Читать книгу Die Logik des Museums - Roger Fayet - Страница 10
Abfall als Bedeutungsträger
ОглавлениеWenden wir uns praxisnaher nochmals der Frage zu, wie und zu welchen Zwecken Abfall ins Museum gelangt. Objekte, denen ehemals der Status von Abfall zukam, finden sich mit besonderer Häufigkeit in archäologischen Sammlungen. Neben Grabbeigaben, Opfergaben und Versteckfunden bilden Überreste von Siedlungen und der Inhalt von Abfalldeponien die Hauptbestandteile archäologischer Funde. Die Mehrheit der Objekte besteht aus alltäglichen Materialien und hat aufgrund des oftmals fragmentarischen Zustands einen nur geringen ästhetischen Wert, doch wegen ihrer Gewöhnlichkeit und ihrer Menge, also wegen ihrer statistischen Relevanz, besitzen sie einen hohen Informationswert: Siedlungsrelikte geben Auskunft über soziale Strukturen, Bruchstücke von Gefässen enthalten Informationen über damals zur Verfügung stehende Werkstoffe und Techniken, Speisereste erlauben Rückschlüsse auf Ernährungsgewohnheiten. Der Transfer archäologischer Abfälle in den Bereich der wertvollen Dinge geschieht, weil sie als Zeichen behandelt werden, die auf anthropologische und soziale Wirklichkeiten verweisen, die als solche nicht mehr Gegenstand einer direkten Untersuchung sein können. Im selben Sinn werden die Fundstücke im Museum ausgestellt: als Zeichen für etwas Abwesendes, dem nur indirekt über noch vorhandene Relikte und deren Deutung Präsenz verliehen werden kann.
Im Hinblick auf das Zusammenwirken von Fortschrittsdynamik, Abfallproduktion und Musealisierung ist allerdings von Belang: Die blosse Tatsache, dass etwas nicht mehr da ist, bietet allein noch keinen hinreichenden Grund für dessen substituierende Repräsentation. Nur weil in der fortschrittsorientierten Kultur der Moderne mehr Veraltetes anfällt, muss dieses nicht zwingend musealisiert werden – zumal es zu den manchmal geradezu schlachtrufartig vorgebrachten Paradigmen der Moderne gehört, sich die Vergangenheit vom Leib zu schaffen: «Détournez le cours des canaux pour inonder les caveaux des musées! … Oh! qu’elles nagent à la dérive, les toiles glorieuses!»17
An dieser Stelle lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, in welchem Zeitraum es zu jener markanten Zunahme an Museen kam, die Lübbe argumentativ in Anschlag bringt. Die statistischen Vermessungen der Situation in der Schweiz, einem Land mit sehr hoher Museumsdichte, zeigen deutlich: Die Phase des starken Museumswachstums betrifft die Jahre von 1970 bis heute.18 Während in der Zeitspanne von 1850 bis 1950 zwischen drei bis 34 Museen pro Jahrzehnt gegründet wurden und es in den 1950er- und 1960er-Jahren je rund 70 waren, betrug die Anzahl der Neugründungen in der Zeit von 1970 bis 2010 etwa 140 bis 200 pro Dekade. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus den Zahlen anderer Länder, zum Beispiel aus den von Lübbe ausführlich zitierten Statistiken für Deutschland.19 Das heisst jedoch nichts anderes, als dass das «Zeitalter historisch singulärer Expansion der Kulturmusealisierung»20 nicht etwa deckungsgleich ist mit jenem der Moderne, fasst man diese auch noch so kurz, sondern – will man sich denn überhaupt epochenbegrifflich festlegen – mit der Postmoderne einsetzt.
Nun versteht sich von selbst, dass nicht alle Phänomene, die sich im temporalen Radius der Postmoderne ereignet haben, etwas mit ebendieser zu tun haben müssen. Auch sind andere Gleichzeitigkeiten zu konstatieren, wie etwa die Parallelität von steigenden Museumszahlen und Expansion des Kunstmarkts21 - und damit auch die Synchronizität von Museumsboom und allgemeinem Wirtschaftswachstum, Letzteres wiederum verbunden mit entsprechender Vermehrung der von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Ressourcen. Doch verortet sich die gesteigerte museale Vergegenwärtigung des Vergangenen nicht nur rein äusserlich-temporal in der Postmoderne, sondern sie korrespondiert mit deren inneren Verfassung als Nachbearbeitung der Moderne und ihrer Defizite. Die moderne Orientierung nach vorne, der Kult des Neuen, die «Feier des Dynamismus»,22 in der sich nach Jürgen Habermas «die Sehnsucht nach einer unbefleckten, innehaltenden Gegenwart aus [spricht]», räumt mit der Vergangenheit, ob noch vertraut oder schon fremd geworden, gründlich auf. Über die Moderne als «Exklusivismus in permanenter Bewegung»,23 der «in seiner Ausschliessungskraft sein revolutionäres Prinzip» besitzt (Peter Sloterdijk), ist viel nachgedacht und geschrieben worden, was hier nun auszubreiten wäre. Um gleich auf den Punkt zu kommen: Die Institution Museum, ihrem Wesen nach Schauplatz der Repräsentation von Abwesendem, verhält sich gegenüber den Reduktions- und Entledigungsschüben der Moderne komplementär und fungiert von Anbeginn als einer der Behandlungsorte für die aus ihr resultierenden defizitären Erfahrungen. Es ist somit nur folgerichtig, dass das Museum den mit Abstand stärksten konjunkturellen Anschub in der Postmoderne erlebt, in der die Nachbereitung der Moderne und die Beschäftigung mit ihren Defiziten das Epochenprogramm ist. Dazu passt, dass auch die Museologie, ein ständiger Begleiter der institutionellen Praxis des Museums seit seinen Anfängen,24 in den Jahren der Etablierung postmodemer Positionen erstmals in den Rang einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin erhoben wird.25