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I

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Zweige eines nahen Baumes schlugen ratternd an das große Glasfenster des Krankenhauses. Der Wind peitschte heftige Regenschauer gegen die Fassade.

Unter dem kleinen Dach vor dem Haupteingang stellte ein Mann den Kragen seines Mantels hoch und drehte den Sturmböen den Rücken zu.

Schwere Tropfen prasselten auf die Straße.

Gottfried saß mit versteinerter Miene in einem großen, dunklen Lehnstuhl im Wartebereich der Intensivstation. Die Uhr zeigte halb neun, doch draußen herrschte bleigraues Dämmerlicht. Er war kurz eingeschlafen und gerade erst wieder mit tauben Händen und einem von der Lehne schmerzenden Schulterblatt erwacht. Schon die zweite Nacht hatte er jetzt in seinem unbequemen Sessel verbracht. Er schüttelte die kribbelnde Hand, ballte sie zu einer Faust und streckte sie wieder. Bewegte die blutleeren Finger.

Gottfried fühlte sich müde und fertig, ohnmächtig, irgendwie sogar mitschuldig. Der Adolf. Was war ihm da nur eingefallen? Geht mit der Waffe auf den Bürgermeister los. Er kannte ihn doch gar nicht. Adolf war kein schlechter Mensch ... – Woher kam dieser blinde Hass?

Das dumme Versprechen vom Bürgermeister Edtauer vor der Wohnungsübernahme, dass auf die angrenzenden Felder nur mehr kleine Einfamilienhäuser gebaut würden ... ein sogenannter „Bauabschluss“ ...

Und dann war eben alles wieder einmal anders. Eine alltägliche Geschichte: Ein Bürgermeister, der nicht Wort hielt. Ein ganz normales Politikum. Ein Wahlversprechen von vielen. Eines mehr, das gebrochen wurde. Sicher, schäbig hatte er sich schon benommen, der Bürgermeister. Ein echter Politiker eben, aber das ...

„Sehen Sie wie gut, dass der Friedhof erweitert wird, sonst wäre kein einziges Grab frei für den Herrn Reisinger“, hatte der Depp von Messdiener gesagt, als er ihm im Gemeindeamt zufällig über den Weg gelaufen war. Hoffentlich brauchte die Friedhofsverwaltung jetzt nicht auch noch eines für den Bürgermeister ...

Elendige Wohnungsgeschichte. Gottfried stemmte die Beine gegen einen der hässlichen weißen Plastiktische. Und der Adolf war ja nicht einmal betroffen davon. Woher also kam sein Hass?

Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Der Zustand des Bürgermeisters war unverändert kritisch. Die Ärzte gaben sich zuversichtlich, weil die Kugel ohne Komplikationen hatte entfernt werden können. Aber nach wie vor wurde er in künstlichem Tiefschlaf gehalten. Seit drei Tagen.

Wenn er es sich recht überlegte, wusste Gottfried gar nicht genau, worauf er hier wartete. Er wollte einfach nur nicht heimgehen. Es stimmte natürlich, was die Tochter des Bürgermeisters gesagt hatte: „Und wenn Sie hier bis zum Jüngsten Tag sitzen, davon wird mein Vater weder schneller gesund, noch Ihr Cousin wieder lebendig ...“

Ja. Der Gustl würde nicht mehr lebendig davon, der Gustl.

Noch während dieser verfluchten „Anhörung“ mit dem Bürgermeister vor einer Woche hatte Gustls Gesicht eine ungesunde Röte überzogen. Nur wenige Stunden später war er friedlich eingeschlafen. Herzinfarkt. Mit zweiundvierzig Jahren.

Erst am nächsten Tag wurde er gefunden. Da war natürlich alles längst zu spät. Da konnte der Arzt nur mehr den Tod feststellen.

Gleich mit dem nächsten Zug ist Gottfried zum Onkel Michael gefahren, um ihm persönlich zu sagen, dass sein Sohn nicht mehr lebt. Der Gustl war Michaels einziges Kind, und immerhin war der Onkel ja nicht mehr der Jüngste.

„Gottfried!“, hatte er noch erfreut gesagt, doch im nächsten Moment gemerkt, dass was nicht stimmte. „Ist ... ist was mit dem Gustl?“

Gottfrieds Hand ruhte schwer auf Michls Schulter. „Ja ... Michl“, nickte er, „Der Gustl ... er ist ... tot.“

Onkel Michael zitterte. Kniff die Augen zusammen. Suchte Halt am Türrahmen und schwieg eine endlose Minute lang. Dann holte er tief Atem. „Komm rein.“ Er setzte sich verloren an den Tisch in der Küche, ließ Gottfried berichten.

Tränen liefen über sein faltiges Gesicht. Mit unsicherer Stimme fragte er, wann die Beerdigung wäre und ob er denn die paar Tage bei ihm in der Wohnung bleiben könnte.

Später erzählte er stockend und mit gebrochener Stimme, dass der August von Geburt an einen Herzfehler gehabt hatte. Die Ärzte hätten schon viel früher mit seinem Tod gerechnet. Er selber habe halt immer gehofft, er würde vor dem Gustl „dran“ sein, so wie es der Natur entspreche. Aber man muss das Leben akzeptieren wie es ist ...

„Wie der Gustl ein Kind war, und einfach nicht zu bändigen, haben wir, die Martha und ich, uns immer solche Sorgen wegen seinem Herz gemacht ... Der Martha ist das jetzt wenigstens erspart geblieben. Weißt

du, Gottfried“, sagte der Onkel weiter, „es gibt vielleicht nichts Schlimmeres als sein eigenes Kind zu beerdigen. Besonders, wenn es das einzige Kind ist ...“


*


Onkel Michl hatte sich kaum verändert. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte Gottfried ihn zuletzt gesehen. Auch damals war der Anlass ein Todesfall. Aber der Großvater war wenigstens schon dreiundachtzig.

Onkel Michael war immer freundlich, erkundigte sich, wie der Gottfried über dies oder jenes denke. Er hatte nie gefragt: „Was machst du jetzt eigentlich?“ – Wer was „machte“, wer was arbeitete, das wusste die ganze Familie immer ziemlich genau.

Die Frage wurde ihm vor zwanzig Jahren deswegen so oft gestellt, weil Gottfried damals nach einigen Alkoholexzessen die Arbeit bei der Rotax in Gunskirchen verloren hatte. Weil er dann von der Sozialhilfe lebte und in der Notschlafstelle wohnte.

Onkel Michael war der einzige in der Familie, der sich nicht sonderlich daran stieß. Zumindest ließ er sich nie etwas anmerken. Wenn sich irgendwer in seiner Gegenwart über Gottfried „das Maul zerriss“, sagte der

Michl nur, dass jeder für sein Leben selbst verantwortlich sei. Andere sollten nicht kritisieren, sondern es selbst besser machen … Der Gottfried ist ein gescheiter Bursch, nur weil er jetzt gerade einmal Probleme hat ... der schafft das schon.“ Vielleicht war es gerade dieses Vertrauen des Onkels, das ihm half, wieder auf die Beine zu kommen und mit der Sauferei aufzuhören. Und natürlich hat ihm der Gustl viel geholfen ...

Gustl war nicht nur irgendein Cousin, er war Gottfried lange der einzige Freund. Er holte ihn aus der Versenkung. Gustl arbeitete damals noch als Betreuer in der Notschlafstelle. Als er Gottfried dort das erste Mal sah, war er einigermaßen überrascht. „Was machst denn du da?“, staunte er ihn ungläubig an. Er war wahrscheinlich der einzige der Verwandten, der noch nichts von der „Karriere des schwarzen Schafs“ gehört hatte. Mit Gustl hatte er sich früher, bei den obligaten Familienfeiern schon immer gut verstanden. Er war ja auch kein Kostverächter in Sachen Wein.

Im November dann ist der Großvater gestorben. Noch im selben Jahr, schaffte Gottfried den Entzug. Seit diesem 17. Dezember rührte er nie wieder Alkohol an.

Etwa ein halbes Jahr später vermittelte ihm Gustl den Job bei der Voest.

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