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ОглавлениеAtemlos
Eigentlich wollte ich 90 Jahre alt werden, ohne Hilfe. Jetzt müssen wir zwei das eben gemeinsam schaffen. Wir, das sind natürlich meine Ehefrau Silvia und ich – aber das sind auch meine seit annähernd neun Jahren im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende ständige Begleiterin und ich. Wir haben uns arrangiert und sehen der gemeinsamen Zukunft nicht zuletzt dank der Liebe, Toleranz und Stärke meiner Ehefrau nach bewegten und nicht gerade leichten Zeiten mittlerweile freudig und zuversichtlich entgegen.
Es war wieder einmal einer der Abende, die kein Ende nehmen. Ein Abend, an dem man in netter Runde sitzt, zu viel trinkt und zu viel raucht. Silvia und ich hatten uns mit Freunden eigentlich nur zum Abendessen verabredet. So nennt man diese zwanglosen Treffen gerne, bei denen man von vornherein weiß, dass sie mit Sicherheit nicht mit dem Dessert enden werden. Irgendwann war es dann so spät, dass wir die letzten Gäste waren. Daher entschlossen wir uns, den Abend beziehungsweise das, was noch davon übrig war, in gemütlicher Runde bei unseren Freunden ausklingen zu lassen und nicht mehr nach Hause zu fahren. Die Zeit verging wie im Fluge. Gegen 4.00 Uhr morgens, nach endlosen Gesprächen, zahlreichen Gläsern Wein und vor allem viel zu vielen Zigaretten, gingen wir dann endlich ins Bett.
Ich schlief ruhig und entspannt, bis ich gegen 10.00 Uhr morgens mit dem vagen Gefühl erwachte, dass etwas Bedrohliches mit mir geschehen sei. Die Luft, die ich einzuatmen gedachte, kam einfach nicht mehr da an, wo ich sie hinatmen wollte. Sie blieb mir vorne in der Brust stecken. Auf halber Strecke war einfach Schluss. Ich versuchte noch einmal, mit aller Konzentration tief durchzuatmen – und musste husten. Die unteren Lungenflügel blieben leer. Ich konnte mir das nicht erklären. Diese Situation war für mich unfassbar, machte mir Angst. Panik machte sich in mir breit. Ich rief nach Silvia, die bereits im Badezimmer war. Sie sah mir sofort an, dass etwas nicht stimmte, und fragte: „Was ist los, was ist los?“ Ich sagte: „Ich kriege keine Luft mehr, ich kriege keine Luft mehr. Ich habe das Gefühl, als ob mir ein Stein auf der Brust liegt und mich daran hindert zu atmen.“ Sie konnte sich das zwar auch nicht erklären, beruhigte mich aber erst einmal durch ihre bloße Anwesenheit und ihre Anteilnahme. Wir hätten nicht so viel rauchen sollen, war die banale und plausible Erklärung, die wir für meine überraschend heftige Atemlosigkeit fanden. Man werde eben auch nicht jünger und sollte es künftig maßvoller angehen lassen.
Dieser Gedanke entspannte mich vorübergehend. Ich fügte mich in das durch den vermeintlichen „Zigaretten-Kater“ verursachte körperliche Unwohlsein. Ich ging davon aus, dass es mir im Laufe des Tages schon wieder besser gehen würde. Doch die beklemmende Atemnot blieb. Wir frühstückten mit unseren Freunden, ich ging hinaus an die frische Luft – aber die Atembeschwerden wollten sich einfach keinen Deut bessern. Meine Lungen versagten mir unerbittlich den einen tiefen, den befreienden Atemzug. Ich war unglaublich matt. Jede Bewegung strengte mich unverhältnismäßig an. Dabei war mein Kopf völlig klar.
Erst viel später sollte ich verstehen, warum ich tatsächlich an diesem Morgen so atemlos und müde war. Die Zigaretten waren sicher ein Auslöser für die heftige Kurzatmigkeit, aber die Wurzel des Übels saß viel tiefer. Aber dazu später mehr. Ich möchte nicht vorgreifen.
Silvia und ich fuhren um die Mittagszeit nach Hause und holten auf der Heimfahrt die Kinder bei unserer Kinderfrau ab. Mit ihr sind unsere Kleinen von Geburt an vertraut. Anschließend machten wir es uns zu Hause gemütlich. Ich versuchte zu schlafen. Ruhelos suchte ich eine bequeme Lage, in der ich freier atmen könnte. Ich legte und setzte mich im Wechsel aufs Sofa und ins Bett. Ich rang im Garten nach Luft. In mir machte sich mit jedem weiteren Atemzug die lähmende Gewissheit breit, dass etwas von meinem Körper Besitz ergriffen hatte, das mein Leben von nun an massiv beeinträchtigen, mir den Atem abschnüren und auch nicht mehr so einfach weggehen würde – wenn ich es überhaupt noch einmal loswerden könnte. Doch diesen Gedanken verbot ich mir sofort wieder. Wer wird denn gleich hysterisch werden?
Ich versuchte, mich nicht mehr auf meine Atmung zu konzentrieren und mich abzulenken, um den immer wieder aufsteigenden Panikwellen den Nährboden zu entziehen. Dann würde es schon besser werden, redete ich mir ein. Ohne Erfolg.
Noch am selben Nachmittag rief ich meinen Hausarzt an, um einen kurzfristigen Untersuchungstermin zu vereinbaren. Aber ich hatte Pech. Es war ein Mittwoch, und da ging nachmittags gar nichts mehr. Nun wollte ich aber auch nicht als Notfall zu einer Vertretung gehen. So beruhigten Silvia und ich uns mit der Absichtserklärung: „In Ordnung, dann warten wir eben die eine Nacht noch ab. Das geht schon irgendwie. Aber morgen fahren wir so früh wie möglich zum Arzt.“
Außerdem hatte uns der Blick in den Terminkalender gezeigt, dass wir eine wichtige private Verabredung am Abend übersehen hatten. Also quälte ich mich weiter durch den Tag, diszipliniert bemüht, mir ja nichts anmerken zu lassen. Ich dachte immer noch, mir hingen die Nachwirkungen der Party nach. Und damit wollte ich nun wirklich nicht hausieren gehen. Ich saß also wie vereinbart bei dieser privaten Verabredung, konnte aber an nichts anderes denken als daran, dass ich keine Luft in meine Lungen bekomme. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Das Atmen forderte meine ganze Aufmerksamkeit.
Geraucht habe ich an diesem Tag übrigens keine einzige Zigarette. Die Lust daran war mir gründlich vergangen. Gab ich doch den Zigaretten die alleinige Schuld an meiner Atemnot. Insgeheim hoffte ich ja auch immer noch, die Rauchabstinenz würde meine Lungen besänftigen und mir über kurz oder lang die bisher gewohnte Atemfreiheit wiedergeben.
Wir gingen früh zu Bett. Eine neue Nacht, eine neue Runde. Rückblickend ein Wahnsinn. Denn diese zweite Nacht hätte fatale Folgen haben können. Doch da wir uns der gesundheitlichen Gefahr nicht bewusst waren, schliefen Silvia und ich mehr schlecht als recht dem nächsten Morgen entgegen. Auch diesmal fand ich im Schlaf nicht die ersehnte Erleichterung und Erholung. Dabei war die Nacht bisher immer meine liebste Tageszeit gewesen. Ich bin eher ein Nachtmensch. Jetzt sehnte ich den Morgen herbei.
Am Donnerstag wurde ich früh wach – körperlich, natürlich, wieder schlapp und wie gerädert. Am späten Nachmittag hatten wir endlich einen Arzttermin, bei einem vor Ort in Münster ansässigen Lungenspezialisten, der uns von meinem Hausarzt empfohlen worden war. Meine gleichbleibend alarmierende Atemnot hatte Silvia so stark beunruhigt, dass sie auf einen Facharzt gedrängt hatte. Meine Frau, unser Sohn Jan und ich fuhren also zum Arzt. Die Wartezeit verbrachten wir überwiegend schweigend. Silvia spielte mit Jan. Als ich endlich aufgerufen wurde, musste ich im Rahmen der üblichen Routineuntersuchungen zunächst einen Lungenfunktionstest machen. Ich musste Luft stoßartig in einen Schlauch ausatmen: So wurde der Atemfluss gemessen. Das Ergebnis war niederschmetternd. Kein Luftballon hätte sich davon beeindrucken lassen. Der Gesichtsausdruck der jungen Arzthelferin machte mir wenig Hoffnung auf eine erfreuliche Diagnose. Ihr Gesicht schien zu fragen: „Was macht denn der hier? War das wirklich alles, was der mir anzubieten hat?“ – Nach dem Motto: Viel war das ja wirklich nicht. Ich fühlte mich kraftlos und schaute weg, um mich nur nicht ihrem Blick zu stellen und vielleicht sogar reden zu müssen. Anschließend wurde mir Blut aus dem Ohrläppchen entnommen, um den Sauerstoffgehalt im Blut zu messen. Nach dieser zweiten Untersuchung bat man mich, wieder im Wartezimmer Platz zu nehmen. Mit meiner Frau und unserem Sohn saß ich dort relativ entspannt. Wir unterhielten uns, warteten auf die Diagnose und das Rezept, das mir nach zwei Tagen mit Atemnot und Ungewissheit endlich Linderung und Heilung bringen sollte.
Nachdem die Sprechstundenhilfe dem Lungenfacharzt die Werte vorgelegt hatte, kam sie und bat mich, mit meiner Frau, aber ohne Jan ins Sprechzimmer zu kommen und Platz zu nehmen. Wir hatten uns gerade hingesetzt, als der Arzt mich – halt, nein: eher wandte er sich direkt an meine Frau – ohne Umschweife fragte: „Sagen sie mal, wer von Ihnen beiden ist eigentlich hierher gefahren?“ Da meinte meine Frau: „Mein Mann ist gefahren.“ – „Ah ja, ihr Mann ist also gefahren … hm, hm. Passen Sie auf, Frau Kaiser. Sie werden jetzt Ihren Mann mitnehmen, weil er ganz bestimmt nicht mehr fahren wird, und werden mit ihm direkt und unmittelbar ins Krankenhaus fahren.“ Praktisch denkend, wie Silvia nun mal ist, entgegnete sie ihm spontan: „Ja, gut. Ich würde aber gerne vorher noch zu Hause vorbeifahren und einen Schlafanzug für meinen Mann einpacken, falls er dortbleiben muss …“ Erst bei den nächsten Sätzen wurde uns beiden bewusst, worauf der Arzt hinauswollte. Er versuchte, uns möglichst schonend beizubringen, was wir auf keinen Fall hatten hören wollen. Jetzt wurde er deutlich und erklärte uns unmissverständlich: „Nein, nein. Das werden Sie auf keinen Fall tun. Wir haben hier die Lungenwerte Ihres Mannes und den Sauerstoffgehalt seines Blutes gemessen, und ich muss Ihnen sagen, dass seine Werte alles andere als gut sind. Hätten wir beide dieselben Werte, wären wir bereits tot. Die Werte sind dramatisch. Sie müssen sich das ungefähr so vorstellen: Ein gesunder Mensch hat in etwa zwischen 75 und 80 Prozent Sauerstoffgehalt im Blut. Bei Ihrem Mann aber liegt er zurzeit bei rund 17 bis 18 Prozent. Das ist mehr als lebensbedrohlich. Also, Sie nehmen jetzt Ihren Mann und fahren auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus. Sofort. Sobald er dort aufgenommen ist, können Sie gerne nach Hause fahren und ihm den Schlafanzug bringen. Und wenn Sie das nicht unverzüglich tun, werde ich persönlich einen Krankenwagen holen lassen.“ – „Nein, nein“, erwiderte meine Frau erstaunlich gefasst.
Wir hatten den Arzt zwar den Worten nach verstanden, doch die durchaus schockierende Bedeutung seiner Diagnose sickerte erst langsam in unser Bewusstsein. Wir zeigten zu unserer eigenen Überraschung keine größere Gefühlsregung, und so ermahnte der Lungenfacharzt Silvia noch einmal nachdrücklich beim Abschied: „Bitte denken Sie daran: Sie fahren, sofort, und nicht Ihr Mann!“
Als wir das Behandlungszimmer verließen, schauten Silvia und ich uns ziemlich ernst an und wussten: Das ist kein Spaß mehr. Wir konnten uns nichts mehr vormachen. Die Diagnose war gnadenlos ehrlich. Ich könnte tot sein?! Das saß.
Unser Sohn spürte gleich, dass etwas mit Mama und Papa nicht stimmte. Wir erklärten ihm, der Doktor habe gesagt, dass wir direkt ins Krankenhaus fahren müssten. Jan weinte im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten ziemlich heftig, obwohl wir ihm natürlich nicht die ganze Wahrheit gesagt hatten. Aber es gelang uns, unser Kind zu beruhigen. Wir behaupteten, es sei nur noch eine Untersuchung zu machen, die nicht lange dauern werde. Auf jeden Fall fuhren wir auf die unmissverständliche Warnung des Arztes hin auf direktem Weg und ohne vorher wegen des Pyjamas nach Hause zu fahren, geschweige denn irgendwelche anderen Sachen zu holen, ins Krankenhaus. Wir gingen auf die Station, die uns der Arzt genannt hatte. Wir wurden dort bereits erwartet. Ein weiterer Arzt nahm uns freundlich in Empfang. Erneut wurden dieselben Untersuchungen gemacht: Lungenfunktionstest und Blutabnahme. In uns keimte die leise Hoffnung auf, dass vielleicht ein Irrtum vorläge und die vorherigen Messungen fehlerhaft seien. Doch das Ergebnis war ein weiteres Mal ernüchternd: „Wie mein Kollege Ihnen vorhin schon gesagt hat, sind Sie in einem Zustand, in dem Ihre Frau und ich“, so sagte der Arzt, „schon nicht mehr am Leben wären. Also bitte, Herr Kaiser, jetzt geht’s los! Sie müssen sofort nach oben auf die Station.“
Silvia bewahrte die Fassung. Das half mir selbst sehr, mit der Situation klarzukommen. Nachdem ich zur Einweisung auf die Station aus dem Zimmer geführt worden war, fuhr Silvia nach Hause und ließ Jan bei unserer Nachbarin, einer lieben Freundin der Familie. Besonnen und umsichtig packte sie meine Reisetasche mit dem Nötigsten – natürlich vergaß sie auch meinen Pyjama nicht. Währenddessen wurde ich direkt auf die Intensivstation verfrachtet. Wie ich dort hinkam, wer mich begleitete, daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Denn ich war schon sehr, sehr müde und das Ganze erschien mir eher wie ein Albtraum als real. Ich fügte mich einfach.
Als Silvia nach knapp einer Stunde wieder ins Krankenhaus zurückkam, fragte sie an der Pforte nach meinem Zimmer. Wie sie mir später erzählte, sagte man ihr daraufhin, sie müsse in die zweite Etage fahren und von dort ins Nebengebäude hinübergehen. Die Intensivstation! Das war für Silvia natürlich ein Schock.
Wer schon einmal eine Intensivstation besucht hat, weiß, wie beklemmend die Atmosphäre dort ist. Allein die endlos lang erscheinende Fahrt im Aufzug fällt schwer, die Ungewissheit tut ihr Übriges. In die Intensivstation kann man auch nicht einfach hineinspazieren und dem Patienten Blumen und Pralinen ans Bett bringen. Die Stationstür war verschlossen. Silvia musste klingeln und sich über eine Sprechanlage anmelden. Eine Schwester kam daraufhin zur Tür und forderte sie auf, einen sterilen Kittel überzuziehen. Erst danach führte man meine Frau zu mir. Der Anblick, den ich mittlerweile bot, war für sie alles andere als einfach zu verkraften: Da lag ihr Mann an Dutzende Schläuche und an eher bedrohlich als beruhigend wirkende Atmungsgeräte angeschlossen. Ich wurde zusätzlich mit Sauerstoff versorgt. Die Apparate kontrollierten ständig, ob und in welchem Maß sich die Sauerstoffwerte in meinem Blut veränderten.
Als Silvia und ich uns wieder einigermaßen gefasst hatten, bemühten wir uns – soweit es in dieser Ausnahmesituation überhaupt möglich war –, uns ruhig und gefasst zu unterhalten. Ich sollte und durfte mich nicht aufregen. Es ist unglaublich schwer, von 100 auf 0 heruntergebremst zu werden und dabei nicht den gesunden Menschenverstand zu verlieren. Mitten aus dem Leben heraus, von jetzt auf gleich mit dem Tod konfrontiert zu werden ist Wahnsinn! Es war wie in einem verdammt schlechten Film. Zumal mir das Atmen nach wie vor unverändert schwerfiel, obwohl man mir Inhalationssprays gab und irgendwelche anderen medizinischen Hilfen, die mir das Luftholen erleichtern sollten. All diese Sofortmaßnahmen führten jedoch nicht zu einer spürbaren Besserung. Ziel der Behandlung war es vielmehr, den Sauerstoffgehalt im Blut nach und nach bis zu einem normalen Sättigungsgrad zu erhöhen. Das gelang nur über Stunden und über die direkte Zufuhr von Sauerstoff.
An meine erste Nacht auf der Intensivstation kann ich mich selbst nur schemenhaft erinnern. Ich greife auf Silvias Erzählungen zurück: Die kommenden Stunden waren, gelinde gesagt, nicht ohne. Da sich mein Kreislauf und der Sauerstoffgehalt erst langsam stabilisieren mussten, war mein Zustand über die Nacht nicht unkritisch. Erst im Laufe des nächsten Vormittags verbesserten sich die Werte langsam, aber sicher und stabilisierten sich. Ich war außer Gefahr! Und atmete zum ersten Mal nach Tagen wieder befreit durch. Es war mittlerweile Freitag, der 14. Juli 2000.