Читать книгу Unter fremdem Himmel - Roland E. Koch - Страница 8
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ОглавлениеIch klemmte die Schläuche auf den Gepäckträger, bestieg mein Rad und suchte den Rückweg. Inzwischen regnete es, mein neuer Wollmantel war nicht wasserdicht, saugte sich langsam voll und wurde schwer. Die Vögel sangen, trotz des Regens, wie im Mai, und ich dachte, dass ich alles ändern konnte, dass es noch nicht zu spät war für mich. Ich suchte im Fahren die Papierkörbe ab und fand Zeitungen der letzten Tage, die ich mitnahm.
Alles war hier flach und von Weitem sichtbar. Ein paar Gestalten saßen unter den Vordächern der Geschäfte, ich fuhr in die Nähe des Bahnhofs und beobachtete die Obdachlosen, die sich unter einem überdachten Fahrradständer versammelt hatten. Viele Frauen waren jetzt unterwegs, ich sah ihnen an, dass sie etwas kaufen würden, das sie nicht brauchten, dass ihre Lust in diesem Gehen und Kaufen bestand, nicht lange an den Dingen interessiert war, und ich wünschte mir dringend, dass eine von ihnen mir Geld gab, nur eine, damit ich mir eine Pelerine oder ein Zelt oder falsche Papiere kaufen konnte. Morgen musste wieder einer von uns zur Kirche, die ausgemusterten Lebensmittel abholen.
Ich fuhr durch große Pfützen, der Weg war aufgeweicht, und ich geriet manchmal ins Rutschen. Die Mühle lag dunkel und scheinbar verlassen da. In der Scheune zündete ich die Kerze an. Ich legte die Schläuche auf die Werkbank und pumpte sie auf, um zu sehen, ob sie dicht waren. Dann ging ich ins Haus, ich hatte Hunger und wollte etwas zu essen mitnehmen für die Nachtarbeit.
Als ich die Tür zur Diele öffnete, kam der kleine Junge aus der Küche, rannte auf mich zu, packte mich am Bein und hielt mich mit seinen kräftigen Armen fest, dabei seufzte er immer wieder und sagte einen Laut oder ein Wort, das wie »Roddy« klang. Er drückte sich an mich, als habe er jemanden wiedergefunden, den er heftig vermisst hatte, auch ich umarmte ihn und streichelte seine Schultern. Er sah mich nicht an, aber ich spürte seine Angst, seine Verzweiflung und seinen Wunsch durch die Hände und Arme, durch seine Stimme, die immer wieder dasselbe Wort zu sagen versuchte, und ich antwortete besänftigend mit demselben Wort.
Valentina stand in der Tür und sah uns zu. Als Roddy, so nannte ich ihn jetzt, mich losgelassen hatte, rannte er zwischen ihren Beinen hindurch in die Küche, ich wollte ihm folgen, aber an der Schwelle ließ Valentina mich nicht weiter und umarmte mich. Ich schloss die Augen, und obwohl ich spürte, wie unbiegsam mein Körper blieb, wie sperrig und widerstrebend, drückte ich auch Valentina an mich. Es war nichts zu sagen. Es war nichts zu denken.
Valentina hatte Tee gekocht, wir aßen dazu Nudeln mit Salami, und ich fühlte mich schnell besser. Ich erzählte von dem Job, den ich vielleicht bekommen konnte. Roddy hob den Kopf, als müsse er unbedingt etwas mithören, das für ihn lebenswichtig war, und wir sein Schicksal beratschlagten, als ich sah, dass seine Brillengläser verschmiert waren. Ich wollte ihm die Brille abnehmen, um sie abzuwaschen, aber er schrie und wehrte sich.
Roddy, sagte ich, aber er kämpfte mit aller Kraft um seine Brille, und ich ließ sie los.
Du brauchst Papiere, wenn du arbeiten willst, sagte Valentina, sonst fliegst du sofort auf. Die Besitzerin der Mühle soll jemanden kennen, der Beziehungen hat. Du musst mir ihr sprechen.
Du brauchst auch Papiere, sagte ich.
Valentina folgte mir mit einer zweiten Kerze in die Scheune und half, ein Fahrrad fertigzumachen, damit wir beide eins hatten. Roddy hatte sich inzwischen auf sein Bett gelegt.
Nimmt er die Brille nur nachts ab?, fragte ich.
Ja, es wäre so gut, wenn er sprechen könnte, wenn er sagen könnte, was er will, seufzte Valentina.
Und Roddy, ist das sein Name?
Keine Ahnung, ich habe das zum ersten Mal gehört. Die Leute, die ihn zurückgelassen haben, sind Russen, aber ich weiß nicht, wer seine Eltern waren.
Ich sah Valentina aufmerksam an, aber mir war, als gleite auch mein Blick unwillkürlich von dem ab, was ich fixierte, als laufe er eigensinnig durch den Raum und gehorche mir nicht.
Sie nahm meine rechte Hand und legte sie auf ihre Wange. Ich spürte nichts, ich betrachtete sie und wünschte mir, in sie hineinsehen oder -tasten zu können, eine Schwingung oder Strömung zu fühlen, aber es kam keine Antwort. Valentina knöpfte ihre Strickjacke auf. Ich legte meine Hände über ihre und hielt sie fest.
Plötzlich lachte sie und stand auf.
Wann kommst du zurück?, fragte sie.
Je nachdem, wie lange ich arbeiten kann, sagte ich. Vielleicht habe ich dann schon Geld.
Ich spürte ihre Enttäuschung, aber ich wollte irgendetwas Gutes sagen, sie nicht allein lassen.
Du kannst mich ruhig wecken, sagte sie.
Ich ging in das Büro und wollte mich einen Moment ausruhen. Als ich wach wurde, hatte ich einen verstörenden, unbegreiflichen Traum gehabt. Ich konnte kaum aufstehen und nach der Uhr sehen, wie eine schwere Decke hatte er sich über mich geschoben und hielt mich fest. Ich versuchte, aufzustehen und den Traum abzuschütteln, ich verstand nichts, das war das Schlimme.
Auf meiner Uhr war es schon nach sieben, und ich musste mich beeilen. Ich nahm das andere Rad, damit Valentina ihres hatte, aber das Licht fiel immer wieder aus, und ich kam nicht so schnell voran, wie ich gedacht hatte. Es war plötzlich wie in einem neuen Traum, ich strampelte und strampelte, aber der Weg wurde immer länger. Ein Auto überholte mich, und ich wünschte mir, so schnell sein zu können.
Endlich erreichte ich die Straße mit den Geschäften. Alles lag schon im Dunkeln, und ich bog in die hintere Einfahrt ein. Das Fahrradgeschäft war beleuchtet, aber die Tür zur Werkstatt verschlossen. Ich probierte es vorn, klopfte, rief, aber niemand machte auf. Ich war eine halbe Stunde zu spät, wahrscheinlich hatte der Besitzer enttäuscht aufgegeben, auf mich zu warten und würde mir auch keine neue Chance geben. Ich war bei der ersten Verabredung unpünktlich gewesen, das sagte alles.
Ich schämte mich, es war sinnlos gewesen zu schlafen und zu träumen. Ich musste warten, bis der Besitzer morgens kam und ihm alles erklären. Ich musste versuchen, das, was ich dachte zu ordnen. Ich hockte mich in den Eingang, es war nicht mehr so kalt, aber ich konnte kaum hier sitzen bleiben. Wenn mich jemand entdeckte, wäre ich sofort verdächtig. Ich stand trotzdem nicht auf und dachte an Valentina. Ich konnte sie nicht vor mir sehen, sosehr ich mich auch anstrengte, sie war zu nah, sie hatte den Raum vor meinem Gesicht nicht verlassen. Sie wirkte auf mich nicht mehr jung oder hübsch oder anziehend, sie wirkte wissend, einsehend, sie spürte mehr, als sie sagte. Wahrscheinlich hatte ich davor Angst.
Erst dann kam ich auf die Idee, unter der Fußmatte nachzusehen, und fand einen Schlüssel, in einen Zettel gewickelt. Sieben Räder waren zu machen, Herr Steinke hatte alles aufgeschrieben. Ich sollte am nächsten Abend pünktlich sein, dann würde ich das Geld bekommen, den Schlüssel sollte ich wieder unter die Matte legen.
In der Werkstatt war es warm, es gab ein Waschbecken, und ich trank Wasser aus dem Hahn. Ich ließ die Jalousien herunter und begann mit der Arbeit. Alles, was ich brauchte, war da, und ich kam schnell voran. An jedem Fahrrad klemmte ein Zettel mit der genauen Fehlerbeschreibung, ich konnte den Punkt, den ich erledigt hatte, abhaken.
Gegen zehn kam sogar Herr Steinke noch einmal vorbei, schaute, was ich schon geschafft hatte, brachte mir ein Wurstbrot und eine Dose Cola und gab mir seine Telefonnummer, für den Fall, dass ich doch eine Frage hatte. Ich schätzte, dass ich so bis zwei oder drei brauchen würde. Außerdem suchte ein guter Kunde jemanden, der im Garten ein paar Bäume fällte, ohne großes Aufsehen, ob ich das auch könne?
Ich musste Ja sagen, auch wenn ich, jetzt im Frühjahr, nicht viel davon hielt. Ich nickte. Ich war froh, als er wieder ging und mich allein arbeiten ließ. Ich arbeitete wie ein Automat, das war nicht ich, ich arbeitete, um wegzukommen, nicht stehenzubleiben, mich auszuhalten, es auszuhalten.
Und während ich arbeitete, hörte ich eine leise, ernste, traurige Musik, von einem Streichinstrument gespielt, ein tiefer Ton, der sich in die Höhe aufzuschwingen versuchte, eine alte Musik, die doch so war, als höre man sie zum ersten Mal, als spreche sie von der Verlorenheit und kenne den Weg hinaus. Sie war wie eine Linie, die durch die Felder lief, wie der Weg, den ich gegangen und gefahren war, wie ein Band, das mich an etwas festhielt, das ich nicht verlieren wollte. Es klang, als träte ein ungeeignetes Instrument diese Reise an und sich allmählich verjüngte, beweglicher wurde, als wüchse es mit der Musik, die es nur von oben empfing, ja als sei das Instrument ein Resonanzkörper, aufgestellt, um die Schönheit dieses Tons einzufangen. Wie ein Seufzen, das aus der Tiefe kam, dorther, wohin ich noch nie hatte sehen können.
Wie die Töne sich immer weiter emporschraubten, so hatte ich einmal nach oben an die Decke meiner Zelle geblickt, wo durch eine Art Glasbaustein manchmal etwas Tageslicht sichtbar wurde, hatte es angebetet, mich nach ihm gesehnt, ihm die Kraft zugesprochen, mich zu heilen oder zu retten. Die Musik war schön, und ich lauschte jetzt mit dem ganzen Körper, sie schnitt tief in mich ein, wie ein Faden, aber sie entfernte zugleich etwas, das vernäht und zugewachsen gewesen war.
So träumte ich von einer Vergangenheit, und ich dachte nicht an die Gegenwart. Um zwei und um drei war ich noch lange nicht fertig, ich aß und trank etwas, dann schlief ich einmal kurz ein. Gegen fünf wachte ich auf und machte die restlichen Räder fertig. Ich blieb in der Werkstatt, bis es dämmerte, es gefiel mir, der Geruch nach Gummi und Öl war schön, ich hätte am liebsten Tag und Nacht hier zugebracht, aber ich wollte mich Herrn Steinke gegenüber diesmal zuverlässig zeigen. Um acht legte ich den Schlüssel unter die Matte und machte mich auf den Rückweg.