Читать книгу Die Dämonen - Roland Enders - Страница 6
Das Gasthaus
ОглавлениеDas Gebäude, das etwas abseits der Ortschaft an der Reisestraße zwischen dem Rabengebirgspass und der Stadt Rhynian stand, erschien – zumindest in dieser Region Orinokavos – außergewöhnlich, denn es war im südländischen Stil der Eroberer gebaut. Das hatte seinen Grund: Der Besitzer hatte südländische Vorfahren. Genau genommen war er sogar ein entfernter – sehr entfernter – Verwandter des Kaisers, ohne allerdings davon zu wissen. Und er hielt sich für einen Patrioten, stolz auf die großartige Kultur seiner Vorfahren.
Vor mehr als einhundertdreißig Jahren waren die Südländer unter der Führung des Feldherrn Orino Kavo mit einer großen Flotte gelandet und hatten die Mitte und den Norden des zerfallenen Alten Königreichs nach kurzem Krieg eingenommen. Lediglich an Koridrea bissen sie sich die Zähne aus. Aus den unwirtlichen Ländern Pheldae und Vulcor zogen sie sich aber bald wieder zurück, da ihr Heer zu klein war, um die weiten Landstriche auf Dauer zu besetzen und gegen die ständigen Überfälle der Aufständischen zu verteidigen. Orino Kavo, der seinem Bruder im Streit um die Thronfolge im südlichen Reich unterlegen war, schien vorläufig zufrieden mit seiner Eroberung und ließ sich zum Kaiser des neuen Staates, dem er seinen Namen gab, krönen. Er gierte nach Macht, war aber auch klug und wusste, dass er sich nur halten konnte, wenn er die einheimische Bevölkerung für sich einnahm. Die klügsten Köpfe unter ihnen holte er sich als Berater an den Hof. Jeder seiner neuen Untertanen erhielt einen erheblichen Geldbetrag oder ein Stück Land. Mit den Eroberern kamen neue Freiheit und Aufklärung, die das dunkle Zeitalter ablöste, ins Land. Der neue Herrscher revolutionierte die Gesetzgebung und schaffte die Privilegien der Adeligen (mit Ausnahme der Mitglieder der kaiserlichen Familie) ab. Alle Bürger besaßen nun die gleichen Rechte.
Allerdings gab es auch Repressionen. So führte Orino Kavo die südländische Sprache als neue Landessprache ein. In allen Ämtern sprach man sie, in den Schulen durften die Lehrer nicht mehr im Idiom der Einheimischen unterrichten, und die Besetzer ließen fast alle Bücher in ihre Sprache übersetzen. So kam es, dass der Wortschatz der Urbevölkerung in wenigen Generationen fast ausstarb.
Der Versuch, die Vielgötterreligion der Südländer einzuführen, scheiterte allerdings. Die Einheimischen verteidigten ihren Glauben an Wathan mit Inbrunst, und der Widerstand gegen die neuen Götter war so stark, dass der Sohn des ersten Kaisers, Orino Seka, ebenfalls weise wie sein Vater, gleich am Anfang seiner Herrschaft die Freiheit der Religion in Orinokavo verkündete. Seka erkannte schnell die Vorteile des Monotheismus und konvertierte schon bald zum Wathanismus.
Die Eroberer brachten neben fortschrittlichen Wissenschaften auch ihre großartige Kultur mit. Und so entstanden überall Häuser, Paläste und Wathan-Tempel im südländischen Stil, von dem der damalige Pridemus so angetan war, dass er seinen Amtssitz nach Lankoma verlegte, als der Kaiser ihm dort einen prachtvollen Großtempel errichten ließ.
Die Soldaten der Eroberer heirateten einheimische Frauen und Mädchen, diese bekamen Kinder, sodass sich die Bevölkerung nach wenigen Generationen durchmischt hatte. In den Adern der meisten Bürger Orinokavos floss nun ein wenig südländisches Blut. Alles in allem nahm das Land eine gute Entwicklung bis zu dem verhängnisvollen Augenblick, als sich der letzte Kaiser, Orino Toko, entschloss, sein Reich zu vergrößern und Koridrea anzugreifen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Kommen wir zurück zu dem auffälligen Gasthaus, das an der Reisestraße unweit eines Dorfes lag. Es fiel dem vom Pass kommenden Reisenden gleich deshalb ins Auge, weil es einem kleinen Palast im südländischen Stil glich. Es besaß weiß gekalkte Mauern aus dicken, quaderförmigen Steinen, durchbrochen von bogenförmigen Fenstern und Durchgängen. Um das Haus zog sich eine Arkade, deren Stützsäulen sich nach oben verbreiterten und in Spitzbögen zusammenliefen. Die drei in rechtem Winkel zueinander angeordneten Flügel des Gebäudes umgaben einen baumbestandenen, schattigen Innenhof. Im Sommer standen hier Tische und Stühle zur Bewirtung der Gäste. Der rechte Seitenflügel beherbergte Vorratsräume und Stallungen, der linke die Wohnräume der Familie des Hausherrn. Der Hauptflügel enthielt Küche und Gastraum. Im oberen Stockwerk lagen die Gästezimmer. Zahlreich Erker und Zinnen schmückten das Gasthaus, und ein kleines Türmchen ragte stolz über den Hauptflügel.
Haseth, der Wirt des Gasthofs Zum Sonnenuntergang, war ein großer, dünner Mann. Er besaß die dunkle Hautfarbe und schwarzen Mandelaugen des Südländers und einen langen, krausen Bart in der Farbe von Pfeffer und Salz. Haseth trug einen lehmfarbenen Kaftan, der ihm bis zu den Füßen reichte, und hatte einen gelben Turban um den Kopf gebunden.
Er stand in der leeren Gaststube, in deren Kamin ein wärmendes Feuer prasselte, und schaute durch das Fenster auf die kahlen Bäume, die im Innenhof standen. Die Bodenplatten des Hofs hatte er erst gestern gefegt, doch sie waren schon wieder von einer Handbreit Schnee bedeckt. Sein Blick fiel auf die Landschaft vor dem Gasthof, eine grauweiße Einöde, in der die Straße – die Lebensader seiner Familie und des ganzen Landstrichs – unter der weißen Decke begraben lag. Selbst Spuren von Rädern und Pferden waren längst zugeschneit, denn die letzte Kutsche war vor mehr als einer Woche durchgekommen.
Haseth hasste den Winter. Nur sehr wenige Gäste verirrten sich in dieser trostlosen Zeit hierher. Er hatte alle seine Bediensteten entlassen müssen, um wenigstens seine Familie und sich selbst mit dem Geld, das sie im Sommer verdient hatten, durchzubringen. So lief es jedes Jahr: Im Frühjahr, wenn die ersten Kaufleute und Handelsreisenden aus Koridrea kamen, stellte er Leute ein: Köchinnen und Küchenhilfen, Dienstmägde für die Gäste und Pferdeknechte. Im Sommer liefen die Geschäfte gut. Vor etwa zehn Jahren hatte der Handel mit dem Land der Sieger wieder begonnen. Die ersten Kaufleute der verfeindeten Länder wagten sich wieder über die Grenze. Bis heute waren sie neben den Priestern die einzigen, deren Anwesenheit in Orinokavo geduldet wurde. Ansonsten begegnete man den Koridreanern nach wie vor misstrauisch bis feindselig, weshalb sie meist in Konvois und Karawanen mit Begleitschutz reisten. Haseth hatte keine Probleme mit Reisenden aus Koridrea. Er behandelte sie höflich und gastfreundlich. Schließlich lebte er von ihnen. Außerdem war ihm – und vielen gebildeten Bürgern Orinokavos – bewusst, dass es ihr Kaiser gewesen war, der das Nachbarland überfallen hatte.
Mit Beginn der Herbststürme kamen dann immer weniger Gäste, und beim ersten Schnee entließ der Wirt die Belegschaft des Gasthofs, die sich über Winter neue Arbeit suchen musste, um sie dann im nächsten Frühjahr wieder einzustellen. Und so schloss sich der Kreis jedes Jahr.
Im Winter blieben dann seine Frau, seine Tochter und er allein in dem großen Haus zurück. Auch sein Sohn, der ebenfalls Frau und Kinder hatte, musste den Gasthof verlassen, um seine Familie durchzubringen. Er arbeitete in einem benachbarten Dorf bei einem Tischler.
Haseth kniff die Augen zusammen, um in dem flirrenden Weiß der fallenden Flocken die dunklen Punkte besser zu erkennen, die plötzlich in der Ferne auf der Straße erschienen waren und sich näherten. Ein freudiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und seine Trübsal war wie weggeblasen.
„Frau“, rief er und klatschte in die Hände. „Setz den Kessel auf. Wir bekommen Gäste!“
Wenig später fühlte er sich allerdings äußerst beunruhigt. Es waren sechs Reiter, die auf seinen Gasthof zuhielten, abgerissene und zerlumpte Gestalten, bewaffnet mit langen Schwertern und Streitäxten, ganz offensichtlich arbeitslose Söldner. Jeder wusste, dass diese Menschen brutal, gewissen- und gesetzlos waren. Es würde Ärger geben. Haseth war ein friedliebender Mann und kein Held. Er besaß zwar einen Säbel, hatte ihn aber noch nie benutzt. Dennoch holte er ihn aus einer Truhe hervor, wickelte ihn aus dem Öltuch und prüfte, ob er noch scharf war. Dann versteckte er ihn unter dem Tresen der Theke. Er überlegte, ob er im Dorf um Hilfe bitten sollte, doch jetzt schien es zu spät. Er konnte seine Familie nicht schutzlos zurücklassen, und seine Tochter würde er auch nicht mehr losschicken. Die Reiter waren schon zu nahe und würden sie bemerken, wenn sie das Haus verließe.
Das Mädchen mit Namen Sutana, eine dunkelhäutige, glutäugige und schwarzhaarige Schönheit, zählte sechzehn Jahre. Er rief sie zu sich.
„Wir bekommen ein paar unangenehme Besucher, Sutana. Ich glaube, es sind böse Menschen. Du bleibst auf deinem Zimmer, bis sie wieder weg sind. Hast du verstanden?“
Sutana war eingeschnappt. Wie alle Mädchen ihres Alters trieb sie die Neugier, besonders was Männer betraf. Sie hätte gerne einen Blick auf die Ankömmlinge geworfen. Ihr Vater war ja grundsätzlich nervös und misstrauisch, wenn sie sich einem männlichen Gast näherte. Sie nahm seine jetzige Besorgnis also nicht allzu ernst. Dennoch wagte sie nicht, ihm zu widersprechen. Sie zog sich schmollend zurück.
Inzwischen waren die Reiter am Gasthof eingetroffen. Wie es die Höflichkeit erforderte, trat Haseth hinaus, um sie Willkommen zu heißen. Sie würdigten ihn kaum eines Blickes, ließen ihn mit ihren Pferden stehen und betraten die Gaststube. Nachdem Haseth die Reittiere in den Stall gebracht und versorgt hatte, beeilte er sich ins Haus zu kommen. Erleichtert stellte er fest, dass die Männer an einem Tisch saßen und ihre Bierhumpen stemmten, mit denen sie seine Frau Hanah versorgt hatte. Sie bestellten Braten, Brot und Käse und noch mehr Bier. Während Hanah sich um das Essen kümmerte, zapfte Haseth das Bier und beobachtete die Söldner aus den Augenwinkeln. Sie schienen alle noch recht jung, aber ihre Gesichter waren von der Brutalität ihres Berufs gezeichnet. Die Männer trugen Ketten mit menschlichen Backenzähnen um den Hals, Trophäen, die davon kündeten, wie viele Menschen sie umgebracht hatten.
Früher genossen Söldner als Berufssoldaten eine gewisse Achtung, heutzutage arbeiteten die meisten von ihnen jedoch als gedungene Mörder. Der Arm des Gesetzes des durch die Niederlage im Krieg geschwächten Kaisers reichte nicht bis hierher, und so hatten sie das Recht des Stärkeren auf ihrer Seite und verkauften es zu hohem Preis an reiche Auftraggeber, die skrupellos ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen wollten. Doch in dieser abgelegenen Gegend des Kaiserreichs war Reichtum rar, und so gab es auch nur wenige Aufträge für die Söldner, die ihre Kasse deshalb mit Raub und Plünderung aufbesserten. Haseth hoffte, dass sie es diesmal bei Zechprellerei bewenden ließen.
Eine Weile später waren die Männer satt und halb betrunken. Sie räkelten sich auf den Bänken, hatten gerade einen Rülpswettbewerb beendet und grölten jetzt zotige Lieder. Der Wirt füllte sie weiter mit Bier ab, ohne dass sie es bestellt hätten. Er hoffte, dass sie bald müde wurden und einschliefen, dann konnte er Sutana losschicken, um ein paar kräftige Burschen aus dem Dorf zu holen. Noch wagte er es nicht, denn er musste feststellen, dass ihn der Anführer der Bande, ein hübscher Bursche, nicht aus den Augen ließ. Der Mann sprach ihn an, als er sechs frisch gefüllte Humpen zu ihrem Tisch brachte.
„Sag mal, Wirt, wo ist eigentlich dein Töchterchen? Wir haben gehört, sie sei eine südländische Prinzessin mit hübschen, kleinen Äpfelchen, so knackig und fest, dass man hineinbeißen möchte. Sollte sie uns nicht bedienen? Hol sie, aber ein bisschen plötzlich!“
„Sie … äh, sie ist nicht hier“, log Haseth erschrocken. „Sie muss der Schwester meiner Frau im Dorf helfen. Sie, also meine Schwägerin, ist schwanger und steht kurz vor der Geburt. Sutana und ein paar andere Frauen stehen ihr in dieser schweren Zeit bei und …“
Der Söldner machte verärgert eine unwirsche Handbewegung.
„Wenn ich Einzelheiten über deine Familie wissen will, sage ich dir Bescheid. Schade, dass das Mädchen nicht hier ist. Du hast Glück, dass deine Frau so hässlich ist. Und nun troll dich wieder hinter deinen Tresen.“
Haseths Frau war bei weitem nicht so hässlich, wie der Widerling behauptete. Im Gegenteil. Ihrem Mann, der sie sehr liebte, erschien Hanah als Schönheit. Zum Glück war sie viel älter als diese Unholde und traf deshalb nicht deren Geschmack. Der Wirt fühlte sich erleichtert. Sie hatten ihm die Geschichte mit Hanahs schwangerer Schwester abgekauft. Das meiste davon stimmte sogar, nur würde es noch ein paar Tage bis zur Niederkunft dauern. Er würde Sutana erst übermorgen zu ihr schicken.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Seitenflügel, und seine Tochter trat in die Gaststube ein.
Das Mädchen hatte die Männer durch ein Schlüsselloch beobachtet. Die meisten von ihnen sahen hässlich und brutal aus, aber ihr Anführer war ein prachtvoller Bursche, hellhäutig und mit aschblondem langem Haar. Seine blauen Augen strahlten wie Saphire. Ein so schöner Mann konnte nicht böse sein. Er würde sie vor den anderen beschützen. Sutana hatte gehört, dass er nach ihr gefragt hatte. Das meiste von dem, was er gesagt hatte, hatte sie nicht verstehen können, wohl aber, dass er sie als südländische Prinzessin bezeichnete. Das gab den Ausschlag, den Befehl ihres Vaters zu ignorieren. Sie spürte ihr Herz klopfen, hörte das Blut in ihren Adern rauschen und fühlte die Röte im Gesicht aufsteigen, als sie die Türklinke niederdrückte.
Auf der Straße näherte sich ein weiterer Reiter, ein Mann wie ein Berg, auf einem riesigen Pferd. Der Reiter, der einmal Orec geheißen hatte und ein zorniger, junger Heißsporn gewesen war, erinnerte sich nicht an seinen Namen. Er erinnerte sich an gar nichts mehr, außer an die Schmerzen und deren Verursacher. Doch Gadennyn, seinen Folterer, betrachtete er nicht als Widersacher. Mit ihm war er einen Bund eingegangen gegen seinen wahren Feind: einen jungen Mann in Schwarz, dessen Bild als Fratze vor seinem inneren Auge schwebte. All die Schmerzen und die Pein hatte er nur seinetwegen erleiden müssen. Der Hass auf diesen Menschen, dem er nie begegnet war, dominierte seine anderen Gefühle: die tiefe Traurigkeit und das grenzenlose Sehnen nach etwas, was er nie haben würde: Liebe, Geborgenheit und Freundschaft. Doch im Augenblick machte ihm ein profanes Bedürfnis zu schaffen: Hunger. Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Und er roch den Bratenduft, der aus dem Kamin des seltsamen Gebäudes, nicht weit vor ihm, herüberwehte. Er ließ den Klepper einfach im Schnee stehen und trat in den Vorraum des Gasthofs. Die gut geölte Tür der Wirtsstube öffnete sich geräuschlos.
Wäre er ein anderer gewesen, wäre noch ein Rest von Menschlichkeit und Mitgefühl in ihm übrig geblieben, so wäre er bei diesem Anblick zutiefst erschrocken. Zwei Männer rissen gerade dem Wirt einen Säbel aus der Hand und packten ihn. Einer von ihnen hielt dem dunkelhäutigen Mann mit den erschrocken aufgerissenen Augen ein Messer an die Kehle, sodass er nicht wagte, sich zu rühren. Auf dem Boden lag eine Frau im mittleren Alter, schrie und schlug mit den Fäusten auf einen Mann ein, der rittlings auf ihr saß und höhnisch lachte. Schließlich bekam er ihre Handgelenke zu fassen und drückte sie auf den Boden. Er rief:
„Ich nehme mir erstmal die Alte vor. Lasst mir aber noch was übrig von dem Mädchen!“
Die junge Frau, von der er sprach, lag halb entblößt auf einem Tisch, gepackt und festgehalten von zwei weiteren Männern, die versuchten, die Beine des strampelnden Mädchens mit Gewalt zu spreizen. Ihr Gesicht drückte entsetzliche Angst aus. Ein sechster Mann stand zu ihren Füßen am Tisch und nestelte an seinem Hosenschlitz.
„Schiebt sie ein bisschen näher zu mir“, befahl er den zwei anderen.
Jeder der Menschen in der Gaststube war so beschäftigt mit sich selbst, dass keiner den neuen Besucher bewusst zur Kenntnis nahm. Der ignorierte alles, was in diesem Raum geschah, trat auf den Tresen zu und sagte zu dem festgehaltenen und vor Todesangst schwitzenden Wirt: „Ich habe Hunger!“
Stille trat ein. Alle Augen wandten sich dem Ankömmling zu. Haseth blickte den merkwürdigen Riesen, der geistig behindert zu sein schien, fassungslos an, dann bat er: „Bitte helft mir. Ich …“
Bevor er weiterreden konnte, fiel ihm der Anführer der Söldner, der es noch nicht geschafft hatte, seinen Hosenschlitz zu öffnen, ins Wort:
„Siehst du nicht, dass du störst? Hau ab, bevor ich deine Zähne an meine Kette hänge.“
In diesem Augenblick fiel ihm aber ein, dass es nicht so gut wäre, den neuen Gast entkommen zu lassen, damit er womöglich Hilfe holte.
„Nein, warte. Bleib hier und genieße es. Weißt du überhaupt, was ich meine? Du siehst ein bisschen verblödet aus. Pass auf: Schau am besten einfach zu. Vielleicht lassen wir dich hinterher auch ran. Doch das Vergnügen, eine Jungfernschaft zu beenden, steht mir zu. Dann kommen meine Männer dran und das, was übrig bleibt, überlassen wir dir. Bin mal gespannt, ob das arme Mädchen das überlebt, hihi.“
Der Namenlose würdigte die Söldner keines Blickes. Er blickte immer noch den Wirt an und wiederholte:
„Ich habe Hunger.“ Seine Stimme klang drohend.
„Aber seht Ihr nicht, was hier los ist? Ich kann Euch nichts zu essen geben, solange diese Verbrecher …“
Einer der Männer, die Haseth festhielten, schrie:
„Halt die Klappe, sonst schneide ich dir die Kehle durch!“ und drückte sein Messer ein wenig fester an den Hals des Wirts, sodass es die Haut ritzte und ein Blutstropfen an der Schneide entlang perlte.
Der Hüne mit dem Gesicht eines zurückgebliebenen Kindes runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. Dann drehte er sich um und verließ die Schankstube.
„He!“, rief der Anführer. „Haltet ihn auf!“
Die Söldner, die Haseth bewachten, ließen ihre Opfer los, zückten ihre Streitäxte und wollten gerade zur Tür stürmen, als diese sich öffnete. Der Mann, der wie ein Troll aus alten Sagen wirkte, trat wieder ein, in der Hand ein riesiges Schwert. Der erste Söldner, der auf ihn einstürmte, der Mann, der auf Hanah gekniet hatte, verlor seinen Kopf, der bis vor die Füße der am Boden sitzenden und schreienden Wirtin kullerte. Der Riese packte mit einer Hand einen schweren Eichentisch und schleuderte ihn gegen zwei weitere Angreifer, die unter der Wucht des Aufpralls zu Boden gingen. Er sprang hinterher, traf mit seinem vollen Gewicht die Tischplatte und man hörte das hässliche Knacken brechender Brustkörbe. Mit unglaublicher Geschwindigkeit sprang er auf den Tisch, auf dem das weinende Mädchen lag und stellte sich schützend über sie. Die Unmenschen, die sie festhielten, ließen sofort los und zogen ebenfalls ihre Waffen. Gemeinsam hackten sie auf die säulenartigen Beine ihres Gegners ein. Doch der parierte ihre Streiche mühelos mit seinem gewaltigen Schwert. Danach schlug er einem den Arm ab. Der Mann blieb entgeistert stehen und starrte auf seinen am Boden liegenden Schwertarm, dessen Hand noch fest den Griff umklammerte, dann auf den Stumpf, aus dem das Blut schoss. Der andere Söldner wollte davonrennen. Die scharfe Klinge des Kolosses durchbohrte ihn von hinten und trat durch die Bauchdecke aus, und als es der Hüne wieder herauszog, fielen die Eingeweide durch die klaffende Wunde auf den Boden. Der Mann sank auf die Knie und versuchte, sie mit den Händen wieder hineinzustopfen.
Jetzt war nur noch der Anführer übrig. Die aufgerissenen Augen in seinem leichenblassen Gesicht drückten blankes Entsetzen aus. Aus seinem Hosenschlitz hing der Zipfel seines Hemdes. Er hatte sein Schwert gezogen, ließ es aber jetzt aus der Hand fallen.
„Bitte verschone mich“, stammelte er, zitternd vor Angst. Der riesenhafte Berserker legte sein Schwert zu Füßen des Mädchens auf den Tisch, stieg mit einem Schritt herunter, nahm den Kopf des Söldners in die Hände, als wolle er ihn trösten, und drehte dann mit einem Knacken dessen Hals um. Dann ging er hinüber zu dem immer noch dastehenden Amputierten und tat mit ihm dasselbe. Schließlich erlöste er auch den Mann, der seine Eingeweide in den Händen hielt, auf die gleiche, gnadenvolle Weise. Von den beiden, mit gebrochenen Knochen unter dem Tisch liegenden Söldner war nur noch einer am Leben. Dem anderen hatte eine zersplitterte Rippe das Herz durchbohrt. Der lebende Mann schaute mit schmerz- und angstverzerrtem Gesicht zu dem furchtbaren Gegner auf. Er fand einen schnellen und schmerzlosen Tod.
Dann setzte er sich der neue Gast an einen Tisch und sagte.
„Bekomme ich jetzt endlich etwas zu essen?“