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Das Zweite Königreich Jerusalem

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1200 – 1249

Als der französische Geistliche Jacques de Vitry im November 1216 in Akkon an Land ging, um seinen Posten als Bischof anzutreten, war er entsetzt. Er war gekommen, um den geistlichen Eifer seiner christlichen Brüder und Schwestern im Vorfeld eines neuen Kreuzzugs wiederzubeleben, doch statt der frommen Stadt der Vorstellungswelt westlicher Geistlicher – des Tores zu dem Land, in dem Jesus gewandelt und gestorben war – traf er ein »Monster oder Tier mit neun Köpfen an, die sich alle gegenseitig bekriegten«. Es gab hier abtrünnige Christen jeder Glaubensrichtung: Arabisch sprechende Jakobiten (Westsyrer), die ihre Kinder »nach Art der Juden« beschnitten und sich mit nur einem Finger bekreuzigten; Nestorianer aus dem Osten Syriens, die er für »Verräter und sehr korrupt« hielt und von denen einige »den Sarazenen die Geheimnisse des christlichen Glaubens enthüllt hätten« und deren verheiratete Priester »ihr Haar nach der Art der Laien frisierten«. Unterdessen ignorierten die Gemeinschaften italienischer Kaufleute – Genuesen, Pisaner und Venezianer – einfach seine Versuche, sie zu exkommunizieren, hörten selten, wenn überhaupt auf das Wort Gottes und »weigerten sich sogar, zu meiner Predigt zu kommen«. Ferner gab es noch die Melkiten, Georgier, Armenier und die aus Mischehen stammenden Pullanen, die sich »ganz den Vergnügungen des Fleisches hingaben«. Das ungewohnte Äußere der östlichen Christen – die Männer häufig mit dichtem Bart und wie Muslime gekleidet, die Frauen verschleiert – war für Jacques de Vitry zusätzlich beunruhigend. Wenn er versuchte, ihre Irrtümer in der Glaubenslehre zu korrigieren, war er auf die Hilfe eines arabischen Übersetzers angewiesen. Vitry erlebte die ganze Befremdung einer Ankunft im Nahen Osten – jedoch in einer Stadt, deren Kirchen, Häuser, Türme und Paläste irritierend europäisch aussahen.

Das Siegel von Jacques de Vitry, des Bischofs von Akkon

Nicht allein die abweichenden christlichen Bräuche ließen Vitry einen Kulturschock erleben. Es war auch der Ort selbst: »Als ich diese schreckliche Stadt betrat und sie voller unzähliger schändlicher Akte und böser Taten vorfand, war ich in meinem Kopf sehr verwirrt.« Er beschwor eine furchtbare Lasterhöhle voller Ausländer herauf, »die als Vogelfreie wegen verschiedener entsetzlicher Verbrechen aus ihrem eigenen Land geflohen waren«; wo die schwarze Magie praktiziert werde und Mord und Totschlag grassierten; wo Ehemänner ihre Frauen erwürgten und Frauen ihre Ehemänner vergifteten, wo »nicht nur Laien, sondern auch Kirchenmänner und manche Mitglieder des Regularklerus ihre Unterkünfte an öffentliche Prostituierte aus der ganzen Stadt vermieteten. Wer wäre imstande, all die Verbrechen dieses zweiten Babels aufzuzählen?«1

Vitry mochte den Ruf Akkons als Sündenpfuhl übertrieben haben, doch die Stadt und die Menschen hier entsprachen bestimmt nicht seinen Erwartungen. Dieses Gefühl der Verwirrung unter neu angekommenen Christen mit Kreuzfahrereifer war ein immer wiederkehrendes Motiv – noch dazu eines, das 70 Jahre später in Akkons Endkampf tragische Konsequenzen haben sollte.

Nach dem Fall Jerusalems an Sultan Saladin und dem Scheitern König Richards bei dem Versuch, es zurückzuerobern, waren die Kreuzfahrerstaaten auf drei kleine, miteinander verbundene Bollwerke geschrumpft, die sich an den Rand der Mittelmeerküste gedrängt sahen: das Fürstentum Antiochia im Norden, die Grafschaft Tripolis und das sogenannte Zweite Königreich Jerusalem, ein langer, schmaler Küstenstreifen, der sich von Beirut bis nach Askalon im Süden über knapp 290 Kilometer erstreckte. Akkon wurde jetzt de facto die Hauptstadt und das politische Zentrum dieses verschobenen Heiligen Königreiches. Der Stadt wurde die gesamte weltliche und kirchliche Verwaltung übertragen: In Akkon war der Hof des Königs, die Burg der Könige von Jerusalem und später der Sitz des Patriarchen – des vom Papst ernannten Stellvertreters. Die mächtigen Ritterorden der Templer und Johanniter verlegten ihre Hauptquartiere nach Akkon, wo sie beeindruckende Paläste und Festungen errichteten. Die unermesslich reichen Orden bildeten mittlerweile die schlagkräftigste Verteidigung des lateinischen Ostens. Anfang des 13. Jahrhunderts verdoppelten die Orden den Bau von Burgen und den Ausbau als vorgeschobene Verteidigungsstellung, um die Sicherheit der Straßen und den Schutz der verbliebenen Gebiete zu gewährleisten. In Akkon gesellte sich eine Reihe anderer, kleinerer Orden zu ihnen – darunter die Ritter des Ordens des heiligen Lazarus, der ursprünglich gegründet worden war, um sich um Leprakranke zu kümmern – sowie neu gegründete Nachahmungen, von denen einige wie der Deutsche Orden und der englisch inspirierte Orden der Ritter des heiligen Thomas von Canterbury im Gefolge des Dritten Kreuzzugs entstanden waren. Gleichzeitig verlegten viele Orden, die von Saladin vertrieben worden waren oder sich unsicher fühlten, ihre Kirchen, Männer- und Frauenklöster nach Akkon.

Jacques de Vitry war nicht nur in der fiktiven Verlegung der Heiligen Stadt Jerusalem angekommen; er war taumelnd an Land gegangen und in eine bunte, ethnisch diverse und von Menschen wimmelnde Hafenstadt am Mittelmeer geraten, mit all den unzähligen Aktivitäten und Attraktionen, die dazugehörten. Akkon war ein Handelsplatz für den Austausch von Waren über ein riesiges Gebiet und die wohl kosmopolitischste Stadt der mittelalterlichen Welt. Die Stadt war ein multilinguales Durcheinander aus Menschen und Kulturen, jeweils mit eigenen Vierteln und religiösen Einrichtungen. Unter den 81 Kirchen war eine der heiligen Bridget von Kildare in Irland geweiht; eine andere dem heiligen Martin der Bretonen; und wieder eine andere dem heiligen Jakob der Iberischen Halbinsel.

Die Kaufmannsgilden der italienischen Stadtrepubliken – Genua, Venedig und Pisa – nahmen eine prominente Stellung ein und wetteiferten neben Händlern aus Marseille und Katalonien erbittert um die Märkte am Mittelmeer. Vielen Händlergemeinschaften war vom König juristische und kommerzielle Unabhängigkeit gewährt worden. Ferner gab es eine kleine jüdische Gemeinde, Kopten aus Ägypten; und muslimische Kaufleute aus Damaskus, Antiochia und Alexandria kamen regelmäßig, um Geschäfte zu machen. Die Hauptverkehrssprache war Französisch, aber Deutsch, Katalanisch, Okzitanisch, Italienisch und Englisch waren ebenfalls in den Straßen zu hören und vermischten sich mit den Sprachen der Levante. Im Frühjahr und Herbst, bei der Ankunft der Handelsschiffe aus dem Westen, war der Hafen von Schiffen überfüllt, und die Bevölkerung der Stadt vergrößerte sich unter Umständen um bis zu 10 000 Pilger, die zu den heiligen Stätten ziehen wollten. Schlepper, Führer und die Wirte von Gasthäusern profitierten von diesen Besucherströmen. Als die Weiterreise nach Jerusalem wegen der unsicheren Lage des palästinensischen Hinterlandes zu gefährlich war, wurde Akkon, obwohl es keinerlei Verbindung zum Leben Jesu hatte, selbst zu einem Pilgerort. Unter der Führung einheimischer Geistlicher wurde hier ein Rundgang durch 40 Kirchen zur Besichtigung angeboten, jede mit eigenen Reliquien und heiligen Souvenirs, wo Pilger die vom Papst gewährte Vergebung der Sünden erlangen konnten.

Von Flüchtlingen aus ganz Palästina und der Anziehungskraft für europäische Händler und Pilger aufgebläht, erlebte die Stadt zu Beginn des 13. Jahrhunderts einen regelrechten Boom. Als wichtige Hafenstadt der lateinischen Levante trieb Akkon nicht nur mit dem westlichen Mittelmeer Handel, sondern war auch für den ganzen östlichen Mittelmeerraum eine Achse des Warenaustauschs vom Schwarzen Meer und Konstantinopel bis nach Ägypten im Süden. Damit ging eine stillschweigende Einigung mit der islamischen Welt einher, wurde den Schranken des Glaubens wenig Beachtung geschenkt – sehr zum Missfallen des Papstes. Akkon nutzte das Währungssystem der muslimischen Nachbarn. Die Stadt prägte Gold- und Silberimitate der Münzen der Fatimiden und Aiyubiden mit arabischen Inschriften. Als der Papst 1250 die Verwendung islamischer Inschriften und Datierungen verbot, ersetzte die Münze einfach die Wörter auf der Prägung durch christliche – allerdings immer noch in arabischer Schrift und mit zusätzlichen Kreuzen. Aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit der christlichen und muslimischen Händler hatte keiner ein großes Interesse daran, den Status quo zu ändern.

Im Laufe des 13. Jahrhunderts machte Akkon sogar der großen Hafenstadt Alexandria Konkurrenz und überholte sie, was die Menge und die Vielfalt der Waren anging, die ihren Hafen durchliefen. Der Graf von Cornwall, der Anfang der 1240er-Jahre hierherkam, schätzte, dass die Stadt jährlich 50 000 Pfund einnahm, eine Summe, die den Einnahmen von Königen in Westeuropa entsprach. Textilien wie Seide, Leinen und Baumwolle kamen entweder als Rohstoff oder als fertige Stoffe aus der islamischen Welt nach Europa, dazu Glaswaren, Zucker und Edelsteine. In die andere Richtung ging der Handel mit europäischer Wolle, die lateinische Kaufleute in das muslimische Damaskus brachten, dazu Eisenwaren und Lebensmittel (Gewürze, Salz, Fisch), Kriegspferde und verschiedene andere Artikel, die zur Unterstützung der Kreuzfahrer nötig waren. Töpferwaren gelangten als Ballast in den Laderäumen europäischer Schiffe nach Akkon, selbst aus dem fernen China, und tagtäglich passierten mit Vorräten beladene Kamele und Esel die Tore, die für die Ernährung der großen Bevölkerung unerlässlich waren: Wein aus Nazareth, Datteln aus dem Jordantal, Weizen, Obst und Gemüse, das einheimische östliche Christen und Muslime angebaut hatten. Die Stadt war auch ein Industriezentrum: Die Templer und die Johanniter stellten in ihren eigenen Mühlen und Öfen außerhalb der Stadt Glas her und raffinierten Zucker, in den stark besuchten, überdachten Märkten hingegen gab es Werkstätten, die sich auf die Herstellung von Glas-, Metall- und Keramikwaren sowie Souvenirs für Pilger spezialisiert hatten, dazu Gerber und Seifenmacher.

Wenn ein Papst nach dem anderen über die Münzprägung nach islamischer Art in Akkon schockiert war, so bereitete ihnen ein anderer höchst profitabler Handel noch größeres Kopfzerbrechen: Ein großer Teil der an die Aiyubiden-Sultane in Kairo verkauften Kriegsmaterialien – Holz und Eisen für den Schiffsbau, Waffen und Kriegsmaschinen, und Naphtha für Brandsätze – lief über Akkon durch die Hände italienischer Kaufleute. Noch bedeutender für den Heiligen Stuhl war der Menschenhandel. Türkische Militärsklaven aus den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres kamen auf byzantinischen oder italienischen Schiffen über Konstantinopel; Akkon war sowohl eine Zwischenstation als auch ein Sklavenmarkt. Wiederholte päpstliche Verbote wurden regelmäßig missachtet. Im Jahr 1246 warf Papst Innozenz IV. allen drei italienischen Kaufmannsgemeinschaften in der Stadt vor, sie würden Sklaven aus Konstantinopel transportieren, die anschließend nach Ägypten gebracht würden, um die Heere des Sultans zu vergrößern. Die Beschleunigung dieses Handels seit den 1260er-Jahren sollte für die Rumpfstaaten der Kreuzfahrer unbeabsichtigte Konsequenzen haben: Akkon war dazu verdammt, von Heeren belagert zu werden, die über den eigenen Hafen rekrutiert worden waren.

Jacques de Vitry mag die Frevelhaftigkeit Akkons übertrieben haben, doch die Stadt diente tatsächlich als eine Art Strafkolonie: Die Gerichte in Europa wandelten Urteile in Strafprozessen gelegentlich dahingehend um, dass die Angeklagten zur Besiedlung ins Heilige Land geschickt wurden. Unter der lediglich nominellen Autorität des meistenteils abwesenden Königs von Jerusalem – ein Titel, der im ganzen 13. Jahrhundert zu endloser Zersplitterung und inneren Kämpfen führen sollte – bestand Akkon aus einem bunten Haufen verschiedener und weitgehend unabhängiger Interessengruppen, die sich um Eigentumsrechte und den Zugang zum Hafen stritten. Gemeinschaften innerhalb der Stadt besaßen ihre eigenen historischen Privilegien, häufig ihre eigene Rechtsprechung, die eine effektive Verwaltung der Justiz behinderten, und ein großes Maß an Autonomie. Die rivalisierenden Ritterorden, die nur dem Papst unterstanden, bildeten den reichsten und militärisch gesehen effektivsten Teil der Gemeinschaft – wobei die Templer und die Johanniter, die mit ihren riesigen Palästen und befestigten Anlagen große Teile Akkons einnahmen, am stärksten ins Auge fielen.


Die mittelalterliche Karte von Akkon mit heutiger Beschriftung zeigt den Plan der Stadt: den doppelten Mauerring, die Vorstadt Montmusard zur Linken und den Hafen. Sie verzeichnet die wichtigsten Kirchen und Gebäude, die Templerburg (Templum) am Meer, den Komplex der Johanniter (Hospitale) und die von den Venezianern, Genuesen und Pisanern kontrollierten Areale. Die Karte vermittelt einen Eindruck von dem labyrinthartigen Charakter der Stadt. Merkwürdigerweise verlegt sie den Verfluchten Turm (Turris Maledicta) an die rechtwinklige Spitze der äußeren Mauer, obwohl er damals in Wirklichkeit am gleichen Punkt der inneren Mauer stand.

Der Plan der Stadt spiegelt die enge Nähe der unzähligen verschiedenen Fraktionen und religiösen Gemeinschaften zueinander wider. Akkon hatte ein dicht besiedeltes Stadtzentrum, in dem die Händlergruppen in eigenen, stark bevölkerten Vierteln lebten. Sie ähnelten in gewisser Weise winzigen, befestigten italienischen Städten: gegen die Nachbarn abgegrenzt, durch Tore und Wachtürme geschützt und mit Lagerhäusern, Geschäften und Wohnsitzen im Innern. Ein Geflecht enger, verwinkelter Straßen (vermutlich das Überbleibsel eines älteren, arabischen Entwurfs) führte zu kleinen Marktplätzen, den Zentren jeder Gemeinschaft mit einer eigenen Kirche, Ordenshäusern und Einrichtungen. Im Umfeld des Hafens, wo die Waren ausgeladen wurden, war die Aktivität am dichtesten. Der direkte Zugang zum Hafen war daher heftig umstritten.

Die Stadt Akkon mag eine Lasterhöhle gewesen sein. Sie war dazu aber auch außerordentlich schmutzig. Besucher und Pilger waren gleichermaßen geschockt über die gesundheitlichen Mängel des Ortes. Der griechische Pilger Johannes Phokas, der im Jahr 1177 in die Stadt kam, beschwerte sich: »Die Luft ist von dem gewaltigen Zustrom an Fremden verschmutzt, etliche Seuchen grassieren und führen zu häufigen Todesfällen unter ihnen, deren Folge wiederum üble Gerüche und eine Verpestung der Luft sind.«2 Der arabische Reisende Ibn Dschubair, der aus der viel zivilisierteren Welt des maurischen Spaniens kam und kaum etwas Gutes über Christen zu sagen hatte, hielt den Ort für einen Schweinestall: »Seine Wege und Straßen ersticken unter dem Gedränge der Menschen … Es stinkt und ist dreckig, voller Abfälle und Exkremente.«3

Die Johanniter besaßen in ihrem prächtigen Komplex außerordentlich effiziente Latrinen und eine Kanalisation, in der das Abwasser, samt einem Großteil des restlichen Schmutzes der Stadt, etwa den Abfällen des Fischmarktes und des Schlachthauses, in den eingeschlossenen Hafen geleitet wurde, der den Spitznamen »Lordemer« – »das Dreckige Meer« hatte. Die Venezianer waren gezwungen, das Hauptfenster ihrer Kirche des heiligen Demetrius, das auf den Hafen hinausging, zu verriegeln, um zu verhindern, dass Dreck auf den Altar geweht wurde.

Zu den Stadtmauern hin lagen Gärten und offenere Bereiche, doch diese Räume schrumpften im Lauf des 13. Jahrhunderts. Jenseits der Mauer, auf den fruchtbaren Ebenen, lieferten Weinberge, Obstplantagen und bebaute Felder der Stadt nicht nur Lebensmittel, sondern auch eine angenehme Erholung von den beklemmenden und häufig angespannten Zuständen im Innern. Als die Bevölkerung wuchs, entwickelte sich nördlich der Altstadt eine zweite Wohnsiedlung namens Montmusard, die später zu einem organischen Bestandteil der Stadt wurde.

Als die Kreuzfahrer 1191 Akkon zurückeroberten, war die Stadt nur von einer Mauer umgeben, der Verfluchte Turm war eingestürzt und die Abschnitte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft schwer beschädigt. Richard Löwenherz ließ Reparaturen ausführen, doch im Jahr 1202 wurden beträchtliche Teile erneut in Schutt und Asche gelegt, diesmal allerdings durch ein Erdbeben. Offenbar folgte darauf ein konzertierter Wiederaufbau, denn nur ein Jahrzehnt später standen die Mauern wieder, sogar Montmusard einschlossen. Nunmehr bildete die Mauer eine beeindruckende Verteidigungslinie: Über eine Meile lang umschloss sie die ganze Stadt von Küste zu Küste. Der Verfluchte Turm selbst wurde durch massive äußere Stützen verstärkt. Wilbrand von Oldenburg, der 1211 als Vorbereitung eines neuen Kreuzzugs zu einer Erkundungsmission nach Akkon kam, war von der Stadt und ihren Verteidigungsanlagen beeindruckt:

Dies ist eine tüchtige, starke Stadt am Meeresufer, und zwar so gelegen, dass, während sie selbst ihrem Umfange nach ein Viereck bildet, zwei ihrer Seiten in Form eines Winkels vom Meere umgeben und geschützt sind. Die beiden anderen Seiten werden von einem tüchtigen, breiten und tiefen Graben, welcher von Grund auf ausgemauert ist, und außerdem von einer mit Thürmen versehenen Doppelmauer in schöner Anordnung begränzt. Diese Mauern sind so gebaut, dass die erste samt ihren Thürmen, welche aus der Mauer nicht hervorragen, von der zweiten, inneren Mauer, deren Thürme hoch und sehr fest sind, überschaut und gedeckt wird. Die Stadt hat einen guten, sicheren Hafen, den ein schöner Thurm schützt, in welchem einst von den irrgläubigen Heiden der Gott der Fliegen, welchen wir Baalzebub nennen, sie aber hießen ihn Accaron, verehrt wurde, woher die Stadt auch selbst Karon oder Akaron genannt wurde.4

Von den Toren Akkons aus führten Straßen in das restliche Königreich der Kreuzfahrer: die Küstenstraße ins Obere Galiläa und zu der Templerburg von Safad, nach Tyrus und zur Burg des Deutschen Ordens von Montfort.

In dem Labyrinth-ähnlichen Gewirr aus befestigten Komplexen spiegelten sich der Mangel an gesellschaftlichem Zusammenhalt und die uneinige politische Herrschaft wider. Die Zersplitterung der politischen Macht lähmte die Entscheidungsfindung. Die endlosen Streitigkeiten um den Titel König von Jerusalem, die sowohl die Ritterorden als auch die Kaufmannsgemeinschaften in rivalisierende Gruppen spalteten, sorgten dafür, dass 60 Jahre lang kein König in Akkons Königsburg residierte. Im Jahr 1250 erklärte sich die Stadt zeitweilig zu einer vom restlichen Königreich unabhängigen Kommune. Das einzige potenzielle Bindeglied war der Patriarch von Jerusalem, dessen Kreuzeskirche de facto Akkons Kathedrale und Versammlungsplatz war.

Wegen der Uneinigkeit innerhalb des Königreichs Jerusalem und der Schwäche der restlichen Kreuzfahrerenklaven in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts war nicht auszuschließen, dass ein weiterer, entschlossener Schlag der Muslime das Aus bedeutete. Doch dazu kam es nicht. Saladin, ein Kurde und Außenseiter, schuf für kurze Zeit das gemeinsame Gefühl eines religiösen Ziels innerhalb der islamischen Welt, sowie ein gefestigtes sunnitisches Reich, das sich von Ägypten und der nordafrikanischen Küste über Palästina und Syrien bis in den Norden des Irak und an die Ufer des Tigris erstreckte. Unter Saladin, der Goldmünzen mit der Legende »Sultan des Islam und der Muslime« prägen ließ, brannte das Feuer des Dschihad hell: Muslimische heilige Männer bekamen nach der Schlacht bei Hattin 1187 die Gelegenheit, die gefangen genommenen Kreuzritter zu enthaupten – eine Aufgabe, die sie geradezu mit erschreckender Dummheit ausführten. Doch dieser Eifer für einen Religionskrieg, durch den es Saladin gelungen war, seine zerstrittene Familie zu vereinen, ebbte nach seinem Tod 1193 schnell ab. Der islamische Nahe Osten zerfiel in streitsüchtige Fürstentümer der Aiyubiden, mit Ägypten als einzigem Einheitsstaat und ohne den Willen, die Franken zu vertreiben. Einzelne Herrscher handelten jeweils eigene Verträge mit den Eindringlingen aus dem Westen aus, schlossen mit ihnen gelegentlich sogar Bündnisse gegen rivalisierende Duodezfürsten. An die Stelle der Aggression traten eine Sehnsucht nach Frieden und die Angst vor neuerlichen Kreuzzügen. Jerusalem, dessen Bild als Heilige Stadt die Muslime geeinigt hatte, verlor an strategischer Bedeutung. Bemerkenswerterweise wurde sie (mit Ausnahme der dortigen heiligen Stätten des Islam) im Jahr 1229 einfach durch ein Abkommen wieder den Christen übergeben, ohne dass ein einziger Pfeil geflogen wäre – ein unvorstellbarer Verrat an dem islamischen Stolz. Auch wenn Jerusalem 1244 wieder von den Muslimen eingenommen wurde, blieb die Stadt potenzielle Verhandlungsmasse. Der letzte Aiyubiden-Herrscher von Ägypten al-Malik al-Salih gab seinem Sohn Turanschah folgenden weltlichen Rat: »Wenn sie [die Franken] die Küste und Jerusalem von dir fordern, so gib ihnen diese Orte ohne Zögern, unter der Bedingung, dass sie in Ägypten nicht Fuß fassen.«5 Die Aiyubiden hatten 1221 den Fünften Kreuzzug gegen Ägypten abgewehrt und waren zu so gut wie jedem Zugeständnis bereit, um eine Wiederholung zu verhindern.

Unter den Frommen löste diese feige Realpolitik scharfe Kritik aus. Der Historiker Ibn al-Athir beklagte, dass »wir unter den Herrschern des Islam keinen einzigen sehen, der wünscht, einen Dschihad zu führen oder der Religion … zu helfen. Jeder frönt seiner Kurzweil und seinen Vergnügungen und schadet damit seiner Herde. Dies macht mir mehr Angst als der Feind.«6 Die Kreuzfahrerstaaten wurden lediglich zu einem weiteren Akteur in dem Muster der Bündnisse und Fehden. Das Königreich Jerusalem stellte sich bei den internen Kriegen der Aiyubiden sogar auf die Seite von Damaskus und erlitt 1244 zu seinem Kummer in der Schlacht von La Forbie eine vernichtende Niederlage, in der die Kontingente der Johanniter und Templer fast ganz aufgerieben wurden.

Der Handel diente ebenfalls der Entspannung. Die Kreuzfahrerstaaten waren wirtschaftlich gesehen für die islamische Welt von Nutzen; insbesondere Akkon und Tyrus profitierten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gewaltig von dem Austausch, wofür sie vom Papst ebenso scharf kritisiert wurden wie ihre muslimischen Handelspartner von frommen Muslimen. Die Uneinigkeit der Muslime verschaffte den Franken jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Chance, nennenswerte Gebiete zurückzuerobern, die sie an Saladin verloren hatten. Phasen der Waffenruhe wurden von kleineren Kreuzfahrerunternehmungen von Europa aus unterbrochen. Der Fünfte Kreuzzug war im Nildelta gescheitert. Auf ihn folgte eine Reihe anderer kleiner Initiativen, die das Kräftegleichgewicht nicht verschieben konnten. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Friedrich II., kam 1228, während er vom Papst exkommuniziert war, in die Levante. Er handelte zwar die kurzzeitige Rückgabe Jerusalems aus, erregte aber dennoch hartnäckigen Widerstand im Königreich. Als er ein Jahr später von Akkon ablegte, bewarf ihn die Stadtbevölkerung mit Abfall. Theobald, der Graf der Champagne, führte 1239/40 einen Kreuzzug ohne Folgen an, wenig später Richard von Cornwall einen weiteren.

Die Unzulänglichkeiten sowohl der Aiyubiden als auch der Kreuzfahrerstaaten garantierten den Erhalt des Status quo. Ohne eine vereinigte muslimische Reaktion war es unmöglich, die Franken zu vertreiben; ohne Einheit unter den christlichen Fraktionen auf der anderen Seite aber auch blieb das Ziel, Jerusalem zurückzuerobern, ein Wunschtraum. Im Westen ließ die Aufmerksamkeit für Outremer allmählich nach. Der langjährige Streit des Heiligen Stuhls mit Friedrich II. und dessen Nachfolgern um die Herrschaft über Sizilien zog Energie und Mittel vom lateinischen Osten ab. Inzwischen hatten die Gläubigen die Möglichkeit, auch anderswo ein Kreuzfahrergelübde zu erfüllen – in Sizilien, im maurischen Spanien, in den Wäldern Preußens – oder sich sogar die Vergebung der Sünden zu erkaufen. Der Dichter Ricaut Bonomel, ein Templer, klagt:

Denn er [der Papst] vergibt gegen Geld Menschen, die unser Kreuz genommen haben

Und wenn jemand [die Pilgerfahrt in] das Heilige Land

gegen den Krieg in Italien eintauschen möchte,

so lässt unser Legat dies auch zu

denn er verkauft Gott und Ablässe gegen Geld.7

Im Herzen Asiens gerieten die Machtverhältnisse jedoch allmählich in Bewegung. Anfang des 13. Jahrhunderts begannen die Mongolen ihren großen Eroberungszug nach Westen, und noch vor ihrem Vormarsch wurden andere Nomadenvölker verdrängt. Die Auswirkungen dieser Entwicklung waren schon bald in der islamischen Welt zu spüren. Die Mongolen zerschlugen die herrschende persische Dynastie und trieben die Chwarismier, ihre türkischen Stammesherrscher, nach Palästina. (Eben dieses kriegerische Volk mit einem ähnlichen zentralasiatischen Ursprung plünderte Jerusalem im Jahr 1244.)

Unter den Völkern, die von dem mongolischen Vormarsch vertrieben wurden, war ein weiterer türkischer Stamm aus den zentralasiatischen Steppen, nämlich die Kiptschak. Wie die Mongolen waren auch die Kiptschak nomadische Zeltbewohner, die von weidenden Herden und Überfällen auf ihre Nachbarn lebten. Sie waren Animisten, die über die Vermittlung von Schamanen die Erde und den Himmel anbeteten. Ganz ähnlich waren sie auch ein Reitervolk, äußerst geschickte Krieger, sowie Experten beim Einsatz des Bogens und mobiler Taktiken der Reitereikriegführung. Nachdem man sie immer weiter nach Westen in eine Region nördlich des Schwarzen Meeres getrieben hatte, wurden junge Kiptschak bei Überfällen von feindlichen Stämmen ergriffen und zu den Sklavenmärkten Anatoliens und Syriens gebracht. Man bekehrte sie zum sunnitischen Islam und verkaufte sie an zahlungskräftige Käufer.

Die kämpferischen Qualitäten der Nomadenvölker waren rasch erkannt worden. Der Kalif von Bagdad rekrutierte bereits seit dem 9. Jahrhundert Stammeskrieger als Militärsklaven für sein Heer. Insbesondere für ihre einzigartige Fertigkeit zu Pferde wurden sie gerühmt: »Überfallen, jagen, reiten, einen Hinterhalt für gegnerische Stammesoberhäupter legen, Beute machen und in andere Länder eindringen. Ihre Anstrengungen waren ganz auf diese Aktivitäten ausgerichtet, und sie widmeten ihre ganze Tatkraft diesen Beschäftigungen.« Die Jungen der Kiptschak fingen vermutlich schon mit vier Jahren an, mit dem Bogen zu üben. »Auf diese Weise sind sie in der Kriegführung das geworden, was die Griechen in der Philosophie sind.«8

Diese sunnitischen Muslime in erster Generation bewahrten noch viele ihrer Stammesbräuche, doch sie brachten in ihre neue Religion den Eifer von Konvertiten ein. In einem Rückblick aus dem 14. Jahrhundert betrachtete der arabische Historiker Ibn Khaldun das Auftreten der türkischen Völker als günstige Fügung des Schicksals für die Erneuerung eines inzwischen dekadenten Islam. Die Ursache für diese Verweichlichung sah Ibn Khaldun darin,

»dass die Sesshaften [Völker] sich an Ruhe und Bequemlichkeit gewöhnt haben und eingetaucht sind in Wohlleben und Luxus. Sie haben ihre Sache, nämlich die Verteidigung ihrer Besitztümer und ihrer selbst, dem Statthalter und dem Herrscher anvertraut, der sie regiert … Sie verlassen sich auf die Mauern, die sie umgeben, und auf die Befestigungen, die sie schützen. … Die Nomaden aber sorgen für ihre eigene Verteidigung, weil sie von der Gemeinschaft abgesondert sind, in der Umgebung [der Stadt] ›wild‹ leben … und Mauern und Tore meiden. … Sie vermeiden zu schlafen, außer wenn sie kurz einnicken in Gesellschaft in den Sätteln und auf den Höckern [der Kamele]. Sie lauschen auf jedes leise Bellen und jeden Laut. … Tapferkeit ist für sie zu einer Charaktereigenschaft geworden und Mut zu ihrem Naturell.«9

Ibn Khaldun betrachtete die Turkvölker als einen von Gott gesandten Segen, um den Islam wiederzubeleben und die Einheit der Muslime wiederherzustellen.

Saladin, ein Kurde, hatte Heere angeführt, die nach ihren sittlichen Anschauungen türkisch waren. Innerhalb der unsicheren Dynastien des Nahen Ostens gab es eine lange Tradition der Rekrutierung solcher Militärsklaven, auf Arabisch Mamluken, übersetzt: »in Besitz genommene«. Ohne vererbte Bindungen zu den rivalisierenden Gruppen galt ihre ganze Loyalität ihrem Herrn. Wie ein Staatsmann es ausdrückte:

Ein einz’ger Knecht befehlsgetreu

Ist mehr als hundert Söhne wert.

Der Sohn ersehnt des Vaters Tod,

Der Knecht des Herren Heil begehrt.10

Das Konzept der Militärsklaven in der islamischen Welt unterschied sich grundlegend von der Sklaverei in Europa. Die Mamluken waren eher eine Art Elitesöldner als Leibeigene. Sie konnten bis zur Machtposition eines Emirs aufsteigen, wurden bezahlt, und ihre Beschäftigung konnte nicht weitergegeben werden: Deren Kinder konnten keinen Platz im Korps des Sultans erben. Es bestand immer eine Nachfrage nach frischen Rekruten aus den Steppen jenseits des Schwarzen Meeres.

Als der Aiyubiden-Prinz al-Malik al-Salih 1240 in Ägypten an die Macht kam, fing er an, kiptschakische Militärsklaven zu kaufen und sie nach Ägypten zu holen. Im Lauf seiner Herrschaft erwarb al-Salih ein Korps von rund 1000 solcher Mamluken. Viele kamen in eine Garnison auf einer Insel im Nil, von der sie auch ihren Namen hatte: die Bahriya – »das Regiment des Flusses«. Ein weiteres, kleineres Korps, die Dschamdariya, diente als al-Salihs Leibwache. Die isoliert in Kasernen lebenden und einem intensiven Training der Reitkunst, des Nahkampfes und Bogenschießens unterzogenen Mamluken entwickelten ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das ihnen im Kampf sehr nützlich war – sie aber potenziell zu einer Gefahr für ihre Herren machte, die sich immer stärker auf sie stützten.

Nach dem Verlust Jerusalems 1244 erging in Europa ein erneuter Kreuzzugsaufruf. Dieses Mal antwortete Ludwig IX., der französische König. Ludwig organisierte die am besten geplante und am sorgfältigsten finanzierte militärische Expedition, die jemals für die Rückeroberung Jerusalems auf die Beine gestellt wurde. Die groß angelegte Mission sollte unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Sie sollte den Zusammenbruch der Dynastie der Aiyubiden erleben; die Bahriya-Mamluken sollten von Sklaven zu Sultanen aufsteigen. Außerdem setzte der Kreuzzug eine Kette von Ereignissen in Gang, die am Ende zurück zu den Toren von Akkon im Jahr 1291 führen sollte.

Der Fall von Akkon

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