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Harold

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Er hatte lange und gut geschlafen in seinem großen, weichen Bett. Nun saß er am Tisch und frühstückte. Es gab Haferbrei mit Salz, Brot, Butter, Honig und warme Milch, mehr als genug für zwei. Deshalb ermunterte er Eric, der ihm die Mahlzeit aufgetragen hatte, ihm beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.

Der rothaarige Junge hatte schon gegessen, doch das war ein paar Stunden her, denn sein Tag hatte wie immer bei Sonnenaufgang begonnen. Deshalb langte er mit Appetit zu.

Eric arbeitete als Küchenjunge und sollte jetzt eigentlich Bachforellen schuppen. Doch Lord Gadennyn hatte ihn vorübergehend von seinen Pflichten entbunden, damit er sich um Traigar kümmern konnte, bis der sich eingelebt hätte. Er sollte für sein leibliches Wohl und seine Kleidung sorgen und ihm morgens und abends warmes Wasser zum Waschen bringen. Traigar war die übertriebene Aufmerksamkeit etwas peinlich, aber er genoss Erics Gesellschaft und erkundigte sich bei seinen neuen Freund nach dem Leben in der Burg. Er erfuhr, dass ungefähr fünfhundert Menschen in der Festung lebten, darunter etwa dreihundert Soldaten, die meisten anderen waren Bedienstete. Als Küchenjunge berichtete Eric natürlich zuerst von den drei Großküchen. Da gab es zum einen die Turmküche, die Traigar schon gestern Abend besichtigt hatte. Dort bereitete man das Essen für den Lord und seine hochrangigen Vertrauten zu. Zu ihnen gehörten Hauptmann Gother, der Oberkommandierende der Burgwache, seine beiden Stellvertreter, dann Aturo Pratt, Lord Gadennyns persönlicher Sekretär, Denis Ryche, der Burgverwalter und Steuerkommissar, Kardenus Sigis, der Priester der Burg, Elga Masuris, die Herrin über alle Bediensteten, und natürlich Harold, der greise Magier. Diese acht speisten gewöhnlich einmal pro Woche zusammen an der Tafel in der Felsenhalle.

Dann, so berichtete Eric, gab es noch die Küche in der Kaserne, wo die Soldaten wohnten. Nur ein kleiner Teil von ihnen tat aber Wachdienst auf der Burg, andere patrouillierten durch das Umland, um den Landfrieden zu sichern, doch die meisten hatten wenig zu tun. Sie exerzierten dreimal täglich auf dem Übungsplatz, pflegten ihre Waffen und Ausrüstung, machten nachts die Burgschenke unsicher, schwängerten so manche Magd und übten sich ansonsten in Müßiggang, was bei den anderen, schwer arbeitenden Burgbediensteten gelegentlich auf Missfallen stieß, wie Eric deutlich zum Ausdruck brachte. Andererseits blickte der Junge neidisch auf die Soldaten der Burgwache, auf ihr schönes Leben, ihre blinkenden Rüstungen und Schwerter. Sie durften im Namen des Rechts Verbrecher jagen und Abenteuer erleben, sie kamen auf ihren Patrouillen weit herum und entdeckten viel, sie konnten mit ihren Erlebnissen angeben und kamen mit wahren Geschichten und Aufschneiderei gut bei den Mädchen an. Eric wusste, mit seinem Klumpfuß würde er niemals Soldat werden können und weder Abenteuer erleben noch etwas von der Welt sehen. Umso begieriger war er, von Traigar über fremde Länder, exotische Menschen, dessen Kampf als Magier gegen die bösen Mächte von Kha, Geschichten über Untiere, Dämonen und Drachen zu erfahren. Traigar lächelte. Er würde Eric enttäuschen müssen. Die Welt da draußen, jedenfalls die, die er bis jetzt kennengelernt hatte, sah kaum anders aus als die unmittelbare Umgebung der Burg; die Menschen waren überall ähnlich, hatten überall die gleichen Sorgen und Freuden, die gleichen Nöte und Ängste. Auf Dämonen und Untiere konnte er gern verzichten, und seine magischen Taten bestanden in dem Herumjonglieren von ein paar Glaskugeln. Dennoch waren seine Wanderjahre nicht langweilig gewesen, und er würde seinem neuen Freund ein paar unterhaltsame Geschichten zu erzählen haben, doch vorher wollte er noch mehr über sein neues Zuhause, die Burg und die Menschen, die in ihr lebten, erfahren. Eric erfüllte seinen Wunsch und berichtete von seinem Arbeits- und Lebensumfeld:

Viele der Stallburschen, Schmiede, Köche und Dienstmägde lebten mit ihren Familien in kleinen Häusern und Hütten rings um die Hauptgebäude der Burg. Doch zahlreiche andere hatten ihre Angehörigen in den umliegenden Dörfern, zu weit entfernt, um von dort täglich in die Burg zur Arbeit zu kommen. Deshalb wohnten sie im Bedienstetenhaus der Festung. Darin gab es eine eigene Küche, in der Eric sein Brot verdiente. Auch der Junge hatte sein Heimatdorf verlassen. Der Vater konnte die sechsköpfige Familie nicht allein ernähren, und deshalb hatte er Eric in die Burg geschickt, um dort in die Lehre zu gehen.

Während er nun belanglose Geschichten aus dem Alltag eines Küchenjungen und der stetigen Bedrohung durch die strenge Elga Masuris erzählte, schweiften Traigars Gedanken zu dem gestrigen Abend ab. Vor seinem geistigen Auge erschien wieder diese seltsame, kalkweiße Felsenhalle. Nachdem er von Lord Gadennyn entlassen worden war, hatte ihn Dremion wieder abgeholt. Die Nacht war noch jung, und so nahm der Soldat Traigar mit in die Kaserne und stellte ihm einige seiner Kameraden vor. Sie besuchten zusammen die Schenke der Burg und tranken Bier, erzählten und lachten viel. Dabei konnte Traigar einiges in Erfahrung bringen. Er erinnerte sich an Dremions Antwort auf seine Frage nach der weißen Höhle.

„Man nennt ihn den Lord der Felsenhalle, wusstest du das? Wegen dieser Höhle ist die Burg uneinnehmbar. Du hast ja die Vorräte gesehen, die unten im Turm lagern. Die sind jedoch nichts gegen die, welche in der Höhle selbst, in ihren zahlreichen Kammern und Gängen versteckt sind. Die Felsenhalle, in der du gestern Seine Lordschaft getroffen hast, ist nicht mehr als ein Zimmer eines riesigen Palastes. Von ihr aus führen Gänge in ein Labyrinth von Kammern, Stollen und Schächten, so weit verzweigt, dass man nicht einmal ein Bruchteil davon erkunden konnte. Zur Not könnte Lord Gadennyn die Bevölkerung ganz Shoals darin unterbringen. Sollte also – Wathan möge es verhindern – diese Burg jemals angegriffen werden, könnten sich seine Untertanen hierhin zurückziehen. Selbst wenn der Wall im Tal fällt, ist der Turm kaum einzunehmen. Und sollte es dennoch geschehen, könnten wir uns in die Höhle zurückziehen und die Brücke zerstören. Der Höhleneingang ist gegen Belagerungstürme und Sturmleitern leicht zu verteidigen. Eine Handvoll Männer genügt dafür. Die Vorräte reichen für Jahre, Wasser gibt es genug, sogar heißes! Die Temperatur ist im Sommer und Winter gleich, und in der Felsenhalle ist es wegen der heißen Quelle sogar gemütlich warm. Wir haben uns auf eine lange Belagerungszeit vorbereitet. Es gibt einige hundert Fässer Lampenöl, Brennholzvorräte, für die wir einen kleinen Wald abgeholzt haben, warme Kleidungsstücke, Decken, ja sogar eine Bibliothek für die Hochgeborenen, die lesen können, und eine Gebetskammer für die Andachten und Rituale des Zehnten Tages.“

Wie sie denn gedächten, die Höhle nach Zerstörung der Brücke wieder zu verlassen, wenn die Belagerung vorbei wäre, wollte Traigar wissen, und Dremion lachte.

„Eine kluge Frage. Natürlich haben wir dafür vorgesorgt.“ Er betonte das Wir so, als ob er selbst bei der Planung dabei gewesen wäre und kluge Ratschläge erteilt hätte. „Wir haben Leitern und Strickleitern eingelagert, und nicht nur das: sogar eine hölzerne, ausfahrbare Brücke haben wir gebaut. Du bist praktisch über sie hinweggegangen, als wir den Stollen zur Felsenhalle passierten. Sie liegt unter einem Fuß Sand, damit sie nicht verwittert.“

Warum Lord Gadennyn denn mit einem Angriff rechne, wollte Traigar verwundert wissen. Schließlich herrsche doch seit Jahrzehnten Frieden, und das nördliche Nachbarland Orinokavo werde nach seiner vernichtenden Niederlage gegen Koridrea in absehbarer Zukunft wohl kaum noch einmal angreifen. Dremion antwortete vage:

„Der Lord ist eben ein vorsichtiger Mann. Er weiß, er hat als mächtiger Fürst Neider und Feinde.“

Traigars Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Eric war gerade dabei, von seinen Zimmergenossen zu erzählen, Küchenjungen wie er, die ihn wegen seines Klumpfußes oft hänselten und unterdrückten, und von denen einer nachts so laut schnarchte, dass sich der Junge Wolle in die Ohren stopfen musste, um schlafen zu können. Traigar sah, das Leben Erics war kein Zuckerschlecken. Da kam ihm eine Idee:

„Willst du nicht bei mir wohnen?“, schlug er vor. „Dieses Bett ist groß genug für uns beide. Ich weiß natürlich nicht, ob ich schnarche.“

„Aber das geht doch nicht!“, wandte der Junge ein. „Ein Küchenjunge kann doch nicht im Herrschaftshaus schlafen. Hier wohnen Sir Ryche, Lady Masuris und der Kardenus.“

„Und deren Diener? Sie haben doch Diener?“

„Die wohnen natürlich auch hier, denn sie müssen ja den Herren und der Lady jederzeit zu Diensten stehen. Aber ich…“

„Nun, offensichtlich hat man dich beauftragt, mir zumindest für eine gewisse Zeit zu helfen, bis ich mich allein zurechtfinde. Wir können ja so tun, als seiest du mein Diener. Ich frage Hauptmann Gother, ob er es erlaubt, wenn du hier wohnst.“

„Würdest du das tun? Ich bin ja dein Diener, Traigar.“

„Sei lieber ein Freund, das ist mehr als genug.“

Er erzählte Eric nicht, dass er sich in seiner Rolle als Dienstherr unwohl fühlte. Traigar hatte sein Leben lang für sich selbst gesorgt und gedachte nicht, sich bedienen zu lassen, aber er freute sich über Erics Gesellschaft, und so mochte der seinetwegen nach außen hin als sein Kammerdiener gelten.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Eric – schon ganz in seiner neuen Rolle – öffnete sie. Ein alter Mann trat ein. Kleiner noch als der Küchenjunge und spindeldürr, wirkte er zerbrechlich wie ein vertrockneter Ast. Seine von einem Kranz dünner, weißer Haare umgebene Glatze war übersäht mit Altersflecken, sein Gesicht faltig und verschrumpelt, aus der unteren Hälfte spross ein Bart, verfilzt und so dünn wie ein Spinnennetz. Die einzige dichte Behaarung in diesem Gesicht stellten die buschigen weißen Augenbrauen dar, unter denen trübe und rotgeränderte Augen hervorblickten. Der Alte trug eine lange Robe, die bis zum Boden reichte, und stützte sich auf einen knorrigen Stock.

„Nun muss also der Lehrer zum Schüler kommen, weil dieser schon seinen ersten Unterricht verschlafen hat. Kein guter Anfang, Traigar.“

Traigar folgte dem greisen Magier Harold zu dessen Haus, das abseits der übrigen Gebäude lag. Der alte Mann schlurfte mit kurzen Schritten langsam voran, und Traigar hatte Mühe, ihn nicht zu überholen. Der Junge fühlte sich immer noch peinlich berührt. Bevor ihn Lord Gadennyn gestern Abend entlassen hatte, hatte er ihm aufgetragen, sich am nächsten Morgen bei Harold zu melden. Nun, es war immer noch Vormittag, aber in Harolds Augen längst nicht mehr Morgen. Das sei nämlich, so erklärte er seinem neuen Schüler, die Zeit des Hahnenschreis. Traigar entschuldigte sich wortreich, doch der Alte war immer noch ein bisschen erbost und redete auf den eingeschüchterten Jungen ein:

„Meine Gelenke und Knochen sind von Arthritis geplagt. Jeder Schritt tut mir weh. Und dennoch habe ich niemanden geschickt, dich zu holen, sondern bin selbst gekommen, um dir ein bisschen Disziplin und Pflichtbewusstsein beizubringen. Du solltest mir dankbar sein.“

„Das bin ich auch. Glaubt mir, ich werde Euch nicht mehr enttäuschen.“

„Oh doch, das wirst du. Vielleicht hundert Mal, vielleicht öfter. Ich habe hohe Erwartungen an dich, die leicht zu enttäuschen sind. Versprich also nichts, was du womöglich nicht halten kannst. Es reicht für den Anfang völlig, wenn du dich bemühst, pünktlich zu sein.“

Inzwischen hatten sie den Burgturm umrundet, einige Hütten hinter sich gelassen und steuerten auf ein kleines rundes Türmchen zu, nur zwei Stockwerke hoch. Zahlreiche bogenförmige Fenster durchbrachen das Obergeschoß rundherum. Eine vieleckige Kuppel in der Form eines Kegelstumpfs, beschlagen mit von Patina überzogenem Kupferblech, überwölbte es. Eine Seite war abgeflacht und besaß eine große rechteckige Öffnung, von außen abgedeckt durch zwei übereinandergeschobene Läden. Traigar fragte sich, wozu ein so riesiges Fenster gut sein mochte.

Sie traten ein. Harold führte ihn in der kleinen Eingangshalle an verschiedenen Türen vorbei und erklärte, dahinter befänden sich seine Wohnräume, aber er wolle jetzt nach oben, ins Studierzimmer. Von der Halle aus führte eine Wendeltreppe hinauf, die sich um eine merkwürdige Konstruktion herum wand: Traigar entdeckte eine hölzerne Plattform von zwei mal zwei Fuß. Sie bildete den Boden eines mannshohen Käfigs aus zwei gekreuzten, hufeisenförmigen Bügeln, dessen Rundung sich über einen auf der Platte befestigten Sitz wölbte. Daneben stand eine Winde mit einer dicken Walze, umschlungen von einem drei Finger starken Seil. Man konnte sie mit Hilfe eines Rades, dessen acht Speichen durch den Radring hindurch als Handgriffe hervorragten, drehen. Das Seil führte von der Winde nach oben und verschwand im Treppenhaus, lief dort anscheinend über eine Umlenkrolle, denn es kehrte wieder zurück und war am oberen Ende des Käfigs verankert.

Harold läutete eine kleine Glocke, und einen Augenblick später öffnete sich eine der Türen. Ein kräftiger Mann mit Stiernacken und breiten Schultern erschien. Zwei Handbreit größer als Traigar, besaß er eine niedrige Stirn, ein fliehendes Kinn, weiche wulstige Lippen und einen blauschwarzen Stoppelbart. Harold stellte ihn vor:

„Mein Faktotum, Roger. An ihm zeigt sich wieder einmal Wathans Gerechtigkeit: Was er ihm an Körperkraft zuviel geschenkt hat, das hat er durch Mangel an Geisteskraft kompensiert. Nicht wahr, Roger?“

Roger brummte nur und grinste schwachsinnig.

Harold setzte sich auf den Stuhl, und sein Gehilfe drehte das Rad, nachdem er einen Sicherungssplint aus der Achse gezogen hatte. Das Seil straffte sich. Langsam bewegte sich der Aufzugskäfig nach oben. Traigar folgte ihm und stieg die Wendeltreppe hinauf. Als er das obere Stockwerk erreichte, sah er den alten Mann durch ein Loch im Boden auftauchen und weiter emporschweben, bis die Plattform auf dem Niveau des Bretterbodens verharrte. Harold blieb auf seinem leicht hin- und herpendelnden Stuhl sitzen und wartete auf Roger, der eben die Treppe heraufkam. Offenbar hatte er den Sicherungssplint wieder hineingesteckt und so die Walze fixiert. Der schweigsame Diener half Harold beim Aussteigen.

„Treppen sind Gift für meine alten Knochen. Deshalb esse ich auch kaum noch an Lord Gadennyns Tafel. Der Turm besitzt einfach zu viele Stufen. Manchmal lasse ich mich noch von Roger in die Felsenhalle hinaufschleppen. Aber wenn mein Lord mich dringend braucht, kommt er zu mir. Das Alter hat also auch Vorzüge.“

Traigar schaute sich um. Das Studierzimmer war der einzige Raum in dieser Etage. Es beherbergte ein Chaos an Gerätschaften. In der Mitte erhob sich ein mannslanges Fernrohr aus Messing auf einer durch den Boden aufragenden Steinsäule, deren Fundament im Felsen unter dem Wohnturm ruhte, wie Harold ihm erklärte. Das Teleskop schien sein ganzer Stolz zu sein. Um es herum standen drei Tische, bedeckt mit Flaschen, Töpfen voller Pulver und Kräuter, Mörsern zum Mahlen und Zerkleinern, Mischgefäßen und merkwürdigen Apparaten, deren Zweck Traigar nicht erkannte. Die Wand des kreisrunden Raumes bedeckten unzählige Regale, in denen Hunderte, wenn nicht Tausende von Büchern standen, schwere Wälzer mit Ledereinband und breitem Rücken sowie kleinere zwischen Holzdeckel gebundene Bände. Auf dem Boden stapelten sich Dutzende weiterer Bücher, lagen Pergamente und Schriftrollen. Über den Regalen durchbrachen bogenförmige Fensteröffnungen das Mauerwerk und erhellten den Raum. Die Sonne fiel in breiten Lichtbalken ein und ließ den in der Luft schwebenden Staub glitzern. Oberhalb der Fenster wölbte sich das Innere der hohen Kuppel. Diese besaß nach Süden hin eine zehn Fuß breite und zwölf Fuß hohe Öffnung. Davor befanden sich die Läden, die Traigar von außen gesehen hatte. Der Alte folgte seinem Blick:

„Man kann sie mit einer Seilzugvorrichtung auf- und zuschieben.“ Er deutete auf eine Kurbel an der Wand, mit der sich der Mechanismus bedienen ließ. „Die Öffnung gibt den Blick auf einen großen Teil des südlichen Himmels frei. So kann ich mit meinem Fernrohr die Sterne und Planeten studieren. Weißt du, was ein Planet ist, Traigar?“, prüfte ihn der Alte. Der Junge schüttelte den Kopf. „Nun, du hast noch viel, sehr viel zu lernen. Doch zuerst müssen wir uns einmal kennenlernen. Setzen wir uns.“

Sie ließen sich auf zwei Stühlen nieder, und Harold schickte seinen Diener fort, um Tee zu kochen. Als dieser eine dampfend heiße Kanne gebracht und zwei Tassen mit dem würzig duftenden Getränk gefüllt hatte, verschwand er wieder. Der alte Magier wandte sich an den jungen.

„Um dich richtig auszubilden, muss ich alles über dich wissen: woher du kommst, wer deine Eltern sind, ob sie ebenfalls magische Fähigkeiten besitzen, wer dich unterrichtet hat, in welchem Alter du deine magischen Kräfte entdeckt hast und vieles mehr. Lass uns zuerst mit deinen Eltern beginnen. Leben sie beide noch?“

Traigar hatte zwar die junge Frau nicht gefunden, der er in Shoala begegnet war und die wie er die Gabe der Magie besaß, doch jetzt saß er einem anderen Magier gegenüber, einem, der ihn verstehen würde. Traigar vertraute seinem Gefühl, sich diesem Mann öffnen zu können. Und so erzählte er. Er berichtete von seinem Vater Daedor, einem jungen Gelehrten aus Orinokavo, den der Krieg entwurzelt hatte, von dem Mann, den er auf dem Schlachtfeld tödlich verwundete, von Daedors Abscheu vor dem Krieg, von seiner Gewissensnot, von dem Versprechen, das er seinem sterbenden Feind gab, nämlich sich um dessen Tochter zu kümmern, von dem Fremden, der eines Tages in Stonewall auftauchte und bald eine junge Halbwaise heiratete. Er sprach über seine Mutter, die bei seiner Geburt starb und die er nur aus den Erzählungen seiner Großmutter kannte, von den Alpträumen seines Vaters, die später auch ihn selbst befielen, von seinen ersten Erfahrungen mit der Magie, dem schwierigen Umgang mit ihr, seinem Versuch, sich damit zu verteidigen, von dem Hass, der ihm von den Dorfleuten entgegenschlug, von seiner Verbannung, seiner Zeit im Wanderzirkus bis hin zu den Ereignissen der letzten Tage, die ihn schließlich auf Hauptmann Gother treffen ließen. Harold stellte ihm viele Fragen, über ihn selbst, seine Eltern, Großeltern, Freunde, über die Träume. Manche davon konnte er nicht beantworten. So wusste er nichts über magische Fähigkeiten seiner Eltern. Der alte Magier schüttelte den Kopf und brummte etwas von ‚Vererbung’. Der Tag verstrich. Roger brachte ihnen etwas zu essen. Harolds Neugier war unersättlich. Er ließ den Jungen aus einem der Bücher vorlesen, ihn ein paar Sätze auf ein Pergament schreiben, nickte anerkennend und erklärte, sein Vater sei ein guter Lehrer gewesen – offenbar war er mit Traigars Lese- und Schreibkunst zufrieden. Dann prüfte er seine Geschichts- und Religionskenntnisse und erkundigte sich, ob er außer Koridreanisch noch andere Sprachen beherrsche. Der Junge musste ihn in fast allen Punkten enttäuschen. Außer Lesen, Schreiben und Rechnen hatte ihn sein Vater nur wenig gelehrt. Der alte Magier änderte seine Meinung über Daedor: Er sei doch kein so guter Lehrer gewesen. Zuletzt bat er seinen neuen Schüler, seine Magie vorzuführen, indem er verschiedene Dinge mittels seiner Geisteskräfte bewegte. Traigar ließ zwölf Bücher gleichzeitig durch die Luft fliegen, aber als ihn Harold anwies, ein Weinfässchen, das in der Ecke stand, schweben zu lassen, schaffte er das nicht. Der alte Mann beschwor ihn, sich anzustrengen, aber es gelang Traigar bei aller Konzentration nicht, das Fass nur einen Zoll anzuheben.

„Merkwürdig!“, meinte Harold. „Du hast es doch auch geschafft, Menschen durch die Luft zu schleudern, viel schwerer als dieses Fass. Denk nur an den Schwarzgekleideten, der Gother verfolgte. Vielleicht bist du müde. Wir wollen es morgen noch einmal versuchen.“

Es dämmerte schon, als sein Lehrer Traigar endlich heimschickte, nicht bevor er ihm eingeschärft hatte, beim ersten Hahnenschrei am nächsten Morgen wiederzukommen.

Der Schwarze Abt

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