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Im Land der Xinghi

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Der Ort der ewigen Verdammnis konnte kaum schlimmer sein als der Dschungel: eine düstere, modrige und feuchte Welt. Armdicke Schlingpflanzen hingen von den Bäumen herab und wanden sich wie Schlangen über den Boden, mannshohe Wurzeln und dichtes Unterholz machten ihn fast undurchdringlich. Die einzige Möglichkeit, den Urwald mit den Pferden zu durchqueren, boten Wildwechsel, manche von ihnen breit wie Karrenwege. Sie zogen sich kreuz und quer durch den Wald, ein Netz natürlicher Straßen. Es schien, als hätten Riesen die Pflanzen in diesen Schneisen niedergetrampelt, die Äste bis in zwölf Fuß Höhe abgebrochen, das Laub bis hinauf zur doppelten Mannshöhe abgeerntet und die Rinde von den angrenzenden Stämmen geschält. Bald begegneten sie ihnen: seltsamen und Respekt einflößenden Tieren, die die breiten Wildpfade ausgetreten hatten. Die Geschöpfe erreichten fast die Höhe einiger der Pflanzenfresser im Drachenland, besaßen lange, schlauchartige Nasen, riesige Stoßzähne, die wie nach oben gekrümmte Hauer hervorragten, Ohren, so groß wie das Fell einer Basstrommel und haarlose, dicke, graue Schwarten. Gormen hatte solche Tiere einmal in einem illustrierten Buch gesehen. Sie würden Alafanten genannt und hätten ihren Lebensraum in den Südlanden, hieß es da. Die vier Reiter trafen einmal auf eine Herde von dreizehn Tieren – Jungtiere, Kälber und ihre Mütter – und ein anderes Mal auf einen gewaltigen Einzelgänger, der sie wütend anstarrte, einen trompetenartigen Ruf ausstieß und mit den fächerartigen Ohren wedelte. Beide Male verdrückten sie sich schnell durch schmale Seitenpfade oder brachen sich einen Weg ins Unterholz, um den dickhäutigen Alafanten den Weg freizumachen.

Cora fragte sich, ob es eine gute Idee sei, die Pfade der großen Tiere zu benutzen. Was wäre, wenn die Reiter ihnen einmal nicht rechtzeitig ausweichen könnten? Dann würden sie wohl überrannt und in den aufgeweichten Boden gestampft werden! Aber es gab offenbar keine andere Möglichkeit, durch den dichten Urwald nach Südwesten voranzukommen. Wie konnte sich Spin überhaupt so sicher über die Richtung sein? Das dichte Blätterdach verbarg das Firmament. Weder der Sonnenstand am Tag noch die Sternzeichen in der Nacht konnten ihm als Anhaltspunkte zur Bestimmung der Himmelsrichtung dienen. Aber der Waldläufer führte sie unbeirrt durch das Labyrinth der Wildwechsel.

Den großen Strom, der die Ostlande von Süden nach Norden durchquert und dabei weiter nördlich über die Klippe in die Große Kluft stürzt, hatten sie weit hinter sich gelassen, aber den Weg, auf dem sie auf der Hinreise gekommen waren und der durch den lichteren Wald führte, in dem das inzwischen wohl verlassene Dorf der Ostlingsfrauen um Horlu stand, fanden sie nicht, und so schlug Spin vor, nach Südwesten zu reiten, wo sie durch das Land der Xinghi kommen mussten.

Nun schlugen sie sich seit Tagen durch diesen Urwald, den sie zu hassen gelernt hatten. Auch in dieser Region herrschte noch der Winter. Das Wetter zeigte sich jedoch viel milder als westlich der Berge oder im hohen Norden. Die Temperaturen glichen denen in Koridrea im Herbst. Es fiel kein Schnee, aber es regnete unablässig. Der kalte Regen durchnässte ihre Kleidung. Eine dicke, feuchte Nebelschicht lag auf der Erde, begrenzte ihre Sicht auf zehn bis zwanzig Schritte, manchmal weniger, und die hohe Feuchtigkeit der Luft machte das Atmen schwer. Boc hatte sich einen Schnupfen geholt und fing jetzt auch noch an zu husten. Er hatte ein wenig Fieber. Cora kochte ihm dreimal täglich einen heißen, gräßlich schmeckenden Sud aus getrockneten Heilpflanzen, die sie in ihrer umfangreichen Apotheke bei sich führte.

Die dicht belaubten Baumkronen schützten sie zwar vor den Wolkenbrüchen, aber das stetige Rieseln von oben, das von dem im Laubdach gesammelten Nass stammte, fühlte sich viel unangenehmer an als ein kurzer, frischer Regenguss. Nicht nur Wassertropfen fielen auf sie herab, auch Zecken, die sich im stetigen Tröpfeln geschickt verbargen. Die Menschen suchten ihre Körper und die ihrer Reittiere mehrmals täglich nach den Plagegeistern ab. Cora hatte sie schon an den unmöglichsten Stellen entdeckt. Sie fragte sich, wie die ekelhaften Tiere immer einen Weg durch ihre dicke Kleidung fanden. Wenigstens gab es um diese Jahreszeit keine Stechmücken. Mit denen hatten sie ja auf der Hinreise zu kämpfen gehabt, als sie einen anderen Dschungel – (oder war es derselbe an einer anderen Stelle gewesen?) – durchquert hatten.

Heute lagerten sie in einer kleinen Lichtung, die Mensch und Tier gerade genug Platz zum Ausruhen bot. Müde und abgespannt saßen sie um das dampfende und qualmende Feuer, das sie immerhin ein wenig wärmte. Mit Feuerstein und Zunder wäre es ihnen nie gelungen, die feuchten Äste und Zweige, die sie im Unterholz gesammelt hatten, zu entzünden, aber Dank der magischen Fähigkeiten Gormens prasselten jetzt die Flammen. Cora zog sich bis auf ihr Lendentuch aus, dann zündete sie einen kleinen Zweig an, den sie vorher zum Trocknen dicht an das Feuer gelegt hatte, und wartete, bis er ein Stück abgebrannt war. Sie blies die Flamme aus und strich mit der noch glühenden, verkohlten Spitze über die kugelförmig aufgeblähten Leiber dreier voll gesogener Blutsauger an ihrem Körper, bis diese abfielen. Eine Zecke hatte sie in der Achselhöhle gefunden, eine weitere am Bein und eine dritte unter ihrer linken Brust. Sie und die Männer hatten längst jede Scham abgelegt und sich daran gewöhnt, sich vor den anderen zu entblößen, um die Schmarotzer zu finden und loszuwerden. Spin, der seine Bisse gerade behandelt hatte, reichte ihr den Salbentopf weiter. Cora strich etwas von der grüngrauen Paste auf die roten Stellen.

Als viel schwieriger erwies es sich, Zecken loszuwerden, die sich in die Kopfhaut gebohrt hatten. Hier konnten sie natürlich keine heiße Flamme oder glühende Holzkohle benutzen, ohne sich dabei die Haare zu versengen. Nachdem sie es zuerst mit Lampenöl mehr oder weniger erfolglos versucht hatten, banden sie sich mit Stoffstreifen, die sie aus einigen Kleidungsstücken geschnitten hatten, festsitzende Turbane um den Kopf.

Cora zog sich wieder an und hüllte sich zusätzlich in eine noch halbwegs trockene Decke. Die anderen taten es ihr nach. Dann aßen sie ein karges Mahl. Viel war von ihrem Proviant nicht mehr übrig: Brot und Dörrobst verschimmelt und ungenießbar, der Reis kalt aufgequollen, der Käse von Maden befallen. Sie warfen die verdorbenen Vorräte weg. Spin hatte vor zwei Tagen eine kleine Gazelle geschossen. Ihr Fleisch bot die einzige Abwechslung von der Kost aus Pilzen und Beeren, die überall wuchsen. Schweigend kauten sie auf den durch Pökeln haltbar gemachten Streifen herum. Cora fand ihr Stück zäh, aber sie war Spin dankbar, dass er gelegentlich Wild aufspürte und erlegte. Nach dem Essen unterhielten sich die vier Gefährten, wandten sich wieder dem Thema zu, das ihre Gedanken am meisten beherrschte.

„Wie weit ist es noch?“, erkundigte sich Gormen beim Waldläufer.

„Wenn du damit meinst, wie weit wir noch vom Pass entfernt sind, dann weiß ich es nicht“, antwortete der. „Ich kann nur raten, dass wir noch zwei bis dreihundert Meilen nördlich davon sind. Im Dschungel schaffen wir höchstens zehn Meilen am Tag, das heißt wir werden wahrscheinlich noch einen Monat unterwegs sein, bis wir ihn erreichen. Wenn du allerdings wissen willst, wie weit es noch bis zum Land der Xinghi ist, dann antworte ich: Wir sind längst da.“

„Aber wie sollen wir sie jemals finden?“ Coras Stimme klang hoffnungslos.

„Sie werden uns finden“, meinte Boc und hustete röchelnd. Dann schnäuzte er sich zwischen den Fingern. Spin nickte.

„Ich denke, Boc hat recht. Allerdings glaube ich, dass sie uns schon gefunden haben. Wir müssen sie nur dazu bringen sich zu zeigen.“

„Du meinst, sie beobachten uns jetzt gerade?“ Gormen blickte sich suchend um.

„Ich denke, einer ihrer Späher begleitet uns, seit wir über den Fluss gesetzt haben. Draußen, in der weiten Ebene, in der es nur wenige Bäume und Büsche gibt, hat er uns wohl aus der Ferne im Auge behalten. Jetzt dürfte er so nahe sein, dass er unsere Unterhaltung hört.“

„Dann rufe ihn doch einfach“, meinte Boc.

„Was soll ich denn rufen? Wenn er unsere Sprache spräche, wüsste er längst, dass wir mit seinem Volk Kontakt aufnehmen wollen. Dass er sich nicht zeigt, kann bedeuten, dass das Waldvolk nichts mit uns zu tun haben will. Wahrscheinlicher ist aber, dass er kein Wort von dem versteht, was wir sagen. Die Xinghi-Späher sprechen unsere Sprache nicht. Zpixs ist eine Ausnahme. Sein Volk hat ihn nach Koridrea geschickt, um die Menschen dort zu beobachten, und deshalb hat er Koridreanisch gelernt.“ Spin zuckte resignierend die Schultern. Aber Gormen schien plötzlich eine Erleuchtung zu haben.

„Ist denn nicht anzunehmen, dass der Späher, der für diese Region zuständig ist, sich in der Sprache der Ostlinge, der Menschen, die ihre Nachbarn sind, verständigen kann? Vielleicht versteht er mich dann auch. Mit meinem Krandoranisch, der Sprache des Alten Königreichs, konnte ich mich ganz leidlich mit Tera, dem Bildhauer, unterhalten.“

Spin schlug sich vor den Kopf. „Ich bin ein Narr, dass ich nicht darauf gekommen bin. Du hast sicher recht, Gormen. Die Xinghi beobachten die Ostländer seit langer Zeit. Um zu wissen, was ihre menschlichen Nachbarn im Schilde führen, müssen sie natürlich deren Sprache beherrschen. Ja, mein Freund, versuch dein Glück.“

Der Schwarze Mönch stand auf, wandte sich dem Wald zu und sagte mit lauter Stimme auf Krandoranisch:

„Späher der Xinghi. Wir wissen, dass du in der Nähe bist. Wir kommen in Frieden. Meine Begleiter hier kennen einen der Euren ganz gut. Seinen Namen können wir in eurer Sprache nicht aussprechen, er klingt in unseren Ohren wie Zpixs. Wir haben eine weite und gefahrvolle Reise gemacht, um ihn zu finden und mit ihm zu reden. Die Angelegenheit ist äußerst wichtig, nicht nur für uns Menschen, sondern auch für euch. Auch ihr seid in großer Gefahr. Wir sind gekommen, um die Xinghi vor einem heraufziehenden Unheil zu warnen und um Hilfe zu bitten.“

Sie warteten, doch nichts geschah. Nach einer Weile setzte sich Gormen wieder ans Feuer und seufzte.

„Immerhin war es einen Versuch wert. Versucht nun, ein bisschen zu schlafen. Ich halte die erste Wache.“

Sie wickelten sich in ihre Decken und rollten sich zusammen, bis auf den Schwarzen Mönch, der sich auf einen Stein hockte und ins herunterbrennende Feuer starrte. Nach einer Weile vernahm er die regelmäßigen Atemzüge von Cora und Spin und das röchelnde Schnarchen von Boc, der durch seine verstopfte Nase keine Luft bekam und deshalb mit offenem Mund atmete.

Mittlerweile gab das Lagerfeuer kaum noch Rauch ab, da das brennende Holz durch die Hitze getrocknet war. Die Flammen tanzten ihren feurigen Tanz, und durch die aufsteigenden heißen Gase sah Gormen den Waldesrand dahinter in rötlichem Licht flimmern und wabern, als bestünde er aus kochendem Wachs oder heißer Lava. Inmitten dieses gespenstischen Hintergrunds materialisierte plötzlich eine Gestalt, ein kleines, menschenähnliches Wesen.

„Ich bin Zpixs. Du hast mich gerufen“, sagte es.

Cora freute sich sehr, das kleine, freundliche Waldwesen wiederzusehen. Sie drückte dem Xinghi einen Kuss auf die Stirn. In dessen Minenspiel zeigte sich keine Emotion, aber die Bewegung seiner Ohren verriet seine Freude.

Spin stellte ihm Gormen Helath vor. Als der Waldläufer erklärte, Gormen gehöre dem Schwarzen Orden aus Vulcor an, legte Zpixs die Ohren eng an den Kopf, ein Zeichen der Verwirrung, wie Cora vermutete.

„Das verstehe ich nicht“, wunderte sich der Waldbewohner. „Ist nicht der Schwarze Abt, der Führer dieses Ordens, euer Feind, der wiedergeborene Semanius? Seid ihr nicht aufgebrochen, um ihn zu besiegen? Jetzt ist einer seiner Brüder euer Gefährte. Was ist geschehen? Warum sind Traigar, Gother, Winger und die beiden Soldaten nicht bei euch? Sind sie umgekommen? Konntet ihr diesen Nunoc Baryth nicht bezwingen?“

Gormen antwortete ihm:

„Nunoc, mein Bruder und väterlicher Freund, ist leider tot. Traigar und Gother haben ihn getötet, wie es ihr Plan vorsah. Aber manchmal trügt der Schein, Zpixs. Traigar und seine Freunde wurden von Gother und dessen Herrn getäuscht. Die Wahrheit ist: Nicht Nunoc Baryth, sondern der Lord von Shoala, Athlan Gadennyn, ist der wiedergeborene Lordmagier Semanius.“

Die langen Ohren des Xinghi schwirrten wie die Flügel einer Libelle. Für einen kurzen Augenblick flimmerte die Luft, dann war er verschwunden, doch einen Lidschlag später tauchte er fast an derselben Stelle wieder auf.

„Verzeiht, meine Freunde, dass ich euch verließ. Ich bin eine Weile durch den Wald gestreift, um der Verwirrung meiner Gefühle Herr zu werden.“

‚Eine Weile?’, dachte Gormen, aber dann fiel ihm ein, dass dieses Wesen ja die Zeit beherrschte. Es mochte nach seinem eigenen Zeitempfinden stundenlang umhergeirrt sein.

„Erzählt mir alles, was geschehen ist, seit wir uns vor vielen Monaten getrennt haben“, bat Zpixs.

Cora gab einen groben Abriss der Geschehnisse. Sie berichtete nur kurz von ihrer Begegnung mit den Grim, ihrer Gefangennahme und Zaphirs Tod. Dann erzählte sie in knappen Worten von ihrer Ankunft in Vulcor, dem Attentat auf Nunoc Baryth, und wie sie vom Verrat Gadennyns und Gothers erfuhren. Dennoch dauerte ihr Bericht eine Weile. Zum Schluss sprach sie von dem Plan, den die Gefährten und die Schwarzen Mönche gemeinsam ersonnen hatten, um Semanius zu besiegen: Traigar und Duna sollten mit den Schwarzen Kämpfern des Ordens ein Heer aufstellen und nach Süden ziehen; dies sei aber nur als Ablenkungsmanöver gedacht, um Semanius’ Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie – Cora und ihre Begleiter – seien gemäß dem Plan wieder in die Ostlande zurückgekehrt, um Zpixs um Hilfe zu bitten.

„Hilfe wobei?“, wollte das kleine Wesen wissen.

Boc ergriff das Wort:

„Die Schwarzen Mönche haben herausgefunden, was Gadennyn – oder Semanius – diese unvorstellbare magische Macht verleiht. Es ist ein Amulett mit einem schwarzen Stein. Wir müssen es ihm wegnehmen. Nur so können wir ihn besiegen. Aber wir Menschen sind dazu nicht in der Lage. Wir würden niemals auch nur in die Nähe von Semanius gelangen. Er würde uns vernichten. Der Einzige, der das kann, bist du, Zpixs. Wir wollen ihn ablenken, so gut wir können, aber du – und darum bitten wir dich – musst ihm das Amulett abnehmen.“

Zpixs’ Ohren spielten wieder wie wild.

„Das ist unmöglich.“

„Aber du kannst doch die Zeit einfrieren! Es wäre ganz einfach für dich, ihm …“

„Darum geht es nicht, Boc. Selbstverständlich wäre ich in der Lage, ihm diesen Talisman der Macht zu stehlen. Aber ich darf es nicht.“

Cora fragte mit einem scharfen Unterton in der Stimme:

„Du darfst es nicht? Wer sollte es dir verbieten uns zu helfen?“

„Mein Volk und unsere Gesetze“, erklärte der Xinghi mit Nachdruck.

Die Heilerin erinnerte sich. Zpixs hatte ihnen bei ihrer ersten Begegnung erzählt, dass es den Xinghi nicht erlaubt war, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Völker zu mischen oder gar Partei für eine Seite zu ergreifen. Nach kurzem Überlegen argumentierte sie:

„Angenommen, Semanius wäre ein Xinghi. Dürftest du dann etwas gegen ihn unternehmen?“

„Selbstverständlich. Wenn er mein Volk bedrohte, dann …“

„Ach, dann liegt es gar nicht daran, dass er ein Mensch ist, sondern ausschlaggebend ist nur, ob er eine Gefahr für euch darstellt oder nicht?“

Zpixs zögerte kurz.

„So ist es. Ich dürfte eingreifen, wenn er unser Feind wäre. Doch Semanius bedroht uns nicht. Ich bedaure, dass er die Menschen jenseits des Gebirges unterjochen will, aber das rechtfertigt nach unserem Gesetz keine Parteinahme zu euren Gunsten.“

Jetzt erhob Gormen die Stimme. Er sprach eindringlich:

„Du irrst dich, Zpixs, wenn du glaubst, Semanius sei nicht euer Feind. Er ist der Feind aller Lebewesen dieser Welt! Sobald er das Alte Reich wieder errichtet und unter seine Herrschaft gezwungen hat, wird er seinen Blick nach Osten und Süden richten. Die Menschen in diesen Ländern mögen in der Übermacht sein, aber gegen seine magischen Kräfte haben sie nichts zu bestellen. Ihre Unterwerfung ist so gut wie sicher. Und dann wird er von den unterjochten Ostländern von der Existenz der Xinghi erfahren, jenen Wesen, die ihnen so Angst einflößend, dämonenhaft und mächtig erscheinen. Er wird euch als Bedrohung betrachten und danach streben, euch zu vernichten!“

Das Ohrenspiel des kleinen Wesens geriet noch heftiger. Lange schwieg es und schaute die Gefährten nacheinander an. Endlich stieß Zpixs einen Laut aus, der einem menschlichen Seufzer glich.

„Ich muss das dem Rat vortragen. Nur er kann entscheiden, ob unsere Gesetze verletzt werden, wenn ich euch helfe.“

„Dann kommen wir mit dir“, erklärte Spin. „Führe uns zu deiner Stadt, Zpixs. Wir wollen eurem Rat unsere Argumente selbst vortragen.“

„Es tut mir leid, das geht nicht. Kein fremdes Wesen darf Khtau n’ Hoghx betreten. Wartet hier. Ich komme morgen wieder.“

Im selben Augenblick war er verschwunden.

Cora träumte.

Zpixs führt sie durch den Wald auf Pfaden, die sie allein nie entdeckt hätte. Seine kleine, feingliedrige Hand liegt in ihrer wie die eines Kindes in der seiner Mutter.

Es ist dunkel, aber sie kann ihre Umgebung so gut sehen, als ob der Vollmond am Himmel stünde. Doch die Farben sind vollständig verblasst. Blätter, Ranken und Stängel der Pflanzen schimmern schwach bis hellgrau, ein vorbeihuschendes Tier strahlt in weißem Licht, und der Boden ist dort, wo blanke Erde hervortritt, fast schwarz. Sie sieht den Xinghi neben sich, der ebenfalls leuchtet, als sei er von einer Aura umgeben. Sie blickt an ihrem eigenen Körper hinab und sieht ein fahles Licht von sich ausgehen, das hell erstrahlt, wo ihre nackte Haut an Händen und Unterarmen zu sehen ist, und das etwas schwächer durch die feinen Maschen des Stoffs ihrer Kleidung schimmert.

Allmählich wird der Wald lichter, und die Bäume werden größer. An den mächtigen Stämmen wachsen dicke Ranken, die bis in die Kronen hinaufreichen.

Wohin gehen wir?“, fragt sie.

Nach Khtau n’ Hoghx, der Hauptstadt des Xinghi-Reichs“, erklärt Zpixs.

Aber ich dachte, kein fremdes Wesen dürfe es betreten?“

Deinem Körper ist es verboten, aber deine Seele darf mich begleiten. Komm.“

Der Waldbewohner ergreift eine Ranke und klettert rasch hinauf.

Das schaffe ich nicht“, murmelt Cora verzagt.

Du bist leicht wie eine Feder. Versuch es einfach.“

Zweifelnd packt die junge Frau die dicke Liane und holt tief Luft. Dann stemmt sie die Füße gegen den Stamm und macht einen Klimmzug. Sie ist überrascht, als sie fast schwerelos hinaufgleitet, so als befände sie sich unter Wasser. Bald hat sie eine schwindelerregende Höhe erreicht. Der Waldboden weit unten ist gar nicht mehr sichtbar. Aber sie hat keine Angst. Kurz über ihr klettert der Xinghi und verschwindet im dichten Blätterdach. Die Kronen der weit auseinanderstehenden Baumriesen haben sich hier zu einer kompakten Masse verwoben, die einer geschlossenen Wolkendecke gleicht. Sie taucht hinein, klettert weiter durch die Myriaden von Blättern, Ästen und Zweigen, die ihr durchs Gesicht streifen, im Weg sind und sie daran hindern wollen, dem verschwunden Xinghi zu folgen, aber sie lässt sich nicht beirren, bis sie schließlich durch die Laubdecke bricht. Ein Laut der Überraschung entfährt ihr.

Sie befindet sich jetzt nicht etwa über den Baumkronen wie sie erwartet hat. Die Stämme streben noch viel weiter empor, und etwa dreißig bis vierzig Fuß über ihr bildet ein weiteres Blätterdach eine lichte Decke. Der Raum dazwischen ist völlig entlaubt. Es ist, als ob sie sich in einer gewaltigen Halle befindet, deren Boden und Decke aus Millionen von Zweigen und Blättern bestehen. Die Stämme der Riesenbäume wirken wie Säulen, die das Gewölbe stützen. Überall an den dicken Ästen um sich herum erkennt sie frische Schnittflächen, wo die Zweige entfernt wurden. Diese Halle ist keines natürlichen Ursprungs. Und sie ist bewohnt.

An den dicken, entlaubten Ästen hängen aus Binsen und Zweigen geflochtene nestartige Kugeln, befestigt mit Lianen oder Hanfseilen. Manche sind so groß wie kleine Hütten, manche messen aber auch nur drei bis vier Fuß im Durchmesser. Sie besitzen Löcher an den Seiten, die wohl als Eingänge und Fenster dienen. Es müssen Hunderte, wenn nicht mehr als Tausend dieser Behausungen sein. Die meisten sind locker verstreut angeordnet, in verschiedenen Höhen und Abständen, gerade wie es der Verlauf der Äste gestattet. Einige bilden Trauben von einem Dutzend und mehr und erinnern an einen Bienenstock. Und alle sind durch Brücken und Stege verbunden.

Vor ihr steht Zpixs, der auf sie gewartet hat, auf einer solchen Hängebrücke, eine von zweien dicht nebeneinander laufenden, die hinüber zu einer größeren Plattform führen. Die Brücke ist wie die runden Hütten aus Binsen geflochten und besitzt einen Boden aus dickem Schilfrohr. Sie ist schmal, geländerlos und schaukelt durch das Gewicht des Xinghi. Über ihrem konkav geschwungenen Boden hängen zwei Seile, eines in Höhe der Größe eines durchschnittlichen Xinghi – Zpixs hält sich mit einer seiner feingliedrigen Hände daran fest – und eines drei Fuß darüber. An diesem oberen Seil sind in Abständen von einigen Schritten kürbisgroße Lampions aus einem pergamentähnlichen Material befestigt, die ein weiches, helles Licht aussenden. Und diese Lampions gibt es überall. Sämtliche Brücken, Stege und Plattformen erstrahlen in ihrem Glanz. Khtau n’ Hoghx gleicht einem Lichtermeer.

Cora, die die herrliche Stadt voller Staunen bewundert, sieht, dass sie vor Leben wimmelt. Auf den Plattformen zwischen den kugeligen Hütten oder Nestern herrscht geschäftiges Treiben. Kleine, menschenähnliche Gestalten huschen schwindelfrei und sicher über die schmalen Stege und Brücken. Ähnlich wie sie selbst und Zpixs scheinen sie von innen zu leuchten. Allerdings ist dieses Körperlicht jetzt deutlich schwächer als vorhin, als sie noch am Boden des Waldes durch die tiefe Dunkelheit gewandert sind.

Manche der Xinghi tragen Lasten auf ihren Köpfen: Körbe, gefüllt mit Brot und Früchten, Amphoren, in Stoff verpackte Bündel. Kinder spielen in einem Klettergerüst aus Seilen. Sie flitzen über straff gespannte Stricke, springen ins Leere, drohen abzustürzen und fangen sich dann im letzten Moment. Cora hält vor Schreck den Atem an, als sie sieht, wie eines den Griff verfehlt und tatsächlich stürzt. Doch das Kleine landet ein paar Fuß tiefer in einem engmaschigen Netz, das sie vorher nicht gesehen hat. Der junge Xinghi benutzt dessen Federkraft, um sich wieder nach oben zu schnellen.

Zpixs wartet geduldig, bis die Menschenfrau ihn wieder anblickt.

Komm“, fordert er sie auf. „Ich will dir unsere Stadt zeigen.“

Sie folgt ihm ohne Angst über die schwankende Brücke, indem sie sich am oberen Führungsseil festhält. Sie weiß ja, sie träumt. Ihr kann nichts geschehen. Sollte sie fallen, so würde sie einfach aufwachen. Aber sie ist sich sicher, sie wird nicht stürzen. Nicht, wenn Zpixs bei ihr ist.

Sie erkennt jetzt, dass die meisten der Brücken doppelt sind und parallel nebeneinander herführen. Eine einzelne Hängebrücke wäre zu schmal für eine Begegnung zweier Passanten. So dient eine dem Hin- und die andere dem Rückweg.

Cora stößt auf einen der Lampions am oberen Seil und muss um ihn herumgreifen und sich ducken, um unter ihm durchzuschlüpfen. Durch die dünne Pergamentwand schimmert ein einzelner Lichtpunkt, der sich träge bewegt. Als sie die Kugel versehentlich berührt, springt der Lichtpunkt von der Innenwand weg und flattert wie eine erschreckte Motte umher. Das Licht flackert, wird heller und dunkler.

Was ist das?“, fragt sie ihren Führer, der nur drei Schritte vor ihr geht.

Ein Glühwürmchen.“

Aber das ist unmöglich. Hundert Glühwürmchen könnten nicht so ein helles Licht machen!“

Es ist nicht besonders hell, Cora. Wenn du es mit deinen Augen sähest, würdest du kaum den Weg über diese Brücke finden, selbst wenn der Mond durch das Laubdach schimmerte. Aber heute haben wir eine sternenklare Nacht.“

Ich sehe … mit deinen Augen?“

Ja, meine Freundin. Wir Xinghi sind Wesen der Nacht, wie du an der Geschäftigkeit in dieser Stadt siehst. Wir schlafen, wenn es Tag ist. Ich weiß nicht, wie es wäre, mit deinen Augen zu sehen, am Tag all diese wunderbaren Farben wahrzunehmen. Ich weiß nur, dass ihr im Dunkeln fast blind seid.“

Cora ist schon aufgefallen, dass sie keinerlei Farbtöne unterscheiden kann. Die grünen Blätter unter und über ihr wirken silbern, die Stämme der Bäume fast schwarz, die Früchte, die ein (eine?) Xinghi trägt, der auf der Brücke neben ihr vorbeigeht, zeigen alle Schattierungen von Grau.

Wie kommt es, dass sie“ – sie macht eine weitläufige Handbewegung, die Zpixs gar nicht sehen kann, da er vor ihr geht und ihr den Rücken zuwendet, aber er versteht trotzdem, dass sie die Bewohner der Stadt meint – „und wir, ich meine unsere Körper, leuchten?“

Das ist die Körperwärme. Jedes Wesen strahlt ein für euch Menschen unsichtbares Licht aus. Ein Affe, Mensch oder Xinghi leuchtet heller als eine Eidechse, Schlange oder Pflanze. Die Stämme der Bäume sind recht kühl, deshalb erscheinen sie dunkel. Auch wir Xinghi nehmen dieses Leuchten nur in der Nacht wahr, wenn unsere Augen angepasst sind. Es ist viel schwächer als anderes Licht. Weil unsere Laternen hier den Weg erleuchten und das Licht der Körperwärme überstrahlen, nimmst du es nicht mehr so hell wahr wie unten auf dem Boden, wo es sehr dunkel ist.“

Sie wandern weiter durch die hängende Stadt. Cora kommt aus dem Staunen kaum heraus. Sie hört seltsame, fremdartig klingende Musik, die von einer Plattform kommt, auf der etwa fünfzig Xinghi in einem Kreis sitzen. In der Mitte stehen ein Dutzend Musikanten, zupfen an Instrumenten, die aussehen wie kleine Jagdbögen mit fünf bis acht Saiten, die vom einen Ende des Bogens ausgehen und in einen Resonanzkörper führen, der aus einem ausgehöhlten Kürbis besteht. Andere Musiker schlagen kleine Trommeln oder blasen auf Rohrflöten. Ihre Zuhörer lauschen andächtig.

Cora und Zpixs ordnen sich in eine Schlange ein, die vor einer lange Brücke warten muss, weil viel Verkehr auf ihr herrscht. Sie ist erstaunt, dass keiner der Xinghi Notiz von ihr nimmt. Sie müssen doch überrascht über die Anwesenheit eines Menschen sein! Sie fragt ihren Führer danach.

Sie sehen dich nicht Cora. Erinnere dich: Nur deine Seele ist hier. Dein Körper schläft, weit von hier, viele Tagesreisen nach menschlicher Zeit, an einem Lagerfeuer im dichten Dschungel.“

Ich verstehe nicht, Zpixs. Wenn nur meine Seele hier ist, wieso machen mir die Xinghi Platz, warum laufen sie nicht durch mich hindurch? Warum hat der Lampion vorhin gewackelt, als ich ihn berührte, warum hat sich das Glühwürmchen erschreckt? Warum musste ich Zweige beiseite schieben, als ich an der Ranke hochgeklettert bin? Und warum siehst du mich dann?“

Sie hört das zwitschernde Geräusch, das Zpixs macht, wenn er etwas komisch findet. Es ist seine Art zu lachen.

Ich werde deine letzte Frage zuerst beantworten, Cora. Ich sehe dich, weil ich dein Seelenführer bin. Du bist jetzt ein Teil von mir. Mit meinen Augen kann ich dich nicht wahrnehmen, nur mit meiner Vorstellungskraft. Ich sehe, was du siehst und dir vorstellst. Bedenke, du bist zwar wirklich hier, in meiner Heimatstadt, aber du träumst auch, meine Freundin. Du hast den Lampion nicht wirklich berührt, die Zweige nicht beiseite geschoben, sondern dies nur so empfunden, weil du dir vorstellst, mit deinem Körper hier zu sein. Deshalb hast du auch deine Haut leuchten gesehen. Die Bewohner der Stadt gehen nicht durch dich hindurch, weil sie nicht durch mich hindurchgehen.“

Cora schüttelt verwirrt den Kopf.

Dann sehen die Xinghi also nur einen der ihren, der Selbstgespräche führend und kichernd durch die Stadt spaziert?“

Sie nehmen mich wahr, denn ich bin wirklich hier, aber sie sehen und hören nicht, wie ich mit dir spreche, denn es ist mein Geist, der sich mit dir unterhält. Du hörst nicht meine körperliche Stimme, sondern meine Gedanken, Cora.“

Sie sind mittlerweile an einem der bienenstockartigen Nesttrauben angelangt. Ein Gewirr von Kletternetzen und Strickleitern verbindet die Eingänge der einzelnen Wohnkugeln mit der Plattform, auf dem die Hängebrücke endet, über die sie gekommen sind. Zpixs klettert voran, Cora folgt ihm zu einer größeren Hütte. Sie betreten sie durch ein kreisrundes Loch, so hoch wie der Xinghi selbst. Cora muss sich ganz klein machen, um hindurchzupassen. An der hohen Decke, fast fünfzehn Fuß über ihr, hängen wieder einige der Leuchtkäfer-Lampions. Die eine Hälfte des Fußbodens nimmt eine mit Tüchern und Decken gepolsterte Schlafstätte für ein Dutzend oder mehr Bewohner ein, darüber schaukeln im schwachen Luftzug mehrere an Hanfseilen befestigte Plattformen und Hängematten in verschiedenen Ebenen, teils neben, teils übereinander, die höchsten zehn Fuß über dem Boden. Klettergerüste aus Stricken verbinden sie miteinander und mit dem Boden der Hütte. Dieser vielschichtige Wohnraum wirkt wie ein verkleinertes Abbild der Stadt draußen. Die andere Hälfte der Hütte ist voll gestopft mit Krimskram. Cora erkennt mehrere Lesemaschinen und Körbe voll mit Schriftrollen, die in die Maschinen eingespannt und aufgerollt werden können. Zpixs hat seinen menschlichen Freunden bei ihrer ersten Begegnung einmal eine solche Maschine gezeigt und ihnen damit aus der Sage von Khtho, der ersten Xinghi, vorgelesen. In einer Ecke stapeln sich Tontöpfe und Amphoren, Bastkörbe und Leinensäckchen mit unbekanntem Inhalt. Daneben stehen Körbe mit getrocknetem und frischem Obst, ausgehöhlte Kürbishälften, gefüllt mit Körnern, Nüssen und Pflanzenknollen – sie erkennt Knoblauch, wilde Süßkartoffeln und Zuckerrüben, – und an einer anderen Stelle hängen Schnüre von der Decke herab, auf der dicke, fleischige Pflanzenblätter zum Trocknen aufgereiht sind. Cora vermutet, dass es sich um Gewürze oder eine Art Tabak handelt. Eine gewisse Ordnung herrscht in einer anderen Ecke: Ein Aufbewahrungsmöbel, das an ein Regal erinnert, hängt an vier Schnüren von der Decke, die durch die durchbohrten Ränder von sechs übereinander hängenden flachen Weidenkörben führen, welche als Regalbretter dienen. Auf ihnen liegen zahlreiche für kleine Hände bestimmte Werkzeuge: Schnitzmesser, winzige Hämmer, Stechbeitel, Meißel und andere Spanwerkzeuge zum Aushöhlen und Bearbeiten von Holz, aber auch Geräte, deren Funktion Cora nicht versteht: seltsame Glasröhren, kaum dicker als ein Finger, Glaskolben und kegelartige Gefäße, filigrane Drahtgebilde, spiralig gebogene Eisenstangen und noch vieles mehr.

Hier wohne ich“, stellt Zpixs lakonisch fest.

Aber offensichtlich nicht allein. Wer sind deine Mitbewohner?“

Meine Familie: Mein Bruder Zpoxs mit seinen drei Partnern, meine eigenen Lebensgefährtinnen Khtoko und M’xith, mein Frauenbruder L’minh, meine Leibesmutter, meine Schwestermutter, deren Leibesmutter, unsere sechzehn Kinder und vier Enkelkinder.“

Meine Güte“, entfährt es Cora. „Und wo sind sie alle?“

Die Erwachsenen und die älteren Kinder gehen ihren Pflichten nach, arbeiten und lernen, und die Kleinkinder und Alten genießen das Leben. Sie werden alle vor Morgenanbruch zurück sein. Dann essen wir zusammen, erzählen uns, was wir erlebt haben und gehen schlafen.“

Dass du mit zwei Xinghi-Frauen zusammenlebst, habe ich verstanden, Zpixs, auch denke ich, dass deine Leibesmutter deine leibliche Mutter ist, aber wer sind dein Frauenbruder und deine Schwestermutter?“

Er ist der andere Lebensgefährte meiner Frauen. Wir Xinghi heiraten meist zu viert, manchmal auch zu sechst. Die Schwestermutter ist die Lebensgefährtin meiner Leibesmutter und mir ebenso lieb. Ihre beiden Männer sind leider verstorben und zu den Wurzeln zurückgekehrt.“

Zu den Wurzeln?“

Ja, des Baumes, der unserer Sippe gehört. Dort haben wir sie begraben. Sie sind von ihm wieder aufgenommen worden und leben, wie alle Ahnen unserer Sippe, in ihm weiter. Wenn du ein Flüstern im Wind hörst, dann sind es vielleicht die Blätter des Baums, vielleicht auch ihre Seelen. Wir können ihre Worte verstehen.“

Sie verlassen das Haus. Cora betrachtet den Stamm des Baumes, von dem der mächtige Ast ausgeht, an dem die Wohntraube von Zpixs’ Sippe hängt. Er ist hier oben immer noch dicker als der Stamm der uralten Dorfeiche in Brenton, die auf dem Platz vor dem Gasthof steht, und unter deren Krone sich das ganze Dorf versammeln kann. Ein Kletternetz, dessen Maschen mit kurzen Bambusrohrstücken verbunden sind, die als Tritte dienen, führt hinauf und verschwindet im Laubgewölbe.

Wohin geht es da?“, will sie wissen.

Zum Dach des Waldes. Du hast den höchsten Baum der Ostlande vor dir. Ich bezweifle, dass es irgendwo auf der Welt einen größeren gibt. Und er gehört unserer Sippe.“

Da Cora nicht die Worte selbst, sondern die Gedanken ihres nichtmenschlichen Freundes hört, kann sie den Stolz wahrnehmen, der in ihnen schwingt.

Möchtest du einen Blick von dort über die Länder des Ostens werfen?“

Das lässt sie sich nicht zweimal sagen und folgt dem Xinghi hinauf. Sie durchbrechen zum zweiten Mal ein Blätterdach und stehen auf einer Plattform hoch über dem Dschungel, die auf dem letzten, waagerecht verlaufenden Ast des Baumriesen errichtet ist, dessen Stamm hier immer noch so dick ist, dass ihn drei Menschen zusammen nicht mit den Armen umfassen könnten und der hinter ihnen noch weitere achtzig Fuß in die Höhe ragt.

Eigentlich ist Cora hierher gekommen, um einen Blick auf die Landschaft unter sich zu werfen, auf das Dschungelmeer, das sich weit in die Ferne erstreckt und dessen Wogen denen eines stürmischen und in der Zeit erstarrten Ozeans gleichen, oder auf die Berge, diese stummen Zeugen der Geschichte der gesamten Menschheit bis zurück zu Wathans Hammer, auf die weite Ebene, die Sümpfe und den breiten Strom bis hin zur Großen Kluft, aber ihr Blick verweilt nur kurz und wird dann von etwas anderem gefangen, weitaus beeindruckender als alles, was Cora bisher gesehen hat: vom Sternenhimmel.

Das samtartige Himmelszelt ist durchsetzt von Tausend mal Tausend und mehr glitzernden Diamanten, keiner von schwächerer Leuchtkraft als der hellste Stern, den die junge Frau zuvor mit ihren eigenen Augen erblickt hat. Sie erkennt kaum ein Sternbild wieder. Dort, wo vorher einige wenige die charakteristische Form gebildet haben, strahlen nun Dutzende, ja Hunderte mehr. Über dem Zenit glänzt die Milchstraße viele Male heller als in der sternenklarsten Nacht im Hochgebirge. Zarte Filamente schimmern in ihr, fadenartige Strukturen sind zu erkennen. Dunklere Wolken, eine sieht aus wie der Kopf eines Pferdes, verdecken an einigen Stellen ihr silbriges Schimmern. Funkelnde Sternhaufen, leuchtende Kugeln und Ringe, bizarre, zerfaserte Wolken, spiralige Nebel mit einem helleren Kern und langen aufgewickelten Armen, manche größer als die Sonnescheibe, sind über das Himmelsgewölbe verteilt. Wandelsterne in ihrem ruhigen, weichen Licht, ein Komet mit einem langen Schweif, der wie der Zeigefinger eines Gottes nach Westen zeigt, aufblitzende und verlöschende Sternschnuppen, die nachleuchtende Striche über die schwarze Leinwand ziehen, sind die langsamen und schnellen Wanderer zwischen den unverrückbaren Edelsteinen der Sterne, die so hell strahlen, dass Cora ohne Probleme ein Buch lesen könnte. Ihr Großvater hat ihr erzählt, dass die Seelen der Verstorbenen, die Gnade vor den Augen Wathan-Bejhis gefunden haben, dort wohnen, und dass die Astronomen siebentausend von ihnen gezählt haben. Sie hat sich immer gefragt, warum so wenige vor dem göttlichen Gericht frei gesprochen wurden. Sollte die übergroße Mehrzahl der Seelen in der Unterwelt bei Wathan-Kha Buße tun müssen? Jetzt blickt sie zur Vergangenheit der Menschheit hinauf, auf unzählige Generationen, auf Millionen und Abermillionen Erlöster, und sie dankt Wathan für seine Gnade.

Lange Zeit steht sie ehrfürchtig schweigend da und genießt das Wunder mit den Nachtaugen des Xinghi. Dann haucht sie:

Danke, Zpixs.“

Ihr Begleiter wendet sich ihr zu:

Wir sollten jetzt gehen, Cora. Ich möchte heute noch vor den Rat treten und ihm euer Anliegen um meine Hilfe vortragen. Du kannst leider nicht dabei sein. Du musst zurück. Es ist nicht gut, wenn ein Körper zu lange von seiner Seele getrennt ist. Komm jetzt.“

Sie klettern hinab.

Spin erwachte mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Etwas stimmte nicht, das spürte er mit seinen Waldläuferinstinkten. Es war noch fast dunkel, aber der schwache Schimmer der Morgendämmerung suchte sich bereits seinen beschwerlichen Weg durch die Lücken im Dschungeldach hinab zu der kleinen Lichtung.

Er setzte sich auf und blickte sich um. Ein trockenes Rascheln war es gewesen, das ihn geweckt hatte. Er kannte das Geräusch, wenn Schuppen über Schuppen glitten. Dann entdeckte er sie: Die sich häutende Schlange lag auf der Brust der schlafenden Cora. Eine nur einen Fuß lange Giftnatter, eines der tödlichsten Tiere überhaupt, besonders, wenn sie ihre Haut wechselte.

Die kleine Schlange wirkte erregt. Die alte, zu enge Haut abzustreifen, musste anstrengend und beschwerlich sein. Es bereitete ihr Unbehagen. Sie könnte einem Feind nicht entfliehen, der sie jetzt angriffe, und war daher äußerst reizbar. Jede plötzliche Bewegung Coras würde sofort zum tödlichen Biss führen. Zum Glück schlief die junge Frau tief und fest. Ihre Brust hob und senkte sich fast unmerklich. Es schien, als habe gerade dieses sanfte Schaukeln die Schlange ein wenig beruhigt.

Spin versuchte ebenfalls, sich zu beruhigen. Er konnte nicht hinübergehen und die Schlange kurz hinter dem Kopf am Hals packen. Sie würde ihn in ihrem erregten Zustand bemerken. Er überlegte, ob er sie mit einem Pfeil erschießen könnte, aber das schien unmöglich, ohne Cora schwer zu verletzen. Er blickte zu den anderen, die um das erloschene Feuer in ihre Decken gewickelt lagen, und war ein wenig beruhigt, als er Bocs leises Schnarchen hörte. Wenn der Schmied aufwachte und sähe, in welcher Gefahr seine Frau schwebte, würde er zu ihr hinüberstürzen und versuchen, die Schlange mit bloßen Händen wegzureißen. Es wäre ihr oder sein Tod.

Neben ihm lag Gormen. Vorsichtig berührte er seinen Arm. Der Schwarze Mönch erwachte augenblicklich. Der Waldläufer legte einen Finger über die Lippen, dann erklärte er leise die Situation. Der Magier handelte augenblicklich. Spin sah, wie die Schlange kurz zuckte und dann mitten in der Häutungsbewegung erstarrte. Gormen ging hinüber, fasste sie am Schwanz und hob sie hoch. Sie war steif wie ein Ast. Er holte aus und warf sie mit weitem Schwung ins Gebüsch.

„Was hast du gemacht?“, wollte Spin wissen.

„Ich habe ihre Muskeln erstarren lassen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen.“

„Ist sie tot?“

„Nein. Warum sollte ich sie töten? Sie stellt keine Gefahr mehr dar.“

Der Waldläufer war da anderer Meinung, aber er ließ es auf sich beruhen. Boc war durch ihr Gespräch auch erwacht. Er setzte sich auf, gähnte und rieb sich die Augen.

„Frühstückszeit“, schlug er vor. Zum Glück hatte er nichts mitbekommen. Spin blickte wieder zu Gormen. Der starrte nachdenklich auf die immer noch schlafende Cora.

„Da stimmt etwas nicht.“

Spin trat neben ihn und erkannte, was der Mönch meinte: Cora lag starr, aber mit offenen Augen da. Ein Schreck durchzuckte ihn. War sie doch gebissen worden? Rasch beugte er sich zu ihr hinab und fühlte ihren Puls. Er schlug gleichmäßig. Sie atmete immer noch flach wie eine Schlafende. Ab und zu blinzelte sie, aber ihre Pupillen wirkten blicklos wie die einer Toten.

„Cora!“ Spin schüttelte sie am Arm, doch sie zeigte keine Reaktion. Boc, der sich aus seinen Decken geschält hatte, stieß ihn beiseite. Dann riss er sie in seine Arme.

„Cora, Cora! Was ist mit dir?“

Gormen legte eine Hand auf seine Schulter.

„Sie schläft, Boc. Es geht ihr gut.“

„Aber warum hat sie dann die Augen offen? Wieso wacht sie nicht auf?“

„Ich weiß es nicht. Lass mich sie untersuchen.“

Der verängstigte Schmied wiegte seine Frau in den Armen.

„Ich verstehe das nicht. Was ist bloß geschehen?“

Tränen kullerten über seine Wangen.

Spin und Gormen blickten sich ratlos an. Sie waren ebenso verwirrt wie Boc und wussten keinen Trost für ihn.

Plötzlich bewegte sich die junge Frau und hustete leise. Boc schrie:

„Cora! Meine Liebste. Wo bist du gewesen?“

Die Angesprochene schien verwirrt.

„Warum weinst du, Boc? Ich bin doch hier. Ich habe geschlafen und einen Traum gehabt. Jetzt bin ich wieder bei euch.“

Cora wollte nicht über ihren Traum sprechen. Sie spielte die Tatsache, dass sie mit offenen Augen wie tot dagelegen hatte, ein wenig herunter. Sie sei übermüdet und die Reise sehr anstrengend gewesen. So etwas käme vor. Es sei alles in Ordnung mit ihr, und sie fühle sich gesund.

Die Besorgnis von Boc, der sich nicht damit zufrieden geben wollte, und die ruhigen und besonnen, aber gleichwohl hartnäckigen Fragen von Gormen und Spin begannen ihr auf die Nerven zu gehen. Doch bevor es zum Streit kommen konnte, erschien Zpixs wie ein Geist. Gormen zuckte zusammen. Selbst die Koridreaner erschraken, obwohl sie die Manifestation schon oft erlebt hatten.

Der Xinghi blickte sie an. Auf Cora, die allmählich Übung darin bekam, das minimale Mienenspiel und die umso auffälligeren Bewegungen der Ohren zu deuten, machte er einen nachdenklichen Eindruck. Sie fragte ihn ohne Umschweife:

„Hat der Rat der Xinghi eine Entscheidung getroffen, Zpixs? Wirst du uns helfen?“

„Der Rat hat entschieden, dass der König von Koridrea wohl keine Bedrohung für unser Volk ist.“

Spin runzelte die Stirn.

„Der König von Koridrea? Du meinst Bredos, den alten Silberhelm? Natürlich ist er keine Bedrohung für euch. Aber was hat der denn damit zu tun?

„König Bredos ist tot. Athlan Gadennyn trägt jetzt die Herrscherkrone.“

Cora keuchte.

„Semanius ist – König von Koridrea? Du musst dich irren, Zpixs.“

Der kleine Waldbewohner antwortete nicht. Allmählich ging ihnen auf, dass es stimmen musste: Die Xinghi beobachteten die Menschen jenseits der Berge genau und wussten fast alles über sie. Eine zeitlang fühlten sich Cora und ihre Gefährten so geschockt, dass niemand ein Wort sprach. Boc fand als Erster seine Stimme wieder.

„Wenn die Xinghi keine Bedrohung in Gadennyn sehen, dann wirst du uns also auch nicht helfen. Ohne dich haben wir keine Chance gegen diesen mächtigen Magier, Zpixs. Es ist vorbei. Unsere Mission ist zu Ende.“

Cora widersprach scharf:

„Aber ihr müsst doch einsehen, dass er erst uns und dann euch vernichten wird. Wie könnt ihr nur so verbohrt sein!“

„Der Rat glaubt zwar nicht, dass sich Gadennyn mit einem Heer in die Ostlande traut, gesteht aber auch ein, dass ihr vielleicht doch recht haben könntet. Er hat mir deshalb den Auftrag gegeben, euch zu begleiten und bei eurem Kampf gegen den Lordmagier zu beobachten. Sollte ich zu dem Schluss kommen, dass Gadennyn eines Tages zur Gefahr für unser Volk werden könnte, dann habe ich freie Hand zu tun, was immer ich für das Beste für unser Volk halte.“

Gormen begriff als Erster.

„Dann wirst du uns vielleicht doch helfen?“

„Ich habe einen Eid geschworen, dem Rat zu gehorchen. Und das werde ich auch tun. Aber ich bin der einzige unseres Volkes, der Gadennyn schon einmal begegnet ist und weiß, welch furchtbare Bedrohung er darstellt. Da man mir freie Hand gegeben hat, selbst zu entscheiden, werde ich euch helfen.“

Cora nahm das kleine Geschöpf in die Arme und drückte es an sich.

„Du bist ein echter Freund. Wir danken dir, lieber Zpixs.“

Die anderen brachten ebenfalls ihre Freude über die Entscheidung des Waldbewohners zum Ausdruck, aber Spin beendete es mit den Worten:

„Lasst uns so bald wie möglich aufbrechen. Wir haben zwar noch genug Zeit, um rechtzeitig am Treffpunkt mit Traigar, Duna und den Schwarzen Kämpfern zu sein, aber es ist auch noch ein beschwerlicher Weg über den Pass.“

„Der Pass ist jetzt für euch Menschen unpassierbar. Ich war vor kurzem dort. Hätte ich die Zeit nicht verändert, wäre ich bald erfroren. Als ihr über die Berge gekommen seid, war es Sommer. Jetzt bedeckt der Schnee den Passweg so hoch, dass ihr einen Tunnel graben müsstet. Es wehen eiskalte Winde dort oben. Ihr würdet keine Nacht überstehen.“

„Aber was machen wir dann?“

„Wir müssen die Vas-Thet-Berge südlich umgehen.“

Spin schüttelte den Kopf.

„Das würden wir nie rechtzeitig schaffen. Der Umweg beträgt sicher mehr als tausend Meilen!“

„Weit mehr als tausend Meilen, Spin“, erklärte Zpixs. „Aber die Südländer haben euch ausdauernde und schnelle Rösser geschenkt. Ich weiß einen Weg, auf dem wir rasch vorankommen Wir könnten fünfzig Meilen am Tag schaffen und in etwa drei Wochen die Küste der Südlande erreichen. Es gibt dort einen Seehafen, von dem Handelsschiffe nach Shoal segeln. Die Reise über das Meer dauert etwa eine Woche. Mit etwas Glück könnten wir schon in einem Monat in Shoala sein.“

Die Dämonen

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