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Lord Gadennyn

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Der Ritter steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Einen Augenblick später trabte der Apfelschimmel in den Felsenkessel hinein, gefolgt von dem kleineren Rappen, der an der Leiche schnupperte, schnaubte und mit den Augen rollte. Traigar konnte das Weiße darin sehen. Mit zitternden Flanken blieb das Tier neben seinem toten Herrn stehen. Es schien zu trauern.

Der Mann in der Rüstung stellte sich als Hauptmann Gother vor. Er trat neben den Toten und schlug dessen Kapuze zurück. Der Schädel war kahl und ebenso mit roten Zeichen bedeckt wie sein Gesicht, Tätowierungen, wie Traigar jetzt erkannte. Also doch ein Mensch, kein Dämon.

Hauptmann Gother wandte sich Traigar zu. „Kannst du reiten?“, wollte er wissen. Der Junge schüttelte den Kopf. „Dann wirst du hinter mir auf meinem Pferd sitzen.“

Er hob den Toten hoch, legt ihn bäuchlings auf den Sattel des Rappen und band ihn mit einem Strick fest. Den Kampfstab steckte er unter den Sattelriemen. Er führte den Hengst zu seinem eigenen Pferd und band die Zügel an dessen Sattelknauf. Dann stieg er auf den Apfelschimmel und reichte dem Jungen die Hand. „Los!“, befahl er. Mit einem kräftigen Schwung hob er Traigar hinter sich aufs Pferd und riet ihm, sich an seinem Schwertgurt festzuhalten. Er gab dem Tier die Hacken, und es setzte sich in Trab.

Traigar klammerte sich an Hauptmann Gother fest, als ginge es um sein Leben. Die ungewohnte Schaukelbewegung, das ungleichmäßige Auf und Ab, Vor und Zurück bei jedem Schritt des Pferdes ließen seine Muskeln verkrampfen.

Nach Weile gelang es ihm, das Schwanken seines Körpers der Bewegung des Schimmels anzupassen. Er entspannte sich etwas. Zunächst ging es den gleichen Weg zurück, den Traigar gekommen war. In dem grünen Tal bogen sie auf eine schmalere Straße ab, die in die Hügel hinauf führte.

Bisher hatten beide geschwiegen. Nur mit Mühe gelang es Traigar, seine Hemmung, den Mann vor ihm anzusprechen, zu überwinden.

„Ihr seid ein Ritter, nicht wahr?“, vermutete er.

Gother schnaubte verächtlich.

„Ritter? Weißt du überhaupt, was ein Ritter ist, Junge? Nein? Dann will ich dir es erzählen. Ritter findet man nur bei Hofe: verachtungswürdige Gesellen, die sich in Samt, Brokat und Seide kleiden. Sie pudern sich und bespritzen sich mit Rosenwasser. Ihre Zeit verbringen sie mit Fress- und Saufgelagen und mit Huren, und einmal im Jahr lassen sie sich in einer Blechtonne von vier Knappen auf ein Pferd hieven, reiten aufeinander los und versuchen sich mit langen Stangen gegenseitig aus dem Sattel zu stoßen. Das nennen sie kämpfen! Der Verlierer bricht sich entweder den Hals oder – wenn er Glück hat – das Steißbein. Der Sieger erhält dann von einer holden Maid ein parfümiertes Tüchlein, macht Kratzfüße und versucht, sie nachts in sein Bett zu bekommen.

Ritter sind überheblich und dumm. In der Schlacht kleiden sie sich wie Paradiesvögel, tragen polierte silber- und goldplattierte Rüstungen, die ein Armbrustbolzen durchdringt wie ein Küchenmesser den Käse. Als ideale Zielscheiben behält der König sie lieber in der Nachhut. Sie dürfen mit ihm von seinem Feldherrnhügel aus zuschauen, wie richtige Männer kämpfen und sterben. Wenn der König einen Sieg erringt, brüsten sie sich natürlich damit und erzählen jedem, der es hören will oder nicht, von ihren unvergleichlichen Heldentaten.

Ritter sind nichts anderes als die Schoßhunde des Königs. Vor vielen hundert Jahren waren sie einmal seine Wachhunde, treu, ergeben, bissig und mutig. Heute geben sie sich nur noch unterwürfig. Sie winseln den König an, betteln um seine Gunst und beißen höchstens andere weg, die ebenfalls nach seiner Aufmerksamkeit gieren.

Nein, ich bin kein Ritter! Ich bin ein Soldat!“

„Dann dient Ihr in einem Heer?“

„Oh nein. Nur der König hat das Recht, zu den Waffen zu rufen. Ich befehlige Lord Gadennyns Wache, dreihundert ausgezeichnet ausgebildete und gut bewaffnete Männer.“ In seiner Stimme schwang der Stolz auf seine Leute mit. „Einhundert Berittene und zweihundert Fußsoldaten. Wir gewährleisten die Sicherheit unseres Herrn und seiner Untertanen und sorgen für Ruhe und Frieden in seinem Land.“

Er schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort:

„Wir sind bald da. Lord Gadennyn dürfte dich sehen wollen. Es wird Zeit, dir ein paar Regeln beizubringen. Erstens: Beuge das Knie vor ihm, sieh dabei nicht auf den Boden, sondern in seine Augen. Zweitens: Sprich ihn an mit Euer Gnaden oder Mylord. Drittens: Sage immer die Wahrheit, auch in unbedeutenden Dingen. Wenn du lügst, wird er es merken. Viertens, sage die Wahrheit, besonders wenn es sich um wichtige Dinge handelt! Fünftens: Sprich stets die Wahrheit! Sechstens und Siebtens und Achtens: Halte dich an die Wahrheit! Was wirst du also tun, wenn er dich fragt, wie du den Schwarzgekleideten besiegt hast?“

Traigar zuckte zusammen. Er versuchte, Zeit zu gewinnen:

„Hauptmann Gother, Ihr wart es doch, der ihn getötet hat.“

„Falsche Antwort!“

„Ich werde ihm…“

„Du wirst ihm sagen, dass du die Gabe besitzt. Nenne sie!“

„Ich weiß nicht, was Ihr meint.“

„NENNE SIE!“

„Ich … ich beherrsche etwas … Magie.“

Jetzt war es heraus. Würde Traigar nun auf einem Scheiterhaufen landen? Er bemerkte, wie sich Gothers Schultern entspannten.

„Nun, es wird dich freuen, dass du nicht der Einzige in Lord Gadennyns Diensten sein wirst, der diese Gabe besitzt. Seine Lordschaft steht ihr durchaus wohlwollend gegenüber.“

Traigar seufzte erleichtert. Dann übermannte ihn die Neugier:

„Wer … nun ich meine…“

„Ein alter Mann namens Harold. Wie du ein Magier, wenn auch kein großer. Er wird sich sehr freuen, dich kennenzulernen.“

Der Wald, den sie durchquerten, öffnete sich nun und gab den Blick auf ein Hochtal frei. Ein Bach schlängelte sich hindurch, und die Straße führte an ihm entlang. Die Dämmerung zog herauf, doch die Sichtweite reichte noch bis zum schluchtartigen Ende des Tals. Dort erhob sich eine steile Felswand, über die der Bach in einer Kaskade zu Tal stürzte, und am Fuß der Wand lag eine Burg. Der Junge hatte schon einige Burgen gesehen, und die meisten von ihnen wirkten größer und prächtiger, doch diese Festung war etwas Besonderes: Sie besaß keine Mauern! Ein stämmiger und mit Schießscharten übersäter Turm, etwa einhundert Fuß hoch, umgeben von mehreren zwei- bis dreistöckigen Gebäuden, die anscheinend als Wohnhäuser und Stallungen dienten. Vom obersten Stockwerk des Turms spannte sich eine steinerne Brücke hinüber bis zur schroffen Felswand und endete in einem stalltorgroßen Loch, achtzig Fuß über dem Boden – vielleicht der Eingang zu einer Höhle?

Trotz des Fehlens einer Burgmauer schien die Festung alles andere als wehrlos. Auf halber Strecke zwischen Traigar und der höher liegenden Burg hatten die Erbauer einen Erdwall aufgeschüttet, der sich quer durch das Tal zog und bis zu den steilen Wänden der Schlucht reichte. Auf dem Wall verlief ein Wehrgang, und Traigar entdeckte Wachen, die dort patrouillierten. Eine halbkreisförmige, ummauerte Öffnung, verschlossen durch ein schweres Eisengitter, durchbrach die Mitte des Damms. Durch seine armdicken Stäbe floss der Bach, den eine Quelle aus den dahinter liegenden Bergen speiste. Der Wehrwall besaß einen zehn Fuß breiten Durchlass, verschlossen durch ein schweres, zweiflügeliges Tor aus dicken Bohlen.

Als die Reiter das Tor erreichten, nannte Gother laut seinen Namen. Ein Mann der Torwache, der vom Wehrgang misstrauisch auf die Ankömmlinge herabblickte, erkannte ihn.

„Oh Hauptmann, welche Freude, Euch gesund und wohlbehalten wieder zu sehen. Ihr seid lange fortgewesen.“

Man öffnete ihnen das Tor, und sie ritten in die Burg hinein. Im Innenhof eines u-förmigen Gebäudes hielt der Hauptmann an, stieg vom Pferd und half Traigar hinab. Mehrere Männer kamen herbei und begrüßten Gother erfreut und ehrerbietig. Der erwiderte die Grüße und gab dann Befehle, die Pferde zu versorgen und den Leichnam des Schwarzgekleideten im Gebetshaus aufzubahren. Danach wandte er sich an einen humpelnden, etwas dicklichen Jungen, kaum so alt wie Traigar und etwas kleiner, der karottenrotes Haar, grüne Augen und ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht besaß.

„Klumpfuß, das ist Traigar, ein wichtiger Gast von Lord Gadennyn. Führe ihn in ein Gastzimmer, gib ihm etwas zu essen und zu trinken und kümmere dich um ihn. Er braucht neue Kleider und ein Bad.“

Traigar wollte einwenden, er habe erst vor wenigen Tagen gebadet, doch Gother winkte ab.

„Ich gehe jetzt zu seiner Lordschaft und berichte ihm. Später lasse ich dich rufen. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe!“ Er wandte sich um und entfernte sich.

Der rothaarige Junge bat Traigar, ihm zu folgen und steuerte den Eingang eines mehrstöckigen Hauses an.

„Dein Name ist doch bestimmt nicht Klumpfuß, oder?“, wunderte sich Traigar.

„So nennen sie mich alle, aber es ist nicht böse gemeint. Ich bin nun einmal mit einem verkrüppelten Fuß geboren. Eigentlich heiße ich Eric.“

„Dann werde ich dich auch bei deinem richtigen Namen nennen. Sag mir, Eric: Ist Lord Gadennyn ein guter Herr?“

„Nun, ich glaube schon. Er ist gerecht, und man sagt auch, er sei weise. Seine Untertanen lässt er nicht hungern. Bei schlechten Ernten erlässt er ihnen einen Teil der Steuern. Doch ich bin nur ein Küchenjunge, diene ihm nicht selbst und sehe ihn daher kaum. Seine persönlichen Dienstmägde, seine Diener, seinen Koch und seinen Mundschenk höre ich schon bisweilen murren. Manchmal ist er streng, und sein Tadel kann wehtun. Wer einen Fehler macht, so erzählte mir Willis, sein Pferdeknecht, bekommt Gelegenheit, daraus zu lernen. Doch ein zweites Mal sollte er denselben Fehler besser nicht machen.“

Die Abendglocke hatte bereits geläutet, und Traigar schritt unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Der Raum wirkte größer als das ganze Haus in Stonewall, in dem er zusammen mit seinem Vater gelebt hatte. In der Mitte stand ein riesiges Bett mit vier hohen Bettpfosten und einem nachtschwarzen Baldachin aus Samt, bestickt mit kleinen weißen, gelben und orangenfarbenen Punkten: ein Sternenzelt in seiner vollen Pracht. Ein Kamin, in dem ein Feuer flackerte, erhellte, zusammen mit vielen Kerzen, die in Mauerhalterungen steckten, das Zimmer. Den Boden des Raums bedeckten kostbare Teppiche, die Wände schmückten bestickte Wandbehänge aus Brokat und einige Gemälde. Ein einziges Fenster ging hinaus zum Innenhof des Gebäudes, in dessen oberem Stockwerk Traigar nun wohnte. Draußen war es bereits dunkel, doch Öllaternen beleuchteten den Hof. Aus einigen Fenstern der Burggebäude drang Licht.

Neben seinem Bett standen ein bequemer gepolsterter Stuhl und davor ein schwerer Eichentisch. Ein schmutziger Teller, ein Weinkrug, ein geleerter Becher sowie eine Schale mit Obst bedeckten die Platte. Nachdem Traigar gebadet und sich neu eingekleidet hatte, hatte ihm Eric eine üppige Mahlzeit aus frischem, knusprigem Brot, einer Keule Lammfleisch mit Bratensoße, gegrillten Kartoffeln und gekochten Rüben aufgetischt. Traigar fand es köstlich. Und nun, nach dem fürstlichen Mahl, stand er in einem fürstlichen Gemach und trug fürstliche Kleidung. Wams und Hose waren aus dunkelblauem Samt. Um den Leib gebunden, trug er eine seidene, gelbe Schärpe. Die Füße steckten in weichen Lederschuhen. Der Junge blickte zweifelnd an sich hinab. Es schien ihm nicht recht, wie ein Hochgeborener behandelt zu werden. Die Sachen passten nicht zu ihm. Er hätte am liebsten wieder seine Gauklerkleidung angelegt, doch das konnte man vielleicht als Affront gegen seinen Gastgeber Lord Gadennyn auffassen. Dennoch: Die Schärpe schien ihm gar zu affig! Er legte sie ab und band statt ihrer einen Ledergürtel um, den er in einem Schrank fand. Er hoffte, der Lord würde es nicht bemerken.

Traigar fühlte sich nervös. Bald stünde er einem der mächtigsten Männer Koridreas gegenüber. Was würde der von ihm erwarten?

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ein Mann, ohne anzuklopfen, eintrat. Offensichtlich ein Wachsoldat: ganz in Leder gekleidet und mit einem Kettenhemd gerüstet, das nahtlos in eine Kopfhaube überging. Ein Halbhelm mit einem Nasenschutz bedeckte seinen Schädel. Stahlschienen schützten Beine und Arme. Die Füße steckten in hoch geschäfteten Lederstiefeln. Über der leichten Rüstung trug der Soldat einen blauen Überrock mit dem Wappen des Lords, ein Raubtierkopf mit fauchend aufgerissenem Maul. Am Gürtel hingen ein kurzes Schwert und ein Dolch in ihren Scheiden.

Jetzt erst fiel Traigars Blick auf das Gesicht des Mannes, und er erschrak. Es war von einer hässlichen Narbe entstellt, die seine linke Augenbraue spaltete, schräg über die Stirn nach oben lief und unter der Lederhaube verschwand. Der Mund mit den herabhängenden Winkeln ließ das Gesicht griesgrämig erscheinen. Die Augen des Mannes verstärkten diesen Eindruck. Klein, dunkel und tiefliegend, standen sie eng zusammen. Der schwarze, struppige Bart trug auch nicht dazu bei, sein Äußeres angenehm erscheinen zu lassen.

Doch dann lächelte der Soldat und strafte den ersten Anschein Lügen. In seinen Augen blitzte der Schalk, als er sich höfisch verbeugte, dabei seinen rechten Arm in einer weit ausladenden Schleife schwang und spöttelte:

„Ich grüße Euch, erhabene Magistät. Euer Ruf, einer der besten Zauberer zu sein, die das Königreich je gesehen hat, eilt Euch voraus. Ich heiße Dremion, man nennt mich auch Spaltschädel. Es ist mir eine große Ehre, Euch nun zu Eurem bescheidenen Gastgeber, Lord Gadennyn, begleiten zu dürfen.“

Traigar wusste nicht recht, ob ihn der Mann veralbern oder einfach nur nett sein wollte. Deshalb nickte er freundlich:

„Danke, Dremion. Gehen wir.“

Spaltschädel führte ihn die Treppe hinab und durch den Hof. Traigar blickte nach oben. Die Sterne funkelten schon, prächtiger als die am Baldachin seines Bettes. Der Mond stand voll am Himmel und tauchte eine Hälfte des Turmes, dem sie sich nun näherten, in silbriges Licht, während die der Felswand zugewandte Seite im Dunkeln lag. Traigar konnte nur schwach die bogenförmige Brücke erahnen, die hinüber zum Fels und in die Höhle hineinführte.

Auf ihrem Weg zum Turm erkundigte er sich bei seinem Führer:

„Eure Verletzung – wie ist das geschehen?“

Dremion lächelte wieder, seine weißen Zähne glitzerten raubtierhaft im Mondschein.

„Ein Zweikampf. In Shoal werden manchmal Turniere ausgetragen. Doch nicht Ritter und Lords streiten da um Ruhm und Ehre, sondern Söldner, Herumtreiber und allerlei zwielichtiges Gesindel kämpfen für Gold. Man kann viel Geld dabei verdienen, deshalb ist es auch für Soldaten eine große Versuchung, daran teilzunehmen. Die Regeln sind allerdings viel rauer als die der Turniere, die am Hofe stattfinden. Lord Gadennyn sieht das nicht gerne, aber er lässt es zu, solange es keine Toten gibt.

Nun, ich konnte der Verlockung des Goldes auch nicht widerstehen. Die ersten drei Kontrahenten habe ich im Schwertkampf besiegt. Um zu gewinnen, muss man seinen Gegner zu Fall bringen. Da wir schwere Rüstungen trugen, blieb es nur bei Blutergüssen und leichten Blessuren. Doch mein vierter Gegner erwies sich als Hüne von einem Mann, bewaffnet mit einer riesigen Streitaxt. Es gelang mir dennoch, den meisten seiner Schläge auszuweichen oder sie mit meinem Schild abzufangen, das allerdings nach und nach zu Kleinholz zersplitterte. Einmal erwischte er mich fast, doch ich wich aus, und als er vorbeistolperte, hieb ich ihm die Breitseite meines Schwerts mit aller Kraft ins Kreuz. Er strauchelte und fiel. Ich hatte gesiegt. Als er am Boden lag und sich auf den Rücken wälzte, beugte ich mich vor, um ihm die Hand zu reichen und ihm aufzuhelfen. Da schlug er mit voller Wucht zu. Die Axt spaltete meinen Helm und fast meinen Schädel. Tagelang schwebte ich zwischen Leben und Tod. Es dauerte Monate, bis die Wunde verheilte. Zu meiner Genugtuung schmort er seitdem im Kerker und muss dort noch viele Jahre bleiben, weil er die Turnierregeln verletzt hat. Außerdem habe ich ein hübsches Sümmchen verdient, meine Kameraden verehren meinen Heldenmut, und Hauptmann Gother behandelt mich mit Respekt, wenn auch Lord Gadennyn mich einen Idioten schimpft, weil ich mein Leben so leichtsinnig aufs Spiel gesetzt habe. Insgeheim ist er aber stolz auf mich. Man könnte also sagen, die Sache habe sich gelohnt, oder meinst du nicht?“

Traigar wurde einer Antwort enthoben, denn inzwischen hatten sie den klobigen Turm erreicht, der wie eine quadratische Säule vor ihnen aufragte. Er folgte seinem Begleiter eine hölzerne Außentreppe hinauf. Sie endete an einem Tor aus schweren Bohlen, beschlagen mit dicken Eisenbändern. Es stand offen, und sie traten ein. In der kleinen Eingangshalle gab es nur eine einzige, mit prächtigen Schnitzereien geschmückte Tür. Rechts und links davon führten Treppen hinauf und hinab.

„Wir haben noch etwas Zeit, Traigar. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich so nenne, oder klingt es nicht ehrerbietig?“ Er wartete die Antwort nicht ab und fuhr fort: „Seine Lordschaft beauftragte mich damit, dir sein Haus zu zeigen.“

Zusammen stiegen sie zwei Stockwerke tiefer. Dremion führte Traigar in einen geräumigen Keller. Sie betraten einen kühlen Raum mit einer gewölbten Decke. Hier stapelten sich Kisten, Wein- und Bierfässer. Schinkenkeulen und Räucherfleischstücke hingen an langen Schnüren von der Decke. Käseräder und Dauerwürste, Kartoffeln, Rüben, Schmalzfässer sowie Säcke mit Salz und Mehl und weitere Lebensmittel füllten zahlreiche Regale. Es schien genug, um die Bewohner der Burg für mehrere Monate zu versorgen.

Ein anderer Raum beherbergte Rüstungen und Waffen aller Art, angefangen von Schwertern und mit Nägeln gespickten Streitkeulen, über Speere und Schilde bis hin zu Armbrüsten und Bögen ohne Sehnen, die man, erklärte Dremion, eingefettet und aufgerollt, getrennt aufbewahrte. Hunderte von Köchern mit Tausenden von Pfeilen und Bolzen hingen an Gestellen. Die meisten Waffen und Rüstungen waren sorgfältig in Öltücher eingeschlagen, damit sie nicht rosteten.

Eine Treppe höher befand sich eine riesige Küche, die das gesamte Stockwerk einnahm. Hier arbeiteten unter den herrisch geraunzten Anweisungen eines zu Traigars Erstaunen lattendürren Kochs ein gutes Dutzend Küchenjungen und Küchenmägde, schnitten, rührten, kochten und buken. Die beiden Besucher fanden es unerträglich heiß in dem Raum und verließen ihn schnell wieder.

In dem Stockwerk, in welchem sich das Eingangstor befand, führte die geschnitzte Tür in eine weite Halle, die jedoch – abgesehen von ein paar Wandteppichen und einem kalten Kamin – leer war. Nicht einmal ein Tisch stand darin, ganz abgesehen von dem Thron, den Traigar erwartet hatte.

Die nächsten beiden Stockwerke enthielten die Zimmer der Bediensteten. Darüber befanden sich die Räume von Hauptmann Gother und Aturo Pratt, dem Sekretär des Lords, wie Spaltschädel ihm erklärte. Sie gingen jedoch daran vorbei und erreichten das oberste Geschoss. Hier endete die Treppe in einem Gang mit zwei Türen. Hinter der einen, so erklärte ihm sein Führer, lägen die Gemächer Lord Gadennyns, doch er führte den Jungen an ihr vorbei.

Traigar hob fragend den Blick zu Dremion. Der nahm eine Fackel aus einer Wandhalterung, zündete sie an einer Öllampe an, winkte Traigar, ihm zu folgen, und öffnete die andere, eisenbeschlagene Tür, die scheinbar ins Nichts führte. In die Dunkelheit dahinter drang kein Mondlicht vor. Sie befanden sich an der Rückseite des Turms, und vor ihnen schwang sich die bogenförmige Brücke hinüber zur Felswand. Dremion schritt mit hoch erhobener Fackel voran, und Traigar folgte ihm. Die etwa zwei Schritte breite Brücke besaß kein Geländer, und man sollte wohl besser nicht bei Sturm versuchen, sie zu überqueren, doch Traigar war im Zirkus schon über Hochseile balanciert. Der Blick in die schwarze Tiefe machte ihm nichts aus.

Sie durchschritten den Höhleneingang und folgten einem engen Tunnel, der sich bald erweiterte. Traigars Herz klopfte. Er ahnte, er würde seinen neuen Herrn hier treffen. Sie betraten eine riesige Kammer, weit wie eine Halle und hoch wie ein Tempel. Die weißen Wände schienen aus Kalkstein zu bestehen. Sie warfen das Licht zahlreicher Öllampen zurück, die rings herum in von Menschenhand hineingeschlagenen Nischen standen. In der Mitte der Felsenhalle befand sich ein mit heißem, dampfendem Wasser gefülltes, fast kreisrundes, flaches Becken, etwa zehn Schritte im Durchmesser. Darin sprudelte eine Springquelle. Ein Bach schlängelte sich aus dem Becken durch die Höhle und verschwand in einer der zahlreichen Spalten und Löcher, die in der kalkweißen Wand wie tiefschwarze, offene Münder gähnten. Ein paar Schritte rechts neben dem Becken stand ein großer Tisch, umgeben von zwölf Stühlen mit hohen Lehnen. Auf einem davon saß ein Mann. Er hatte den Stuhl so herumgedreht, dass er zum Höhleneingang blicken konnte. Traigar wollte unwillkürlich vor dem vermeintlichen Lord niederknien, doch Dremion zog ihn wieder auf die Füße. Jetzt erst erkannte er die Person, Hauptmann Gother, der ihm aufmunternd zulächelte. Dremion führte Traigar links um das Wasserbecken herum. Hinter der heißen Quelle stieg der Boden an und endete in einer höher gelegenen Plattform. Auf dem Podest stand ein gepolsterter Stuhl mit Armlehnen, schlichter als der in Traigars Zimmer, dennoch sah er in seiner erhöhten Position wie ein Thron aus. Der Mann, der darauf saß, wirkte allerdings kaum wie ein Lord. Er war in einfache, graue Wolle gekleidet. Lediglich eine silberne Halskette mit einem Anhänger in Gestalt eines Tigerkopfes – das Wappentier von Shoala – wies auf seine hohe Geburt hin. Das offene Maul des Tigers fasste einen schwarzen Edelstein ein. Lord Gadennyn – um ihn musste es sich handeln – war etwa vierzig Jahre alt, sein kurz geschnittenes Haar ergraute bereits und wich an der Stirn zurück. Seine Augen leuchteten wasserhell. Das glatt rasierte, kantige Gesicht wies scharfe Züge auf.

„Euer Gnaden: Traigar, der Magier“, stellte ihn Dremion vor. Traigar kniete nieder und senkte die Augen, bis ihm einfiel, was Gother ihm eingeschärft hatte. So blickte er seinem neuen Dienstherrn direkt ins Gesicht. Dieser musterte ihn mit scharfem Blick, dem der Junge nur mit Unbehagen standhielt. Doch dann lächelte der Lord.

„Du hast ihn wie einen Pfau herausputzen lassen, Gother“, meinte er zu seinem Hauptmann, der inzwischen herbeigeschlendert war. „Doch trotz Samt und Seide sieht er immer noch wild aus. Gut, dass du ihm nicht auch noch die Haare hast schneiden lassen. Wild gefällt er mir besser als dressiert.“

An Traigar gewandt, fuhr er fort:

„Bist du stumm, mein Junge?“

„Nein, Mylord, nur überwältigt. Überwältigt von dieser prachtvollen Burg, von der Gastfreundschaft, die Ihr mir gewährt, von einem neuen Leben und von der Freude, Euch dienen zu dürfen.“

Diesen Satz hatte er sich fast eine Stunde lang zurechtgelegt, und er hoffte, er klänge angemessen.

„Gut gesprochen“, lobte ihn der Lord. „Doch nun erzähle mir ein wenig von dir. Woher stammst du?“

„Aus Stonewall, Mylord, einem kleinen Dorf in den Bergen.“

„Stonewall? Das ist ein Name aus der alten Sprache. Seltsam. Ein Dorf dieses Namens gibt es in unseren Bergen nicht, sonst müsste ich es kennen.“

„Nicht hier, Mylord. Es liegt in der Nähe der Stadt Soth.“

„Ach, in diesen Bergen! Dagegen sind unsere allerdings Maulswurfshügel. Ich erinnere mich. Soth ist eine kleine Stadt weit im Osten, am Fuße des Vas-Thet-Gebirges. Du hast einen weiten Weg hinter dir.

Ein Magier bist du also, einer der leider so selten gewordenen Menschen, die über diese von Wathan, dem Herrn, gegebene Kraft verfügen. Du kannst stolz darauf sein. Gother hat mir von deiner Tat berichtet. Du hast ihm das Leben gerettet.“

„Euer Gnaden, es war nur ein bedauerliches Missgeschick. Ich wollte niemanden töten.“

„Das wird Gother aber gar nicht gerne hören. Hättest du den Mann nicht getötet, wäre er jetzt an seiner Stelle tot. Ich weiß, es ist schwer, ein Leben zu nehmen. Auch ich musste das schon einmal tun, und danach haben mich Alpträume gequält. Aber du hast richtig gehandelt. Es musste sein.“ Er schwieg einen Moment. Seine eben noch harten Züge wirkten nun weicher, und er sah den Jungen mitfühlend an. Dann stellte er eine Frage, die Traigars Leben verändern sollte:

„Nun, Traigar, möchtest du in meinen Dienst treten?“

„Sehr gerne, Euer Gnaden, nur –“ Der Junge zögerte. „ich habe geschworen, das, was ich tat, niemals zu tun. Ich möchte nicht wieder gezwungen werden, diesen Schwur zu brechen. Wenn Ihr also von mir verlangt…“

„…deine Magie als Waffe einzusetzen? Keine Angst, das werde ich nicht tun. Ich habe andere Aufgaben für dich. Du hast offenbar einen klugen Kopf, in den man viel hineinstopfen kann. Dein Dienst für mich wird sein zu lernen. Man wird dich unterrichten: in Sprachen, Geschichte, Künsten, im Reiten, Fechten und in der Magie. Du bist wie ein ungeschliffener Edelstein. Menschen mit magischen Fähigkeiten besitzen meist noch andere Talente. Wir werden feststellen, wo deine liegen und sie fördern. Wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist, werde ich wissen, wofür ich dich einsetzen kann. Lernen ist ein Privileg, Traigar. Allein die Möglichkeit, Wissen zu erlangen, ist Goldes Wert. Du erhältst darüber hinaus nur einen kleinen Lohn. Dennoch erwarte ich von dir, dass du dich anstrengst und hart arbeitest.“

Der Schwarze Abt

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