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Die Hyäne

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Das Wesen, das einmal eine Hyäne gewesen war, wanderte im dunklen Nadelwald, der die Hänge des Wolfszahngebirges säumte, nach Norden, getrieben von dem Verlangen, die schwarz gekleideten Menschen zu finden, die seine Gedanken und Tagträume beherrschten, und sie zu töten, damit es endlich wieder es selbst sein konnte. Die Kreatur versuchte, diese unaufhörlich vor ihrem inneren Auge vorbeiziehenden Bilder, die der Meister ihr eingegeben hatte, zu unterdrücken, indem sie sich an vage Erinnerungen aus einer fernen Vergangenheit klammerte.

Sie sieht sich wieder mit ihrer Sippe jagen. Das Rudel rennt durch das hohe Gras der südländischen Steppe. Hyänen können nicht so schnell laufen wie Antilopen, sind aber ausdauernd und unerbittlich. Sie suchen sich meist ein altes oder krankes Tier aus und hetzen ihr Opfer so lange, bis es nicht mehr weiter kann. Gemeinsam fallen sie dann über es her und reißen es in Stücke.

Wenn die Jagd vergeblich ist – und das ist nicht selten der Fall – halten sie Ausschau nach kreisenden Aasvögeln, um die Kadaver verendeter Tiere zu finden. Dabei schlagen sie auch oft deren Jäger in die Flucht, seien es Wildhunde, Wölfe oder große Laufkatzen. Mit ihren Kiefern, ausgestattet mit sehr starken Muskeln, kann eine Hyäne Knochen wie dürre Äste brechen. Die Anführerin des Rudels hat sogar einmal eine einzelne Löwin angegriffen, um ihr die geschlagene Beute abzujagen, und ihr eine Pranke halb abgebissen, bevor sie selbst tödlich von ihr verletzt wurde. Aber der Rest des Rudels hat der Katze, fast doppelt so groß wie eine Hyäne yäneH , den Garaus gemacht.

Jetzt ist das Rudel ohne Leittier, und ein Kampf um seine Führung beginnt. Drei weibliche Hyänen streiten darum, und sie selbst ist in ihrem Tagtraum wieder eine von ihnen. Sie versucht es, aber sie ist die jüngste und schwächste und unterliegt den anderen. Schwer verletzt bleibt sie zurück, als ihre Sippe weiterzieht. Tagelang verkriecht sie sich im Gebüsch, frisst nichts als eine Maus, die sich unvorsichtig in ihre Nähe gewagt hat. Als die Bisswunden geschlossen und verschorft sind, hinkt sie ihrem Rudel hinterher. Es nähme sie wieder auf, wenn sie sich der neuen Rudelführerin unterwürfe. Aber dann gerät sie eines Nachts in eine Falle. Sie stößt auf ein frisches totes Kaninchen und macht sich gierig und unvorsichtig über es her. Doch der Boden gibt unter ihr nach, und sie stürzt in eine tiefe Grube, aus der sie sich nicht befreien kann.

Die verhassten Zweibeiner erscheinen nach Sonnenaufgang und werfen ein Netz über sie. Bevor sie es zerfetzen kann, sind drei Männer in die Grube gesprungen und haben sie trotz heftiger Gegenwehr zusammengeschnürt, bis sie sich nicht mehr bewegen kann. Dann bindet man ihr einen Sack über den Kopf.

An die Tage und Wochen danach erinnert sie sich kaum noch. Vage Bilder einer stinkenden Hafenstadt, eines engen, vergitterten Käfigs auf schwankenden Planken, einer Wüste aus Wasser, dann wieder einer Stadt der Menschen und schließlich eines weiteren Käfigs, etwas größer als der erste, erscheinen vor ihrem inneren Auge.

Sie ist nicht allein. Rings um ihr Gefängnis erblickt sie andere, ebenfalls eingesperrte Tiere. Manche kennt sie, etwa die gewaltigen Alafanten mit ihren Stoßzähnen und langen Rüsseln, dann die baumhohen, langhalsigen, gescheckten Tiere, die in der Steppe die Blätter der Akazien mit ihren schlangenartigen Zungen von den dornigen Zweigen pflücken, und einige Gazellenarten. Diese Herdentiere sind in einem großen, von einem tiefen Graben umgebenen Gehege gefangen. Ebenso erkennt sie den Leoparden, ihren Fresskonkurrenten, der in einem engen Verhau hinter einem Gitter auf und ab läuft und sie manchmal anfaucht. Andere Wesen hat sie dagegen noch nie gesehen, wie die riesige, gestreifte Raubkatze im Nachbarkäfig oder das große Tier mit den kurzen Hörnern und dem zotteligen Fell, das in seinem Pferch vor sich hin stiert. Und überall wimmelt es von den abscheulichen Menschen, diesen lärmenden Zweibeinern, die sie anstarren und dabei Laute ausstoßen, die denen ihres eigenen Rudels nicht unähnlich sind. yänenH

Und dann, eines Tages, holt sie der Meister zu sich, und sie erfährt, was Schmerz ist.

Die Rippen traten aus ihren eingefallenen Flanken hervor. Seit Tagen schon hatte sie nichts gefressen. In dieser bitterkalten Winternacht wagte sie sich wieder einmal hinunter in die Ebene, um zu jagen, aber das Wild verbarg sich, und die Viehgatter auf den Weiden standen leer, denn die Bauern hatten ihre Rinder, Schafe und Ziegen in die Ställe gebracht.

Ein Geruch nach Dung und Mist lockte sie zu einer menschlichen Ansiedlung. Sie umkreiste das stille und dunkle Dorf, dessen Häuser fast unter dem Schnee begraben lagen. Eines stand etwas abseits. Ein wenig Licht sickerte durch die Ritzen der geschlossenen Läden und warf helle Streifen auf die drei Fuß hohe Schneedecke. Vorsichtig schlich sie näher. Ein leises Muhen drang aus dem Stall herüber, der in der Nähe des Hauses stand. Die Stalltür stand einen Spalt offen. Sie zwängte sie auf und glitt geräuschlos ins dunkle Innere. Die einzige Kuh im Stall roch die Hyäne, bevor sie sie erblickte. Sie konnte nur noch einen lauten Angstruf ausstoßen, dann zerfetzten scharfe Reißzähne ihre Kehle.

Kaum hatte die dämonische Kreatur zu fressen begonnen, stürzten drei Zweibeiner in den Stall. Sie mussten den Todesschrei der Kuh gehört haben. Einer von ihnen trug eine brennende Fackel, die beiden anderen hielten lange Stangen in den Händen, an deren Enden gekrümmte, wie Reißzähne aussehende und gefährlich wirkende Klingen befestigt waren. Der kleinere Mensch mit der Fackel schrie erschrocken auf und ließ sie fallen, als er die hyänenartige Kreatur entdeckte, fast ebenso groß wie ihre Beute, die Kuh. Die beiden anderen kamen mit nach vorne gereckten Stangen vorsichtig auf sie zu.

Diese lästigen Zweibeiner störten sie beim Fressen, wollten ihr vielleicht sogar die Beute streitig machen. Aber sie dachte nicht daran, sie preiszugeben. Sie empfand die kleinen, schwachen Wesen nicht als echte Bedrohung. Gier und bohrender Hunger beherrschten sie im Augenblick noch stärker als der Wunsch zu töten, und so fraß sie hastig weiter, die Menschen dabei nicht aus ihrem Blick lassend. Sie würde sich später um sie kümmern.

Die scharfe Klinge der Sense fuhr in ihre Flanke und schlug eine klaffende, tiefe Wunde. Sie stieß ein Heulen aus und sprang auf. Bevor der Mann zu einem erneuten Hieb ausholen konnte, hatte sie ihm den Arm, mit der er die Waffe schwang, abgebissen. Er sank mit kreidebleichem Gesicht zu Boden, während ein Strahl Blut aus dem Stumpf spritzte. Der andere Angreifer drehte sich um und wollte fliehen, aber er kam nicht weit. Sie packte ihn am Bein und spürte den Oberschenkelknochen splittern. Er schrie wie ein Schwein, als sie seine Bauchdecke öffnete und die Gedärme herausriss. Tödlich verletzt, versuchte er dennoch zu entkommen und rollte sich zur Seite auf die am Boden liegende Fackel. Diese erlosch, und Dunkelheit füllte den Stall. Die dritte Person lief heulend davon.

Draußen fand sie ihre Spur, die zur Hütte führte. Die Frau, die sich ins Innere des Hauses geflüchtet hatte, konnte ihr Schluchzen und Winseln nicht unterdrücken, und die Hyäne vernahm es. Aber die fest verschlossene Tür und die versperrten Fensterläden hielt sie auf. Und so kehrte sie zurück zum Stall und fraß sich den Bauch voll.

Sie konnte nicht weiter. Die Verletzung machte ihr arg zu schaffen. Sie hatte viel Blut verloren und war geschwächt. Instinktiv hatte sie die Wunde ausgeleckt und gesäubert, trotz der Schmerzen, die ihre raue Zunge dem wunden Fleisch bereiteten. Nun musste sie abwarten, bis sie heilte. Aber als Tier der Savanne war sie die Kälte dieses Landstrichs nicht gewohnt. Der eisige Wind biss in ihre Wunde und quälte sie. Der Schorf gefror in dem tiefen Schnitt und verhinderte das Zusammenwachsen der Wundränder. Hier draußen würde sie nicht lange überleben.

Zwei Tage nachdem sie die Menschen getötet hatte, fand sie endlich einen Unterschlupf: ein schmaler Höhleneingang in der Flanke einer steilen Felswand. Sie zwängte sich hindurch und kroch auf dem Bauch immer tiefer hinein, bis sich der steil hinabführende Gang etwas erweiterte. Als Nachtjäger konnte die Hyäne im Dunkeln gut sehen. Diese Fähigkeit hatte ihr Meister noch erheblich verbessert, und so reichte ihr die schwache Spur von Licht, das von weit her zu kommen schien. Hier war es nicht so bitterkalt wie draußen, und es schien umso wärmer zu werden, je weiter sie vordrang. Also kroch sie immer tiefer in den Tunnel hinein, auf das ferne Licht an seinem Ende zu. Der kaum wahrnehmbare Schimmer verstärkte sich zu einem bleichen und kalten Glühen.

Schließlich erreichte sie eine riesige Felsenhalle. Ein großer unterirdischer See bedeckte einen Großteil ihres Bodens. Dieses Gewässer erwies sich als Ursprung des Lichts: Sein Wasser leuchtete in fahlem Grün. Die Oberfläche wirkte glatt wie ein Spiegel. Vorsichtig kroch sie zum Rand. Das Leuchten ging von Myriaden winziger, lebender Punkte aus, die sich zittrig durcheinander bewegten. Inmitten der kleinen leuchtenden Tierchen entdeckte sie große, längliche Schatten, die mit trägen Flossenschlägen den See durchpflügten – manche von ihnen größer als ein Mensch. Hier gab es also Nahrung und Wasser, und sie würde bleiben und sich ausruhen können, bis ihre Wunde verheilt war.

Sie hatte lange Zeit geschlafen und erwachte nun, weil sie Hunger und Durst hatte. Den löschte sie zuerst, indem sie ihre Zunge wie einen Löffel in die grüne Brühe tauchte und eine Lache am Uferrand mitsamt dem was in ihm lebte, aufschleckte. Ihre weiten Pupillen leuchteten grüngelb. Die Netzhäute ihrer Nachtaugen reflektierten das Licht des Sees.

Fressen. Es schwamm nicht weit vor ihr. Große, fette Fische. Aber sie scheute das Wasser, und die Beute schien unerreichbar fern. Sie watete ein kleines Stück hinein in den seichten Bereich am Ufer, verharrte jedoch unschlüssig, als ihr Bauchfell nass wurde. Schon wollte sie wieder umkehren, da bemerkte sie, dass sich ein riesiger dunkler Schatten unter dem Wasserspiegel näherte.

Der Herr des Sees war uralt. Seine schuppige Haut zeigte zahlreiche Narben von den Kämpfen längst vergangener Jahre, als er noch jung gewesen war. Heute kannte er keine natürlichen Feinde mehr. Die anderen Fische, auch die stärksten, machten einen großen Bogen um ihn. Dennoch war er schnell genug, um sich unter ihnen seine Opfer zu suchen. Mit kleinen Beutefischen gab er sich nicht mehr ab. Und dank der Auslese, die er unter den Raubfischen traf, konnte sich die Bestände der Schwarmfische, die sich vom Plankton ernährten, und der kleinen Räuber und Aasfresser immer wieder erholen. Er stand an der Spitze der Nahrungskette, regulierte die Zahl der großen Räuber und sorgte damit dafür, dass der See reich an Leben war.

Er hatte Hunger. Seine Schwanzflosse bewegte das Wasser so sachte, dass er nur langsam dahinglitt. Aber so würde sein Opfer nicht bemerken, dass er sich näherte. Bis zum letzten Augenblick wollte er warten, dann nach vorne schnellen. Allerdings hatte er heute noch keine lohnende Beute gefunden. Er wusste aus Erfahrung, dass sich viele der größeren Fische ins flache Uferwasser zurückzogen, in der Hoffnung, er würde ihnen nicht dahin folgen. Er steuerte gerade die Untiefe an, als er zwei Lichtpunkte einige Körperlängen vor sich entdeckte. Neugierig schwamm er näher. Die Lichtpunkte wuchsen zu kleinen, leuchtenden Scheiben, die über dem Wasserspiegel schwebten. Diese Lichter zogen ihn magisch an. Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich um Beute handelte. Nicht zum ersten Mal jagte er außerhalb des Wassers. Er hatte schon das eine und andere ahnungslose Landtier in die Tiefe gezogen, das sich unvorsichtig dem Ufer seines Reichs, dem leuchtenden See, genähert hatte. Sie kannten nicht die Gefahr, die dort lauerte. Mit einem schnellen Flossenschlag, der ein platschendes Geräusch verursachte und den eben noch glatten See kräuselte, tauchte er auf den Grund. Eng am felsigen Boden des Gewässers glitt er auf das Ufer zu. Die leuchtenden Augen des Landtieres wiesen ihm den Weg. Im trüben Grün entdeckte er vier bis auf den Grund ragende Säulen, die Beine seines Opfers. Seine Beute schien recht groß zu sein, aber das Wasser war sein Element. Landbewohner konnten in ihm nicht atmen. Sobald er sie unter die Seeoberfläche gezogen hatte, würde sie ertrinken. Als er sie fast erreicht hatte, schnellte er in einem flachen Winkel aus dem Wasser und riss das mit dichten Reihen kegelförmiger, nadelspitzer Zähne bewehrte Maul auf.

Der große Schatten näherte sich schnell. Alle Muskeln der Hyäne spannten sich in Erwartung des Kampfes an. Hätte sie denken können, wäre sie sicher darüber verwundert gewesen, dass ein Fisch es wagte, sie anzugreifen.

Das Wasser spritzte hoch auf, als der uralte, zwölf Fuß lange Riesenbarsch und Gadennyns Dämonengeschöpf aufeinanderprallten. Die Kiefer des Fisches schnappten zu, ohne etwas zu fassen zu bekommen. Die Zähne der Hyäne schlugen tief in den harten Schädel des Barschs, knackten ihn wie eine Nuss. Seine Schwanzflosse peitschte noch das Wasser und wühlte es auf, als er längst tot war.

Ihre Beute reichte aus, um ihren Hunger über viele Tage zu stillen. Sie hatte gefressen, getrunken und sich ausgeruht. Ihre Wunde hatte sich geschlossen, und sie spürte kaum noch Schmerzen. Es war an der Zeit, den unterirdischen See zu verlassen und weiterzuziehen, um ihre Bestimmung als Werkzeug des Meisters zu erfüllen. Aber dann geschah etwas, dass sie veranlasste, nicht den engen Gang nach draußen, durch den sie die Höhle ereicht hatte, sondern einen anderen Weg zu wählen.

Ein Gegenstand schwamm auf dem Wasser.

Er trieb nicht weit von ihrer Lagerstätte ans Ufer, und sie tappte hinüber, um ihn neugierig zu beschnüffeln. Er roch nach Mensch! Sie hatte einen Schuh entdeckt, auch wenn sie sich dessen natürlich nicht bewusst war. Aber eines sagte ihr ihr tierischer Verstand dennoch: Dort wo er herkam, musste es Menschen geben.

Sie hasste Menschen. Ja, auch Tiere können hassen, wenn sie der Freiheit beraubt und gequält werden, so wie sie es hatte erleiden müssen. Seltsamerweise galt dieser überwältigende Hass nicht ihrem Meister, der ihren Körper – unter furchtbaren Qualen für sie – verändert hatte. Instinktiv betrachtete sie ihn nicht als Menschen, sondern als Leittier ihrer eigenen Art, das sie – wie früher ihre Rudelführerin – wegen des Rangunterschieds beißen und erniedrigen durfte. Aber ihr Meister hatte ihr auch die Fähigkeit gegeben, Menschen zu töten. Sie hatte schon einige Male davon Gebrauch gemacht und würde es bei jeder sich bietenden Gelegenheit wieder tun. Der Drang, diese verhassten Zweibeiner umzubringen, war größer als jedes andere Bedürfnis. Es bereitete ihr überwältigendes Vergnügen.

Sie folgte dem Seeufer in die Richtung, aus der der Schuh angetrieben worden war, und fand an seinem Ende einen Zufluss, einen kleinen plätschernden Bach, der durch einen engen Tunnel geflossen kam. Sie zwängte sich hinein und folgte dem Gang, der ihrem Körper gerade genug Platz bot. Sie kroch, tief an den Boden geduckt und mit dem Rücken fast die Decke streifend, immer weiter das Bachbett hinauf, so lange, bis selbst ihre ausgezeichneten Nachtaugen nicht mehr den geringsten Lichtschimmer entdecken konnten. In völliger Dunkelheit schob sie sich vorwärts, umspült vom eiskalten Wasser, getrieben von Hass und der Gier nach menschlichem Blut. Die Kälte drang von ihrem durchnässten Fell bis in ihre Knochen. Die Wunde schmerzte wieder stark. Wenn der Durchlass zu schmal für sie würde, gäbe es keine Chance zur Umkehr. Sie müsste dann in diesem Gang verenden. Aber der Tunnel erweiterte sich schließlich, sodass sie wieder aufrecht laufen konnte.

Und dann vernahm sie ganz leise Stimmen und ein schwaches klopfendes Geräusch. Töne hallen in Höhlen und Tunneln extrem weit, und so musste sie noch anderthalb Tage lang weitertrotten, bis sie schließlich einen schwachen Lichtschimmer wahrnahm. In diesem Schein erkannte sie, dass sich die Höhlenwände verändert hatten. Sie zeigten sich nicht mehr rau und unregelmäßig, sondern glatt und eben. Der Bach floss noch immer am Fuß des Gangs, jedoch in einem ausgehauenen Graben am Rand. Sie hatte keine Vorstellung davon, dass sie sich in einem verlassenen Stollen eines weit verzweigten Bergwerks befand, einer Silbermine. Die Stimmen und die Geräusche der Spitzhacken und Schaufeln der Minenarbeiter wurden lauter. Sie hörte ein Poltern und Fluchen. Dann verstummten die Arbeitsgeräusche. Die Menschen mussten nun ganz nahe sein. Wenig später hörte sie die sich nähernden Schritte eines einzelnen Zweibeiners. Der Lichtschein wurde heller. Von ihm magisch angezogen, lief sie mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen weiter.

Ein großer Erzbrocken löste sich von der Wand, polterte auf den Boden des Stollens und traf beinahe den Fuß eines der vier Männer, die im Licht der Grubenöllampen arbeiteten. Der Vorarbeiter schimpfte:

„Passt doch auf! Wie oft habe ich euch gesagt, ihr sollt zurücktreten, bevor einer verletzt wird.“

Mit ihren Spitzhacken zertrümmerten zwei von ihnen das Felsstück, während ein Dritter das zerkleinerte Material in einen zweiachsigen Karren lud, vor dem ein angeschirrter Esel stand. Der Wagen war fast bis zum Rand mit Erz gefüllt.

„Das reicht. Bring die Ladung jetzt raus, Idu. Ihr anderen könnt eine Pause einlegen. Ich schau mich mal dort drüben ein wenig um.“

Er deutete hinter sich ins Dunkel.

Idu setzte sich auf den kleinen Kutschbock, nahm die Zügel und gab damit dem Esel, der mit hängendem Haupt schlief, einen aufmunternden Klaps auf das Hinterteil. Der stellte die Ohren hoch, schüttelte den Kopf und zog an. Das kleine, vierrädrige Fuhrwerk setzte sich auf dem glatt behauenen Felsboden des Stollens ächzend in Bewegung. Der Gang verlief leicht abschüssig, sodass das Tier nicht viel zu ziehen hatte. Bald war der Karren hinter der nächsten Biegung verschwunden.

Der Vorarbeiter verließ seine Leute, die es sich auf dem Boden gemütlich machten und ihre Vesper auspackten, und ging zu einem Seitenstollen, dessen Eingang ein paar Schritte abseits lag. Er hob die Lampe und leuchtete in den dunklen Gang. Weit reichte der Lichtschein nicht. Er trat hinein und folgte dem Stollen. Mit fachmännischem Blick begutachtete er die grau glänzenden Streifen in den Wänden. Die Silberader wurde umso unergiebiger, je weiter er vordrang. Dieser Stollen verband zwei Teile des Bergwerks – die tiefer gelegene alte und die neue Grube, in der sie jetzt arbeiteten. Die alte Grube hatte die Minenleitung nach einem Wassereinbruch stilllegen lassen. Die Arbeiter hatten versehentlich einen unterirdischen Fluss angebohrt, wodurch die meisten Stollen vollliefen. Diese alten Schächte und Gänge waren zur fixen Idee des Vorarbeiters geworden. Er glaubte an das Gerücht, dass es dort noch Unmengen an Silber gab, das nur darauf wartete, abgebaut zu werden. Die Minenleitung wollte davon nichts wissen, und deshalb stellte er Ermittlungen auf eigene Faust an. Er hoffte, im verlassenen Teil auf eine ergiebige Ader zu stoßen und reich zu werden. Der größte Teil des Wassers war wieder abgeflossen, sodass ihm seine Erkundungsgänge, die er – zur Belustigung seiner Leute, die ihn hinter vorgehaltener Hand als Narren bezeichneten – in den Arbeitspausen machte, einigermaßen ungefährlich schienen.

Er hielt die schwere Grubenlampe an ihrem Henkel in seiner Rechten. Sie baumelte in Kniehöhe, und ihr schwankender Schein warf einen zwei Schritte weiten Hof. Es wäre zu kraftraubend gewesen, sie wie eine Fackel ständig hochzuhalten. Außerhalb dieses Kreises herrschte tiefes Dunkel. Aber er musste auch nicht weit sehen. Es genügte ihm, die Stollenwände nach dem Glänzen des Silbererzes abzusuchen. Nach einigen Minuten erreichte er einen steilen Quergang, durch den Wasser in einer Rinne floss. Diesem folgte er weiter abwärts. Er bog um eine Ecke und hielt erschrocken an.

Vor ihm bewegte sich etwas. Ein großer Schatten kroch auf ihn zu. Er hob die Lampe über den Kopf, sodass ihr Lichtschein darauf fiel. Als er die Alptraumkreatur erblickte, ließ er die Laterne fallen, wandte sich mit einem erstickten Schrei um und rannte um sein Leben. Er kam gerade mal zehn Schritte weit, bevor sein Verfolger die Flucht mit brutaler Gewalt beendete.

Blut färbte das Wasser des Rinnsaals im Schein der zerborstenen aber noch flackernden Grubenlampe rosarot. Die Hyäne hielt sich nicht lange mit Fressen auf und ließ die zerfleischten Überreste des Vorarbeiters zurück. Sie wollte töten. Nicht weit entfernt erklangen die Stimmen weiterer Menschen. Sie betrat einen Gang, an dessen Ende Licht schimmerte. Sie schlich näher. Dort, im Schein heller Lampen, saßen zwei Zweibeiner mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Sie fraßen etwas. Die Hyäne hielt sich außerhalb des Lichtkreises und beobachtete die Männer. Ihre Spitzhacken, in den Augen der Kreatur gestielte Zähne ähnlich der Sense des Bauern, der sie verletzt hatte, lagen ein Stück entfernt auf dem Boden. Die Menschen schienen also schutzlos und ungefährlich. Sie konnte sich Zeit lassen und das Töten genießen. Mit gierig aufgerissenem Rachen, aus dem schleimiger Sabber tropfte, trat sie in den Lichtkreis und blickte in die schreckensgeweiteten Augen der Männer.

Als Idu mit dem leeren Karren um die Biegung kam, scheute sein Esel. Das Tier witterte den warmen, süßlichen Geruch zuerst. Als auch Idu ihn wahrnahm, erblickte er einen bläulich-grauen Darm, der sich wie eine sterbende Schlange in einer Blutlache ringelte und noch schwach bewegte, als die gärenden Gase aus ihm entwichen. Der Ekel würgte ihn, und er übergab sich vor seine Füße. Sein Verstand erfasste die Szene, die sich seinen Augen bot, nur langsam: Die Wände des Stollens mit Blut vollgespritzt; überall Leichenteile. Der Leichnam von Besia vom Hals bis zum Schambein aufgerissen und entleert. Nur ein halber Lungenflügel ragte aus dem Brustkorb; der Rest verschwunden. Der Torso eines anderen Mannes mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ohne Arme, Beine und Haupt. Der Kopf von Merkath, seinem Freund, ein Stück weit entfernt auf dem Boden, das zertrümmerte Schädeldach zuunterst, aus dem Halsstumpf ragte ein Stück der Wirbelsäule heraus. Den Gesichtsausdruck des Toten sollte Idu sein Lebtag nicht mehr vergessen.

Sie fanden die Leiche des Vorarbeiters einen Tag später in der alten Grube. Drei weitere Männer galten als vermisst. Der schwer bewaffnete Suchtrupp durchkämmte alle bekannten Stollen und Gänge, aber sie blieben spurlos verschwunden. Stattdessen fand man seltsame Fußspuren: Eindrücke an sandigen Stellen, ähnlich den Abdrücken eines Wolfs, nur viel größer, deren Tiefe auf ein Gewicht schließen ließ, das dem eines ausgewachsenen Ochsen gleichkam. Die Silbermine blieb drei Tage lang geschlossen, dann befahl ihr Leiter, dass die Männer wieder an die Arbeit gehen sollten. Jedem Schürftrupp stellte man zwei bewaffnete Wachleute zur Seite. Viel zu wenige, wie sich herausstellte, denn in den nächsten Tagen verschwanden zwei Trupps einschließlich der Soldaten, die sie schützen sollten. Die Minenleitung sandte einen berittenen Boten mit einem Hilferuf zur nächsten Stadt.

Die Dämonen

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