Kollegen vor und klärte mich über die eine oder den anderen auf.
Es war kurz vor der Mittagspause als eine blondierte, extrem geschminkte Frau ins Büro gerauscht kam. Ich erkannte in ihr die, die mir schon auf den Mitarbeiterfotos unsympathisch gewesen war.
Sie blieb kurz vor Monika und mir stehen.
„Ach, sind Sie die Neue? An Ihrer Stelle würde ich es mir gut überlegen, ob Sie hier arbeiten wollen. Hier hat man keine gute Aussichten, bleiben zu können …“
Mit einem Blick auf Monika fügte sie hinzu: „Wenn allerdings alles, was man erreichen will, der Job einer Tippse ist, dann ist es vielleicht auch egal, wo man arbeitet.“
Mit diesen Worten rauschte sie an uns vorbei in Richtung Küche.
Monika sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an.
„Das war Linda, ihr wurde zum Jahresende gekündigt – viel zu spät, wenn du mich fragst. Das letzte, was sie sich geleistet hat, war Jonathan anzubaggern. Das war zwar nicht der Grund für die Kündigung, aber unschön war es trotzdem. So, wie sie hier mit allen Kollegen umgegangen ist, hätte man sie schon früher vor die Tür setzen müssen. Leider wirst du noch bis Dezember mit ihr und für die arbeiten müssen. Du wirst noch merken, das ist nicht einfach!“
Damit hatte Monika mir bestätigt, was ich mir schon gedacht hatte – Linda war die doofe Stute, von der Sue mir erzählt hatte.
Wenn ich noch einen Beweis gebraucht hatte – der folgte keine fünf Minuten später.
Linda kam aus der Küche und regte sich lauthals auf: „Seit wann dient denn die Küche als Abstellkammer für Sperrmüll? Die ist doch so schon zu klein und nun steht da auch noch so'n Ungetüm drin rum!“
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie meinte – mein Rollstuhl stand in der Küche!
Man hatte meinem Rolli ja schon viele Namen gegeben, aber Sperrmüll war bisher noch nie dabei gewesen. Wenn ich eine Sache in Bezug auf Menschen und deren Art zu beleidigen gelernt hatte, dann, dass es immer gut war, in die Offensive zu gehen. Den meisten nahm das so den Wind aus den Segeln, dass sie sich zukünftig eher zurückhielten.
Ich bewegte also meinen Stuhl in ihre Richtung und meinte nur trocken und überaus höflich: „Wenn Sie mit Sperrmüll meinen 4000€ teuren Rollstuhl meinen, dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie sich an diesen Anblick wohl gewöhnen müssen. Denn sowohl mein Rolli als auch ich werden noch ein bisschen hierbleiben. Und wenn wir schon dabei sind – meine Stellenbeschreibung lautet nicht Tippse, sondern Rezeptionistin und Assistenz der Geschäftsführung.“
Linda schnappte sichtbar nach Luft. Es war immer dasselbe, Menschen waren so leicht einzuschüchtern. Herumstänkern, lästern, blöde Sprüche klopfen, das konnten sie gut, wenn es aber darum ging, einen Behinderten beleidigt zu haben, dann ruderten die meisten zurück. Denn bei aller Ekelhaftigkeit, die man sich sonst so erlauben konnte, bevor jemand eingriff - politisch unkorrekt wollte keiner sein. Ich konnte Linda ansehen, dass sie sich fragte, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen würde. Aber die Möglichkeit wollte ich ihr erst gar nicht geben. Ich fuhr statt dessen ohne ein weiteres Wort an meinen Platz zurück und beschäftigte mich mit dem auf einmal wahnsinnig interessanten Programm.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Linda noch einen Moment unschlüssig im Gang stehen blieb, bevor sie zurück in die Küche ging.
Kurz darauf kamen Sue und Nate angeschlendert.
„Wir haben mitbekommen, dass du deine erste Schlacht hier geschlagen hast! Aber es schien, als würdest du dich bestens behaupten können, deshalb haben wir nicht eingegriffen. Alles klar, Süße?“ fragte Sue.
Ich lachte nur.
„Wenn das ihre gesamte Munition gewesen ist, dann war das ja eher harmlos. Glaubt mir, ich hab schon Schlimmeres durchgemacht!“
Nate zwinkerte mir zu. „Fertig für die Mittagspause mit uns? Dann hol ich mal deine Kutsche.“ Mit diesen Worten schob er meinen Rolli aus der Küche.
Zu dritt quetschten wir uns in den Aufzug und fuhren ins Erdgeschoss.
Schräg gegenüber vom Büro lag ein kleines Bistro, das die beiden zielsicher anpeilten. Ich folgte ihnen einfach.
Eines musste man den beiden lassen – sie waren herrlich unkompliziert.
Wir saßen eine knappe Stunde zusammen, sie unterhielten mich mit Geschichten über Nates Neffen. Zwei Jungen, die er erst vor wenigen Wochen gefunden hatte. Kinder, die sein viel zu früh verstorbener Bruder nie kennengelernt hat. Die Geschichte war traurig und schön zugleich. Bald würde ich die Mutter der Zwillinge und deren Freund Sam kennenlernen.
Nach dem Essen trennten wir uns, ich hatte einen freien Nachmittag, während die beiden anderen zurück ins Büro mussten.
Das Wetter spielte mit und ich fuhr in den nahegelegenen Park und machte es mir dort eine Stunde mit einem Buch gemütlich.
Mitten in der schönsten Szene klingelte mein Handy. Eigentlich neigte ich dazu, nicht dranzugehen, wenn mich mein Buch fesselte, aber es war meine Mutter. Wenn ich nicht ranging, dann würde sie sofort eine Suchmannschaft los schicken
„Hallo, Mama … , ja, mir geht es gut, ich habe mich prima eingelebt und war heute auch schon den Vormittag im Büro. … Nein, ich habe noch keine Wohnung für mich gefunden, aber das Zimmer bei Sue ist in Ordnung. … Ja, die sind alle nett zu mir, du musst dir keine Sorgen machen.“
Die größte Angst meiner Mutter war, dass ich alleine nicht zurecht kommen würde. Sie wollte mich vor allem beschützen. Leider hatte sie über Jahre nicht gesehen, dass ihre Art mich auf Dauer erdrückt hatte. Sie war diejenige, die nicht mit meinem Unfall zurecht gekommen war. Sie hatte sich Vorwürfe gemacht und machte sie sich mit Sicherheit auch heute noch. Vielleicht ahnte sie, dass er etwas mit Tobi zu tun gehabt hatte?
Sie hatte mir immer wieder gesagt, was für ein netter, wohlerzogener, höflicher Junge Tobi doch sei und dass ich mich glücklich schätzen könnte, dass er mich wolle. Über seinen fragwürdigen Charakter wollte sie nichts hören. 'Männer seien nun mal so', bekam ich zu hören, wenn ich mich über seinen Kontrollwahn aufregte. Es sei bestimmt seine Art, mir seine Liebe zu zeigen.
Ich hatte ihr nie erzählt, was genau in dieser Nacht passiert war. Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, außer mit Max.
Als Tobi im Krankenhaus aufgetaucht war, hatte ich ihn nur gebeten zu gehen und nie, nie, nie wieder zu kommen. Sollte er es trotzdem tun, würde ich erzählen, was mich so aufgeregt hatte, dass ich vor Max' Auto gelaufen war.
Er hatte sich daran gehalten, bis letzten Samstag.
„Lucca – hörst du mir überhaupt noch zu?“, hörte ich meine Mutter fragen.
„Sorry, ich war abgelenkt. Was hast du gesagt?“
„Ich habe dir gerade erzählt, dass Tobi mich nach deiner Nummer gefragt hat. Hast du was dagegen, wenn ich sie ihm gebe?“
Mit einem Schlag war ich wieder bei der Sache.
„Mama, bitte, tu mir den Gefallen und gib sie ihm nicht, ich will echt keinen Kontakt zu ihm. Die Sache ist lange vorbei und ich habe überhaupt kein Interesse an einer Neuauflage.“
„Aber der war doch immer so ein netter Kerl. Er meinte, er mache sich Sorgen wegen deiner neuen Freunde und so.“
Ich hörte die Frage in ihrer Stimme.
„Mama, du hast Nate kennengelernt, er ist Geschäftsführer einer Werbefirma, was soll daran Sorgen bereiten?“
„Na, diese beiden anderen eben …“
„Mama, auch mit denen ist alles in Ordnung, glaub mir. Außerdem habe ich die hier gar nicht zu Gesicht bekommen bisher!“
„Also gut, wenn du meinst. Ich richte Tobi also aus, dass du keinen Kontakt willst.
Und nun muss ich Schluss machen, ich hab einen Kuchen im Ofen. Wann kommst du uns besuchen?“
Ich war gerade mal fünf Tage weg von zu Hause!
„Mama, vielleicht in zwei Wochen, ich muss doch erstmal hier ankommen. Wir können doch telefonieren. Ich hab dich lieb, gib Papa einen Kuss. Ich muss Schluss machen!“
Mit diesen Worten legte ich auf.
Warum wollte Tobi meine Nummer, warum nahm er nun nach all den Jahren Kontakt zu mir auf, warum der Besuch am Tag meines Auszugs?
Ohne es zu wollen, holten mich die Erinnerungen an damals ein …
1 März 2009 – eine Stunde vor dem Unfall -
„Wo warst du gestern Abend? Ich habe versucht, dich zu erreichen, du warst nicht zu Hause, ich habe bei dir angerufen und dein Handy hattest du auch nicht an! Und wie läufst du überhaupt rum?“
Ich war gerade bei meinem Freund angekommen, hatte mich auf einen netten Abend mit ihm gefreut, statt dessen bekam ich nur wieder Vorhaltungen zu hören. Himmel, Tobi und ich gingen seit einem guten halben Jahr miteinander, ich war gerade 17, er 19. Wir hatten ziemlich schnell das erste Mal miteinander geschlafen. Er war mein Erster gewesen, ich hatte keinerlei Erfahrung, aber so toll, wie meine Freundinnen immer getan hatten, war es nicht gewesen, auch die Male danach nicht. Aber am meisten störte es mich, wenn er mich dauernd kontrollierte. Er wollte wissen, wann ich wo war und mit wem ich unterwegs war. In letzter Zeit meckerte er immer öfter daran herum,was ich trug.
Ich schaute an mir runter. Es war ein ungewöhnlich milder Märzabend, also hatte ich mich für Leggings und ein langes Shirt entschieden. Wir hatten nichts vor, also war ich nicht ausgehfein.
„Was stimmt denn nicht daran?“ Ich hatte eigentlich keine Lust, mich mit ihm zu streiten.
„Was daran nicht stimmt?“ Er wurde lauter. „Was daran nicht stimmt? Du bist meine Freundin, ich hab einen Ruf zu verlieren, wenn du so verlottert rumläufst. Ich wette, gestern als du unterwegs warst, hast du dich mehr zurecht gemacht, oder?“
Er hatte mir in die Haare gegriffen und bog meinen Kopf nach hinten.
„Tobi, du tust mir weh!“
„Ich frag dich noch mal – mit wem warst du gestern unterwegs?“
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, ich gehöre dir nicht!“
Er lachte nur. „Oh doch, du weißt es nur noch nicht …“
Er ließ mich so plötzlich los, dass ich fast nach vorne über fiel.
„Ich frag dich nur noch einmal – wo warst du gestern?“
Langsam machte Tobi mir echt Angst.
In diesem Moment klingelte zum Glück sein Telefon. Er sah mich noch einmal an und nahm dann das Gespräch an.
„Hi, …. nein, heute kann ich nicht … Ja, gestern müssen wir wiederholen … Ich kann es kaum erwarten … Morgen? Ok, ich hol dich ab … Tschüss!“
Was sollte das jetzt?
„Mit wem hast du da gesprochen, Tobi?“
Er blickte mich kalt an. „Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte.“
„Aber ich bin deine Freundin und das klang komisch!?“
„Es geht dich nichts an, aber ich kann dir sagen – sie ist besser als du!“
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Zuerst ließ er mir gegenüber den Macho raushängen, behandelte mich wie sein Eigentum und dann gab er zu, eine andere zu haben?
„Weißt du, Lucca, ein Mann hat nun mal Bedürfnisse und die kannst du bestimmt nicht erfüllen – aber fürs Image und so bist du ganz hilfreich, deshalb wirst du mich auch nicht los werden!“
Ich spürte, wie die Tränen in mir aufstiegen. Warum war er so zu mir?
Er kam wieder auf mich zu.
„Und nun sag mir, wo du gestern warst!“
Ich nahm all meinen Mut zusammen.
„Tobi, ich glaube nicht, dass ich noch mit dir zusammen sein will …“
„Und ich glaube nicht, dass dich jemand fragen wird. Du bist meine Freundin und so wird es bleiben!“ Er hielt mich am Arm fest, ich versuchte mich zu lösen, stattdessen griff er nur fester zu.
Ich musste zugeben, ich sah seine Hand nicht, ich spürte nur die Ohrfeige.
Aus Reflex trat ich ihm in die Eier und rannte, so schnell ich konnte. Mein Fahrrad ließ ich bei ihm stehen, ich rannte einfach nur. Meine Wange brannte, die Tränen verschleierten mir den Blick und so hatte ich das Auto nicht kommen sehen.
Das nächste, was ich wusste, war, dass ich im Krankenhaus aufwachte und meine Beine nicht mehr spürte …
Ich erwachte wie aus einer Trance. Ohne es zu merken, hatte ich zu weinen angefangen. Die Tränen waren zum Teil aus Angst vor der Erinnerung und zum Teil aus Wut geflossen. Wut darüber, dass er nach über sieben Jahren immer noch diese Macht über mich hatte. Ich war nicht mehr die kleine, leicht zu beeindruckende 17- jährige. Ich hatte gedacht, ich hätte das alles hinter mir gelassen.
Warum war er wieder in meinem Leben aufgetaucht?
Einer seiner Sätze von damals ging mir nicht aus dem Kopf. Als ich ihm damals gesagt hatte, dass ich ihm nicht gehören würde, hatte er geantwortet: „Oh doch, du weißt es nur noch nicht …“
Aber der Satz von damals konnte doch nichts damit zu tun haben, dass er wieder in meinem Leben aufgetaucht war, als ich unser Dorf verlassen hatte, oder?
Mir wurde plötzlich kalt.
Ohne einen weiteren Umweg fuhr ich zurück zu meinem Auto, verstaute meinen Rolli und machte mich auf den Weg zu Sues Wohnung, wo ich mir ein heißes Bad einließ und mich in die Wanne legte. Zum Glück hatte ich mein Podest mitgebracht, das man in die Wanne einhängen kann – das machte das Ein- und Aussteigen leichter. Bestimmt bildete ich mir das alles nur ein!