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Zur Forschungspraxis der Globalgeschichte

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Dieses Abstraktum hat meiner Meinung nach zumindest zwei Vorteile. Erstens macht es einen über Epochen und Perspektiven übergreifenden Dialog erheblich einfacher. Es handelt sich nicht nur um die Betonung der Prozesshaftigkeit. Behält man die abstrakten Anfangs- und Endpunkte als Orientierungshilfen im Kopf, so wird deutlich, dass dieser Prozess ganz unterschiedlich stark oder schwach ausgeprägt sein kann, aber einen gemeinsamen qualitativen Kern hat. Das Abstraktum verweist darauf, dass Globalisierung als Prozess nicht zu verwechseln ist mit zum Beispiel einem Zeitalter der Globalisierung. Letzteres verweist auf eine Zeit oder Epoche, für welche Globalisierungsprozesse eine gesamtgesellschaftlich prägende Rolle einnehmen. Für welche Gesellschaften das zu welcher Zeit der Fall gewesen ist, darüber können Historikerinnen und Historiker vortrefflich streiten. Darüber verliert man aber häufig aus dem Blick, dass auch außerhalb solcher gesamtgesellschaftlich prägenden Zusammenhänge Globalisierungsprozesse für das Denken und Handeln von vielen Menschen hochrelevant gewesen sind.

Darüber hinaus trägt ein dergestalt heruntergebrochenes Begriffsverständnis auch zur Klärung des Verhältnisses zwischen Globalgeschichte und Globalisierung bei und verweist damit letztlich zurück auf das Erkenntnisinteresse globalhistorischer Forschung. Versteht man Globalisierung als Prozess und stellt sie sodann in den Fokus globalhistorischer Forschung, so bedeutet dies, dass man vor allem an dieser Prozessualität interessiert ist, an Dynamiken, also an Wandel und Veränderung über die Zeit. Das ist die Globalgeschichte unzweifelhaft – aber nicht mehr als jede andere Form der historischen Forschung auch. Ein solcher Wandel im Sinne der Zunahme (oder im Umkehrschluss der Abnahme) transregionaler Verbindungen ist ein globalhistorisch hochinteressantes Phänomen. Aber wieder handelt es sich im Kern um eine Funktion des eigentlichen Erkenntnisinteresses der Globalgeschichte, nämlich um die Frage der Entstehung und Geschichtsmächtigkeit globaler Verbindungen. Verbindungen können für die Menschen auch prägend und handlungsleitend sein, wenn sie sich nicht verdichten oder in einer anderen Weise verändern. In der Praxis, das ist richtig, werden die allermeisten Fallstudien im Kontext von Globalisierungsprozessen angesiedelt sein. In solchen Zusammenhängen entfalten globale Verbindungen die größte Wirkung, beeinflussen Menschen und ihr Denken und Handeln am stärksten (wie immer, wenn Menschen mit etwas Neuem konfrontiert sind). Das heißt aber nicht, dass globale Verbindungen nur in solchen Kontexten geschichtsmächtig sind.

Blickt man hauptsächlich auf Globalisierungsprozesse und damit auf die Dynamiken globaler Verbindungen, so verliert man allzu leicht die konzeptuellen Bausteine dieser Prozesse aus den Augen. Die Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen Globalgeschichte und Globalisierung führt daher letztlich zurück zum Erkenntnisinteresse des Feldes und zu den konzeptuellen Linsen, durch die wir auf der Suche danach blicken können. Dieses Buch schlägt in dieser Hinsicht sechs mögliche forschungsleitende Begriffe vor. Es handelt sich dabei um eine mehr oder weniger eklektische Auswahl, der nicht der Anspruch zugrunde liegt, auf ihrer Basis Globalgeschichte erschöpfend und vollumfänglich betreiben zu können. Zwar bilden diese sechs Begriffe in ihrer Summe eine gewisse konzeptuelle Breite ab, letztlich widerspiegeln sie aber auch das Forschungsinteresse dessen, der sie ausgewählt hat. Wenn dieses Buch daher im Folgenden über Verbindungen, Raum, Zeit, Akteure, Strukturen und Transit spricht, so ist dies nicht als Versuch der Kanonbildung zu verstehen, sondern als beispielhafte Annäherung an ein Interessenfeld. Diesem Buch geht es immer mehr um das wie als um das was.

Ebenso wenig sollte man die folgenden Kapitel als Einführung völlig neuer Begrifflichkeiten und revolutionärer Interpretationen verstehen. Im Gegenteil, vielleicht mit Ausnahme der Idee des Transits handelt es sich um in den Geistes- und Sozialwissenschaften hinlänglich bekannte und bestens eingeführte Begriffe. Was dieses Buch versucht zu leisten, ist eine Zuspitzung dieser Begriffe und ihre Fruchtbarmachung für globalhistorische Untersuchungen. Auch wenn in manchen Fällen, am deutlichsten vielleicht bei der Verbindung und beim Transit, einige Vorschläge gemacht werden, wie man diese Begriffe umdeuten könnte, so handelt es sich in keinem Fall um eine tiefgreifende Neuinterpretation etablierter Konzepte. Im Mittelpunkt stehen eher Fragen der Konzeptualisierung und Systematisierung bei gleichzeitiger Sorge um die analytische Anwendbarkeit, die für jeden Begriff auch anhand eines eigenen Fallbeispiels ausführlich demonstriert wird. Während die ausgewählten Konzepte aus unterschiedlichen Kontexten kommen und hinsichtlich ihres Abstraktionsniveaus nicht unbedingt auf einer Stufe stehen, so haben sie – zumindest wie sie in diesem Buch verwendet werden – gemeinsam, dass sie genau auf dem Grat zwischen Theorie und Empirie balancieren. Das heißt, meine Vorschläge zur Interpretation dieser Begriffe zielen darauf, soweit abstrakt und generalisierbar zu sein, dass über die einzelne Fallstudie hinaus Aussagen möglich werden und ein anschlussfähiger Beitrag zu den Fragen der Globalgeschichte bzw. der Geschichtswissenschaft allgemein erkennbar ist. Gleichzeitig aber sollen die Begriffe ihre Operationalisierbarkeit behalten und auf die jeweiligen Beispiele erkenntnisleitend anwendbar sein. Ein solches Begriffsverständnis gibt uns analytische Begriffe im eigentlichen Wortsinn an die Hand – also Ideen und Konzepte, mit deren Hilfe man einen Untersuchungsgegenstand in seine Einzelteile zerlegen kann, gleichzeitig aus dem Studium dieser Einzelteile aber auch Rückschlüsse auf den Untersuchungszusammenhang und seine größeren Mechanismen ziehen kann. Diese Ausrichtung und Zielsetzung ist den hier ausgewählten Begriffen gemeinsam.

Ein erster Abschnitt widmet sich dem auch in diesem einleitenden Kapitel bereits besprochenen Begriff der globalen Verbindung und identifiziert diesen als Grundbeobachtungselement der Globalgeschichte. Dem zentralen Erkenntnisinteresse des Forschungsfeldes, also der Entstehung und Wirkmächtigkeit globaler Verbindungen, nachspüren zu wollen, verlangt ein differenzierteres Verständnis des Verbindungsbegriffs als dies selbst in der Globalgeschichtsforschung zumeist vorhanden ist. Verbindungen dürfen daher nicht nur von ihren Enden her gedacht werden, sondern müssen als eigenständige historische Phänomene erstgenommen werden – ein Punkt, der später in der Idee des Transits wieder aufgenommen wird. Zudem entfalten globale Verbindungen ihre Bedeutung erst im Zusammenspiel mit anderen Verbindungsarten. Das sind die zentralen Argumente der Diskussion des Verbindungsbegriffs, die in der Folge anhand des Beispiels des sogenannten „großen Mondschwindels“ von 1835 ihre Anwendung finden. Im Sommer dieses Jahres veröffentlichte die New Yorker Zeitung Sun eine Reihe von Artikeln, in denen detailliert geschildert wurde, wie der angesehene britische Astronom Sir John Herschel mit Hilfe eines riesigen Teleskops menschenähnliches Leben auf dem Mond entdeckt hätte. Tatsächlich stammte der Text vom Chefredakteur der Sun Richard Adams Locke, der mit dem Schwindel vor allem die Auflage seiner Zeitung steigern wollte. Trotz so mancher Zweifel verfing der in vielerlei Hinsicht täuschend echt wirkende Bericht aber bei vielen Lesern, wurde in die ganze Welt hinausgetragen und von unzähligen Menschen enthusiastisch aufgenommen. Ich versuche in diesem Abschnitt aufzuzeigen, dass das Funktionieren des Mondschwindels unter anderem eine Konsequenz von Lockes geschicktem Spiel mit globalen Verbindungen und Nicht-Verbindungen war, die in ihrem Zusammenspiel eine neue, ungewohnte Situation und damit einen unerprobten Handlungsspielraum schufen.

Die beiden folgenden Kapitel schöpfen, was die Fallstudien angeht, aus der Geschichte der Telegrafie, die sich in besonderem Maße dazu eignet, die analytischen Qualitäten der Begriffe Raum und Zeit zu illustrieren. Im Abschnitt über den Raum versuche ich zu zeigen, dass sich die Art und Weise, wie globale Verbindungen wirkmächtig werden, mit Hilfe eines pluralen, relationalen Raumverständnisses verdeutlichen lässt. Als relationale Konstrukte bestehen Räume aus Verbindungen. Kommen globale oder transregionale Verbindungen hinzu, verändern sich Räume und verschieben sich dadurch in ihrem Verhältnis zu anderen Räumen. In dieser Verschiebung, so das zentrale Argument, manifestiert sich die qualitative Bedeutung von globalen Verbindungen und Globalisierungsprozessen für die involvierten Akteure. Deutlich spürbar wird dies zum Beispiel in der räumlichen Spannung, in der Telegrafisten in manchen Kabelstationen Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Dienst verrichteten. Viele dieser Relaisstationen befanden sich in scheinbar idyllischen, geografisch aber weit abgelegenen Orten – etwa auf kleinen Inseln im Indischen oder Pazifischen Ozean. Das dort stationierte Personal erlebte die Gleichzeitigkeit gänzlich unterschiedlicher Räume tagtäglich in der Diskrepanz zwischen enger kommunikativer und loser geografischer Anbindung an die Welt. Zu welchen ungewöhnlichen Handlungs- und Ereignishorizonten, zu welcher eigenen Wahrnehmung der Welt das führen konnte, versuche ich anhand der deutschen Angriffe auf die britischen Kabelstationen auf Fanning Island und den Kokosinseln zu Beginn des Ersten Weltkriegs nachzuzeichnen.

Die Idee der Zeit ist von jener des Raums kaum losgelöst zu denken. Ähnlich wie dies auch bei einem dynamischen Verständnis von Raum der Fall ist, geht Zeit als soziokulturelles Phänomen aus den zeitlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren, Objekten, Ideen oder Ereignissen hervor. Globale Verbindungen und Austauschprozesse wirken sich auch auf zeitliche Beziehungen aus und werden so für einzelne Akteure oder auch für ganze Gesellschaften spürbar. Das zeigt sich zum einen in einem sich verschiebenden Verhältnis zwischen Raum und Zeit, das ich anhand einiger Beispiele von telegrafischem Betrug in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu illustrieren versuche. Wir kennen viele Fälle, in denen es Betrügern auf die eine oder andere Weise gelungen ist, mit Hilfe der Telegrafie entweder früher als alle anderen an wichtige Informationen zu kommen oder aber andere mit falschen Informationen zu füttern. So schufen sie kleine Zeitfenster, in denen sie selbst als einzige von einem bestimmten Wissen profitieren konnten. Globale Verbindungen haben sich aber auch im individuellen und kollektiven Zeitempfinden der Menschen niedergeschlagen. Dies wird neben vielen anderen Beispielen etwa im Handeln und Denken eines britischen Telegrafenbeamten in Indien deutlich, dessen Zeiterleben maßgeblich durch das für ihn neue Gefühl allzeitiger Erreichbarkeit geprägt wurde – eine Tatsache, mit der er im Übrigen heftig haderte.

In den beiden darauffolgenden Abschnitten werden die sozial- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriffe Akteur und Struktur – und damit auch deren Verhältnis – auf globalhistorische Untersuchungszusammenhänge umgelegt. In der Diskussion des Akteursbegriffs will ich zum einen zeigen, wie menschliche Akteure solche Strukturen navigieren können, lege das Augenmerk aber vor allem auf die Frage, wie die Akteure durch ihre Handlungen globale Verbindungen schaffen und dadurch selbst zu Scharnieren zwischen verschiedenen Räumen werden. Veranschaulicht wird dies anhand der berühmt-berüchtigten Meuterei auf der Bounty des Jahres 1789. In diesem unerhörten Ereignis auf einem kleinen Schiff mitten im Pazifik liefen die verschiedensten Handlungsund Interpretationsstränge zusammen und machten die Meuterei damit erst möglich. Die Empfindungen und Handlungen der involvierten Menschen waren dabei von den Erfahrungen und Erwartungen völlig unterschiedlicher Gebiete und Gegenstände geprägt, die in den Akteuren selbst zusammenkamen. Die sozioökonomische Situation auf den britischen Plantagen in der Karibik spielte dabei ebenso eine Rolle wie das europäische Bild der Südsee oder die Bounty als Lebensraum.

Im Kapitel zu Strukturen versuche ich zu erörtern, wie globale Verbindungsmuster durch die Handlungen von Akteuren entstehen und gleichzeitig handlungsleitend und damit verfestigend auf diese zurückwirken können. Als Fallbeispiel dient dabei die verkehrstechnische Bezwingung des Mont Cenis. Das Bergmassiv, das schon immer den Waren- und Personenverkehr zwischen Savoyen und dem Piemont beeinträchtigt hatte, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von einem eher regionalen zu einem globalen Verkehrshindernis. Mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt, der Erweiterung des Eisenbahnnetzes in Europa und schließlich dem Bau des Suezkanals stellte der Mont Cenis plötzlich das einzige größere verbleibende Hemmnis für den Verkehr zwischen Großbritannien und Indien dar. Daraus resultierte ein erheblicher struktureller Druck, auch dieses letzte Hindernis zu beseitigen. Dieser Druck führte schließlich nicht nur zum Graben eines Tunnels, sondern auch zum Bau einer waghalsigen Eisenbahn über den Berg.

Ein letztes inhaltliches Kapitel ist dem Begriff des Transits gewidmet. Hier nehme ich einige Gedanken aus den vorhergehenden Abschnitten – insbesondere aus der Diskussion des Verbindungsbegriffs – auf und versuche diese zusammenzuführen. Die Idee des Transits geht davon aus, dass Verbindungen tatsächlich etwas anderes sind als das Verbundene, die Globalgeschichte diesen Sachverhalt aber weitestgehend übergangen hat. Globale Verbindungen haben ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit. Sie sind keine neutralen Zwischenglieder zwischen zwei oder mehreren verbundenen Punkten, sondern wirken als Mediatoren. Die Idee des Transits versucht diese Wirkmächtigkeit über die Rekombination des Verbunden hinaus begrifflich zu fassen. Zur Verdeutlichung dient das Beispiel der Flucht und schlussendlichen Gefangennahme von Hawley Harvey Crippen im Jahr 1910. Crippen wurde in London des Mordes an seiner Frau verdächtig, konnte aber zusammen mit seiner Geliebten vor der drohenden Festnahme fliehen. Die beiden schifften sich auf dem Dampfer Montrose ein, der sie von Antwerpen nach Montreal bringen sollte. Die vermeintliche Überfahrt in die Freiheit entwickelte sich aber zu einem „Käfig aus Glas“, in welchem die beiden Flüchtigen, sozusagen gefangen in der Passage, einer interessierten Weltöffentlichkeit präsentiert wurden. In dieser Fallstudie wird die Bedeutung des Zusammenspiels unterschiedlichster Verbindungsarten ebenso wie die eigene räumliche und zeitliche Dimension der Verbindung im Transit besonders spürbar.

Die Auswahl der hier vorgestellten Fallstudien ist in keiner Weise zwingend. Vielmehr spiegelt ihre Zusammenstellung meine eigenen Forschungsinteressen, meinen Zugang zum Fach und auch meine Zufallsfunde der letzten Jahre wider. Nur deshalb stammen die Beispiele allesamt aus dem sogenannten „langen 19. Jahrhundert“, dessen zeitliche Spanne ich aber immerhin versucht habe weitestgehend auszuschöpfen. Nur deshalb haben alle Beispiele einen mal mehr, mal weniger ausgeprägten Bezug zum britischen Weltreich. Nur deshalb kommen sie aus einem europäischen oder europäisch-kolonialen Zusammenhang. Nur deshalb spielen Themen wie die Telegrafie oder die Dampfschifffahrt eine überproportional große Rolle. Die Auswahl ist damit Spiegel der beschränkten Möglichkeiten meines eigenen Repertoires und nicht etwa eine zwingende Folge des analytischen Zugangs. Im Gegenteil, alle vorgestellten Konzepte hätten sich auch auf unzählige andere Untersuchungszusammenhänge aus anderen Epochen und anderen Kulturen anwenden lassen. Genau das ist einer der zentralen Punkte des hier vorgestellten Verständnisses von Globalgeschichte.

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