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Fremdheitsschwund

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So viel zur empirischen Unterfütterung eines Museumsverständnisses, das in der Aufnahme von fortschrittsbedingt anfallenden Vergangenheitsrelikten und ihrer kompensatorischen Zurschaustellung die Grundleistungen des modernen Museums und die Ursachen für seine Erfolgsgeschichte sieht. Allerdings kollidiert dieses Deutungsmuster mit einem Befund, der sich dem Konzept des Ausgleichs von Vertrautheitsverlusten entgegenstellt: Viele museale Gegenstände entstammen einer zeitlich, geografisch oder gesellschaftlich dermassen entfernten Herkunft, dass sie zur Erzeugung von Vertrautheitserlebnissen gar nicht geeignet sind. Der gravierte Griff einer steinzeitlichen Speerschleuder, der ägyptische Sarkophag, der Trophäenkopf aus der präkolumbischen Nazca-Kultur, der barocke Prunkpokal einer Handwerkerzunft, die Vedute der Stadt Venedig aus dem 17. Jahrhundert, die Ngil-Maske der Fang aus Gabun, der Originalzahn eines spitzmausartigen Säugetiers aus der Triaszeit – die Erfahrungen, die sich in der Betrachtung solcher Objekte machen lassen, haben kaum etwas mit Vertrautheit zu tun, hingegen viel mit Fremdheit, mit Alterität. Sichten wir die Sammlungen der Museen im Hinblick auf Vertrautes und Fremdes, so finden wir weniges, das aus unserer eigenen Lebenswelt entstammt, vieles jedoch, das uns fremd und schwer verständlich erscheint. Gottfried Korff nennt das Museum «die Institution, die das kulturell Andere in sein Recht setzt, […] weil in ihm Dinge aus räumlich und zeitlich entfernten Welten gesammelt, aufbewahrt und dem Augensinn dargeboten werden»,9 und er formuliert zugespitzt: «Der, die, das Fremde ist Gegenstand des Museums.»10 Von Peter Sloterdijk wird es als «xenologische Institution»11 beschrieben, die den Besucher in einen «intelligenten Grenzverkehr mit dem Fremden»12 verwickle und so als «Schule des Befremdens»13 fungiere. Gerade Blockbuster-Ausstellungen wie die Azteken- Schau in London, Berlin und Bonn, Tutanchamun in Basel, Das MoMa in Berlin erreichten die Publikumsmassen nicht mit dem Versprechen, im Museum etwas Vertrautes, aber aussermuseal nicht mehr Vorhandenes wiederzufinden, sondern mit der Aussicht auf eine Begegnung mit dem noch Unbekannten.14

Nehmen wir den empirischen Befund zur Kenntnis, dass das Museum mehr noch als der Speicher des Eigenen ein Aufbewahrungsort des Anderen ist, und bleiben wir vorerst einmal jenem Denkmodell treu, das Lübbes Museumstheorem als Grundannahme dient und besagt, dass kulturelle Tätigkeit geschieht, um zivilisatorische Defizite zu kompensieren (ein Paradigma, das auch von Lübbes Lehrer Joachim Ritter15 und von Odo Marquard16 vertreten wurde), dann müsste alternativ zur oben ausgeführten Deutung des Museums als identitätssichernde Bewahrungsanstalt für veraltungsbedingt Ausgeschiedenes Folgendes in Betracht gezogen werden: Die Funktion des Museums besteht vor allem darin, Möglichkeiten zur Begegnung mit dem Fremden anzubieten und damit jenen Schwund an Fremdheitserfahrungen zu kompensieren, der aus dem durchschlagenden Erfolg der wissenschaftlich-technischen Zivilisationsleistungen und ihrer globalen Verbreitung resultiert. Denn zur Moderne gehört nicht allein die kulturelle und ökonomische Praxis der permanenten Überbietung des Alten durch das Neue, sondern auch eine drastisch verschärfte Globalisierungsdynamik, die eine Verminderung von Alteritäten zu ihren Folgen zählt. Was bedeutet, dass im Spektrum der «Nebenwirkungen» der Moderne eben nicht nur mit der veraltungsbedingten Ausmusterung von vertrauten Beständen, sondern auch mit dem massiven Abbau von Möglichkeiten zur Erfahrung des Fremden zu rechnen ist. Die steile Karriere der Institution Museum könnte also darin begründet sein, dass dem Publikum ermöglicht wird, sich in ein Verhältnis zum Fremden zu setzen und selbst das Eigene als durch historische Distanzierung fremd Gewordenes wahrzunehmen. In eine Lübbeske Formel gebracht: Durch die Musealisierung des zeitlich, geografisch oder sozial Anderen kompensieren wir Verluste an lebensweltlichen Fremdheitserfahrungen, verursacht durch den globalisierungsbedingten Abbau kultureller Differenzen und durch die auf übereinstimmender Orientierung am Funktionalismus beruhenden Angleichungstendenzen in der modernen Dingwelt. Auch ein solches Deutungsmuster basiert aber auf der Setzung, dass sich kulturelle Tätigkeit primär als kompensatorische Teilbehebung zivilisatorischer Defizite vollzieht und damit auch die fortschreitende Musealisierung als eine zur dominierenden gesellschaftlichen Dynamik gegenläufige Entwicklung zu verstehen ist.

Die Logik des Museums

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