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II. Überblick über die Forschungsliteratur

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Die Nachkriegsdiskussion

Vom ersten Weimarer Klassiker Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) bis zu Robert Musils (1880 – 1942) Aufsatz über das Novelleterlchen sind in der deutschen Novellendiskussion die bedeutendsten Novellentheoretiker in erster Linie die Novellisten selbst. Vor allem seit 1945 hat sich eine eigenständige philologische Diskussion etabliert, in der zunächst zwei Parteien aufeinander trafen: Man könnte sie als Novellenmetaphysiker und Novellenagnostiker bezeichnen. Die einen gingen davon aus, dass es so etwas wie eine platonische Idee der Gattung gäbe. Für die anderen war die Novelle nur eine Erzählung mittlerer Länge. Erst der Strukturalismus, der vor allem in Frankreich beispielsweise mit Tzvetan Todorovs Grammaire du Décaméron (1969) einen neuen Zugang zur Novellenstruktur im Besonderen wie zur Erzähltheorie (Narratologie) im Allgemeinen fand, und die Postmoderne haben diese Diskussion modifizieren können. Zunächst konzentrierte sich jedoch die Forschungsgeschichte auf jene zwei Felder. Entweder man benannte historische Einzelerscheinungen der Novellengeschichte oder man suchte nach einem einheitlichen, gleichsam überzeitlichen Modell. Die erste Methode führte zu einer unübersichtlichen Fülle an literaturgeschichtlichem Material, die einen einheitlichen Gattungsbegriff unmöglich macht, der zweite Weg zu einem Novellen-Dogmatismus, der viele relevante Texte als von vornherein unpassend aussortiert (vgl. Aust 2006, 39). So kann es nicht verwundern, wenn der Grazer Germanist (und Kabarettist) Hellmuth Himmel 1963 folgende Voraussetzungen zur Gattungsentwicklung der Novelle in Deutschland umreißt:

„Die wichtigste Vorbedingung für das Entstehen der Gattung war aber wohl nicht so sehr das Heranreifen der künstlerischen Prosa und die publizistische Situation, sondern die Entwicklung der deutschen Philosophie, die in den von der Französischen Revolution aufgeregten Zeiten, als alte Autorität zweifelhaft und eine neue nur als Fremdherrschaft sichtbar wurde, den einzelnen auf das Gesetz in der eigenen Brust verwies und ihm die Last sittlicher Entscheidung auferlegte.“ (Himmel 1963, 28)

Die deutsche Novelle erscheint somit weniger als literaturgeschichtlich denn als philosophiegeschichtlich bedingte Gattung – eine Eigenschaft, die nicht einmal dem hohen Heldenepos zugeschrieben wird. Es ist mithin kein Zufall, dass einer der größten Novellen-Metaphysiker, Hermann Pongs, den Begriff der Schicksalsnovelle entwickelt:

„Während Wieland mit seiner ironisch spielenden Behandlung von Motiven aus spanischer, griechischer, moderner Quelle nur zeigt, wie die Boccaccionovelle als unverpflichtendes gesellschaftliches Unterhaltungsgebilde des Rokoko im tändelnden Spiel des Verstandes und der Phantasie stecken bleibt und entartet, bricht Kleist einer neuen Schicksalsnovelle Bahn. Selten zeigt die Entwicklung einer Gattungsform solchen plötzlichen Aufschwung zur Vollendung unter dem Einfluss des Genies. In Kleist tritt neben Boccaccio und Cervantes der erste ebenbürtige Deutsche, der die Form der Novelle innerlich ergreift und sie dem metaphysischen Bedürfnis der deutschen Seele öffnet.“ (Pongs 1969, 150)

Der nur scheinbar revolutionäre und provokante Ausweg aus dieser spekulativen und im Fall von Pongs auch ideologischen Überfrachtung einer Gattungsdiskussion scheint folgerichtig darin zu liegen, die Geschichte und die Definition der Novelle im Sinne eines spezifischen Gattungsmodells aufzugeben und stattdessen allgemeiner die Geschichte, aber auch die Formkriterien der Erzählung zu erforschen, wie es z. B. in Karl Konrad Polheims Handbuch der deutschen Erzählung (1981) geschieht (vgl. Aust 2006, 39). Hierbei wird ein wichtiges Faktum vernachlässigt: die Beliebtheit des Novellenbegriffs über viele Jahrhunderte der Literaturgeschichte hinweg.

Walter Pabst

Mehrere Forschungsberichte, so der von Karl Konrad Polheim (1927 – 2004), haben der Novellentheorie in der Nachkriegszeit wichtige Anregungen gegeben, indem sie die üblichen Fragestellungen nach unabdingbaren Gattungskriterien selbst als fragwürdig erscheinen ließen. Ein solcher Forschungsbericht stammt bezeichnenderweise von dem Romanisten Walter Pabst (vgl. Kunz 1968, 243 – 287), der sich auch späterhin mit Novellentheorie und Novellendichtung, und zwar mit der Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen (1967) auseinandersetzte. Auch hier ist er der – meist impliziten – rhetorisch orientierten Regelpoetik der altitalienischen Prosa gegenüber skeptisch eingestellt. In seinem auf die deutsche Entwicklung konzentrierten Forschungsbericht von 1949 wird demgegenüber das starke Interesse der frühen Novellenforschung an einer theoretisch bestimmbaren Gattungsform skizziert, aber auch kritisch beleuchtet. Für Pabst gilt die formelhafte Form als „unscharfes scholastisches Hilfsmittel“ (Kunz 1968, 283). Er betont zudem die Dominanz der deutschen Novellentheorie trotz des literaturgeschichtlichen Vorsprungs der romanischen Novellistik. Als die Nationalliteraturen vergleichender Komparatist gesteht er der deutschen Diskussion deshalb aber nicht unbedingt ein höheres Niveau zu. Das Anspruch heischende Theoriepostulat wertet er nüchtern als eine reine Produktion von Lehrsätzen und unterscheidet hier zwischen Novellendogmatikern und -pragmatikern (vgl. Aust 2006, 41).

Lockemann und Seidler

Fritz Lockemann ist in seinem novellengeschichtlichen Überblick eher traditionellen Mustern verhaftet. Gerade die deutsche Literaturgeschichte beruft sich gerne auf romanische Muster: „So enthält die Boccaccio-Novelle, so ausgeglichen und vollkommen sie erscheint, Spannungen, Bereicherungs- und Vertiefungsmöglichkeiten. Sie sind es, die die Entwicklung der deutschen Novelle anregen.“ (Lockemann 1957, 33) In Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle (1957) wird aber dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ein Schwerpunkt auf die deutschsprachige Novelle des 19. Jahrhunderts gelegt. Auch eine allgemeine literaturphänomenologische Betrachtung Herbert Seidlers, die typisch für die zeitgemäße Rezeption der Philosophie Edmund Husserls und Martin Heideggers ist, entdeckt in den 1950er Jahren spezifische Züge der Gattung Novelle: „Konzentration der Geschehnisdarstellung, Herausarbeitung von entscheidenden Situationen, Gruppierung des Ganzen um ein zentrales Ereignis. Es gibt ein novellistisches Erzählen: Verdichtung einer einzelnen Begebenheit in einer strengen Form. Schon in der Renaissance spricht man von Novellieren, wenn es auch ursprünglich tief eingestuft wurde. Man verstand darunter unterhaltendes und pointenhaftes Erzählen.“ (Seidler 1959, 512f.)

Benno von Wiese

Die am meisten beachtete Darstellung der Gattung stammt von Benno von Wiese. Hier wird ein Mittelweg zwischen den beiden oben umrissenen Polen des Gattungsdogmatismus wie der Begriffsauflösung gesucht. Seine Abhandlung Die Deutsche Novelle von Goethe bis Kafka (1960) ist schon wegen der Einbeziehung des Hungerkünstlers von Kafka innovativ. Novellistisches Erzählen ist für von Wiese mit bestimmten Grundzügen verknüpft: „die Heraushebung eines Ereignisses vor den Personen, die pointierte Darstellung, die symbolische oder später auch symbolistische Konzentrierung des Epischen, die Verdichtung im Bildsymbol, das Aufgreifen der ,niederen Lebensbereiche‘, die den hohen Gattungen des Epos und der Tragödie verschlossen sind.“ (von Wiese 1960, 15f.) Ein großer geschichtlicher Überblick umreißt den Verlauf der Form anhand von Einzelinterpretationen, in denen auch Randbereiche des Novellistischen im Umfeld der Entwicklungserzählung (Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, 1826) bzw. hin zum Märchenhaften (Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne, 1842) gestreift werden.

Polheims Kritik an der Novellentheorie

Ein weiterer Forschungsbericht jener Jahre stammt von Karl Konrad Polheim, ein ausgewiesener Novellenexperte, unter anderem der Werke von Paul Ernst. Er gibt einen Überblick über die Widersprüche der Novellentheorie und kommt zu folgendem Fazit: „Eine grundsätzliche Einigung tut not, soll man nicht ständig aneinander vorbeireden, so dass jeder auf seinem eigenen Novellenbegriff beharrt.“ (Polheim 1965, 109)

von Arx und Pongs: zwei Extreme

Von 1953 – 1963 erschienen zehn Novellenmonografien (Polheim 1965, 3), was die Virulenz der Diskussion belegt. Ein Höhepunkt des Novellen-Agnostizismus ist dabei laut Polheim die völlige Absage an den Arbeitsbegriff der Novelle im Umkreis des Schweizer Germanisten Emil Staiger (1908 – 1987):

„Emil Staigers Definition ist nicht durch ihn selbst, sondern durch ein Buch seines Schülers Bernhard von Arx bekannt geworden. In einem Seminar Staigers im Wintersemester 1946 / 47 sei, wie Arx berichtet, die Frage nach der Novelle aufgeworfen worden, aber ein wirklich allen Novellen Gemeinsames habe weder vom Inhalt noch vom Aufbau her gefunden werden können. So sei die Einsicht durchgedrungen, dass mit den üblichen Definitionen nichts Befriedigendes erreicht werden könnte. Der Seminarleiter habe daher eine Formel für die Novelle geprägt, die, wenn sie auch auf den ersten Blick ihrer Einfachheit halber überraschend wirkte, in Wirklichkeit doch so etwas wie eine salomonische Lösung sei. Die Formel lautete nämlich: ,Eine Novelle ist nichts anderes als eine Erzählung mittlerer Länge‘.“ (Polheim 1965, 9)

Man könnte hier geradezu von einem zeittypischen Kahlschlag in der Novellentheorie sprechen. Die Behauptung einer metaphysischen Kategorisierung einer literarischen Gattung wie der Novelle ruft als Reaktion eine völlige Absage an den Begriff, selbst als Arbeitsbegriff, hervor. Der Absage von Bernhard von Arx an jegliche Novellenkategorien steht wie gesagt Pongs’ „symbolische Novelle“ (Polheim 1965, 35) entgegen. Pongs’ Forschungen „bedeuteten den Einbruch der geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise in unser Gebiet“ (Polheim 1965, 32).

Differenz zwischen Novelle und Erzählung: Klein

In seiner detaillierten Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart (1960) versucht Johannes Klein demgegenüber eine eher formal orientierte Differenzierung zwischen Novelle und Erzählung:

„Die Erzählung steht zwischen Roman und Novelle. Mit dem Roman teilt sie den Reichtum der Handlung, aber nicht die Verknüpfung verschiedener Handlungskreise. Mit der Novelle teilt sie die Kürze der Szenen, aber nicht deren Ausrichtung auf den Mittelpunkt. Mit dem Roman teilt sie die seelische Entwicklung, aber nicht deren Ausdehnung. Wie die Novelle liebt sie das Ereignis, aber nicht das besondere und auch nicht das zentrale. Die Novelle erhöht den Vorgang und vertieft seine Bedeutung. Die Erzählung nimmt die Vorgänge, wie sie sind […] In der deutlichsten Ausprägung neigt die Novelle zum Heroischen, die Erzählung zum Idyllischen.“ (Klein 1960, 9f.)

Auch mit dieser Definition kann die Forschungsdiskussion nicht als beendet betrachtet werden. Verdienstvoll ist aber sicher Kleins umfangreiche Darstellung der Gattungsgeschichte im 20. Jahrhundert, die gerade im 21. Jahrhundert helfen mag, vergessenes Terrain wiederzuentdecken.

Die Rückkehr zu formalen Kriterien

Eine beinahe postmoderne Rückwende der Novellenbetrachtung hin zu überkommenen Gattungskriterien markiert der Forschungsbericht von Siegfried Weing (1994). Weing sieht die Novelle als Gattung, die aus verschiedenen hinreichenden, aber nicht unbedingt notwendigen Bausteinen erstellt wird. Es genügt, wenn sie mehrheitlich gegeben sind (Aust 2006, 43). Weing benennt die Bauformen der Novellengattung wie folgt: mittlere Länge, ein wahrscheinliches, aber ungewöhnliches Ereignis, eine begrenzte Anzahl handelnder Personen, ein Rahmen, ein Wendepunkt, ein zentrales Symbol sowie ein Eindringen des Chaos bzw. des Irrationalen in eine ansonsten stabile und rationale Welt (vgl. Weing 1994, 160). Er wendet sich damit gegen „the opposing opinion, formulated by Walter Pabst and modified by Emil Staiger and Bernhard von Arx“. Sie behauptet, „that novellas either share no common characteristics at all or only one – that of medium length“ (Weing 1994, 159). Jenseits des Dogmatismus auf der einen und des radikalen Nihilismus auf der anderen Seite entscheidet sich Weing also für eine Art Baukastenprinzip des Novellierens.

Der grundlegende Aufsatzband von Josef Kunz

Neben den Forschungsberichten sind in der Nachkriegszeit auch mehrere Sammelbände zur Novellendiskussion publiziert worden, aus denen in der vorliegenden Abhandlung auch zitiert wird. Die Wege der Novellenforschung dokumentiert z. B. der Sammelband Novelle, den Josef Kunz (1968, 1972) herausgab. Damit liegt eine sehr praktische Dokumentation vor, die die Novellentheorie von Wieland (1772) bis Harald Weinrich (1964) veranschaulicht.

Schunichts Falke am Wendepunkt

Ein wesentlicher Aufsatz in der Zusammenstellung von Kunz ist Der Falke am Wendepunkt von Manfred Schunicht (1960). Er stellt Folgendes fest: „Die Diskussion über die formalästhetischen Kriterien der Novelle hat inzwischen offenkundig einen toten Punkt erreicht.“ (Schunicht, in: Kunz 1968, 433) Schunicht sieht auch ein Problem bei der traditionellen Orientierung an Boccaccio als Musterlieferant der „Novelle an sich“ (ebd., 434). So nehmen der Romantiker Ludwig Tieck und der gründerzeitliche Münchner Realist wider Willen Paul Heyse fälschlicherweise an, „dass Boccaccio und Cervantes die sicheren romanischen Vorbilder in einer Gattung sind, die erst Goethe in Deutschland einführte.“ (ebd., 436) Schunicht stellt im Folgenden viele äußere Einflüsse auf die Entwicklung der deutschen Novellentheorie heraus. Da ist z. B. der Bezug zwischen Wilhelm Wundts (1832 – 1920) Völkerpsychologie und der Idee von der Novelle als Fortsetzung des Märchens (ebd., 440). Der Einfluss der idealistischen Philosophie zeigt sich in der Vorstellung des Wendepunkts als Treffpunkt des Absoluten mit dem Endlichen. Hier offenbart sich für Schunicht Karl Wilhelm Ferdinand Solgers (1780 – 1819) Einfluss auf Tiecks Novellenphilosophie (vgl. ebd., 443). Schunicht seinerseits übt Kritik an dieser idealistisch-philosophischen Position. Schließlich habe auch sie Gottfried Kellers abschätziges Diktum vom Novellieren und Nivellieren (vgl. ebd., 447) nicht verhindern können.

Einen anderen Novellenpraktiker, Theodor Storm, zitiert Schunicht unterstützend mit dem Ausruf: „Den Boccaccioschen Falken lass ich unbekümmert fliegen“ (ebd., 451). Auch Pongs’ Verständnis des Falken als Symbol (ebd.) sieht Schunicht skeptisch, um dann seinen eigenen Definitionsversuch zu entfalten: „Die Novelle erzählt – alte Einsicht zahlloser Novellentheorien – auf eine Spitze hin.“ (ebd., 457) Ein weiteres Kriterium knüpft an eine Art Diminutivform des Schicksals an: „Der Zufall ist wesentliches Prinzip der subjektiven Teleologie novellistischer Wirklichkeit“ (ebd., 459). Diese Einschätzung wird zeitgleich in der erzählerischen Praxis durch die Novellettensammlung Lauter Zufälle (ebd.) von Wilhelm von Scholz (1874 – 1969) bestätigt. Anknüpfend an Walter Pabst hält Schunicht schließlich fest: „Es gibt nicht die Novelle überhaupt, es gibt nur Novellen.“ (ebd., 462)

Ernés Kunst der Novelle

Der Journalist, Hochschullehrer und promovierte Germanist Nino Erné (1921 – 1994) hat in seiner Kunst der Novelle (1956) einen sehr unkonventionellen Beitrag zur Novellendiskussion der Nachkriegszeit geliefert. Seine novellentheoretischen Standpunkte legt er wesentlich der fiktiven Gestalt eines Professors in den Mund, der in einer novellentypischen Gefahrensituation – hier ist es nicht die florentinische Pest wie im Dekameron, sondern die deutsche Nachkriegsnot – eine ebenso gattungsspezifische Rahmengesellschaft – hier sind es keine vornehmen Renaissancemenschen, sondern orientierungssuchende hungernde Studenten – um sich versammelt. Die Binnenerzählungen kreisen um eine Annäherung an die Gattung, die zeitgemäß als Anachronismus im Vergleich zur Kurzgeschichte herausgestellt wird. Seiner italienischen Herkunft gemäß, betont Erné die Verbindung der Novelle mit anderen Medien der italienischen Kulturtradition. So hält er zum Erzählrahmen wie der Form des Novellenkranzes bei Boccaccio fest: „Diese Architektur ist von der gleichen absoluten Symmetrie beherrscht, die Sie an einem Tempel Palladios […] erkennen.“ (Erné 1995, 31) Das Spielprinzip, die Bewahrung der Form in der Varianz, prägt für Erné die Gattung. So wird C. F. Meyers Hochzeit des Mönchs als Erzählspiel beschrieben: „Meyers Personen sind Schachfiguren. Seine Novelle ist eine Meisterpartie.“ (Erné 1995, 68) Im Kontext von Rahmen- und Binnenhandlung hebt Erné die Bedeutung der beinahe Lacan’schen „Spiegelung“ (Erné 1995, 41) beider Erzählstränge hervor. Die Figur des altitalienischen Dichters Dante in der Rahmenhandlung der Hochzeit des Mönchs (1884) greift als Erzähler der Binnenhandlung nämlich auf Gestalten aus seiner höfischen Zuhörerschaft zurück, die er während des Erzählens in seine Novellenfiguren umformt. Erné liefert dafür in seinem komplexen halbfiktionalen Essay selbst ein treffendes autopoetologisches Beispiel. Der Kanzleirat Irenäus Schnüpselpold (vgl. Erné 1995, 84), eine Novellenfigur des Berliner Romantikers E. T. A. Hoffmann, fungiert nämlich als der Bibliothekar des Professors. Als Produkt der Fantasie verschwindet er folgerichtig nach dem Ableben des Professors ebenfalls auf mysteriöse Weise aus dem Nachkriegs-Berlin. Erné konstruiert hier einen intertextuellen Spiegeleffekt zwischen seiner Abhandlung und Hoffmanns fantastischer Novelle Die Irrungen.

Das Handbuch der deutschen Erzählung

Ein Standardwerk der Novellenforschung ist immer noch das Handbuch der deutschen Erzählung (1981), das von Karl Konrad Polheim herausgegeben wurde (Aust 2006, 47). Es umfasst Berichte über die deutsche Erzählung vom Mittalter bis zur damaligen Gegenwart und wird von einer erzähltheoretischen Abhandlung eingeleitet. Der Novellenbegriff selbst ist hier jedoch dünn gestreut. Dem damaligen Diskussionsstand entsprechend, wird der Gattungsbegriff bisweilen taktisch vermieden. Besonders hervorzuheben sind die damals relatives Neuland betretenden Abhandlungen über die deutsche Erzählung Vom Mittelalter zum Humanismus von Joachim Heinzle, über Boccaccio und die deutsche Kurzprosa des 16. Jahrhunderts von Willi Hirdt sowie das Kapitel Vom Humanismus zum Barock von Adolf Haslinger. Gerade von der bisherigen Novellenforschung – etwa Benno von Wieses – wurden diese Jahrhunderte der Gattungsgeschichte nämlich vernachlässigt.

Die Wiederkehr der Novellenform bei Remak

Während der Novellenbegriff in Polheims Handbuch gerne umgangen wird, geht Henry H. H. Remak in Novellistische Struktur: der Marschall von Bassompierre und die schöne Krämerin (Bassompierre, Goethe, Hofmannsthal) (1983) den deutlichen Kriterien der Novellendefinition erneut nach und kommt zu einem erstaunlichen Resultat: Am Beispiel einer erotischen Geschichte um eine Krämerin aus den Memoiren des französischen Marschalls Bassompierre (1579 – 1646) und ihrer Nachwirkung in Goethes Novellenkranz Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und einer stoffgleichen Einzelnovelle von Hugo von Hofmannsthal (1900) bestätigt er die Gültigkeit der traditionellen Gattungskriterien. Das alte Muster sollte nach Remak vorzugsweise übernommen werden wie in Goethes Unterhaltungen, nicht aber psychologisch und stilistisch überladen sein wie im Fall der Version Hofmannsthals. In einer weiteren ausführlichen Abhandlung Remaks, Structural Elements oft he German Novella from Goethe to Thomas Mann (1996, 2001), wird dann im Abschnitt mit dem Titel Der Rahmen der deutschen Novelle: Dauer im Wechsel der Novellenbaukasten erneut variiert: Da geht es um die „Verselbständigung des Rahmens“, die schon bei Erné skizzierte spiegelnde „Vermengung des Rahmens mit der Binnenerzählung“, die dadurch bedingte „Subjektivierung des Rahmens“, also die „wachsende Unsicherheit des Berichterstatters“, mithin die „Verbürgerlichung des Rahmens“ und den „Verlust des Gesellschaftlichen“ (Remak 2001, 235 ff.). Auch Abhandlungen Remaks über Wendepunkt und Pointe in der deutschen Novelle von Keller bis Bergengruen (Remak 2001, 165 – 182) zeigen eine Konzentration seiner Forschungen auf die Bauformen der Novelle. Remaks Postulat von der Rückkehr der Novellenform kann beinahe als Anfang einer postmodernen Novellendiskussion aufgefasst werden, der die Freude am formalen Spiel wichtiger ist als die Forderung nach der ,tabula rasa‘.

Winfried Freunds Deutsche Novellen

Traditionell fällt die Novellendefinition beim Eingangsaufsatz von Winfried Freund in Deutsche Novellen (1993) aus. Inhaltlich und stilistisch bedeutet Freunds Versuch einer Novellendefinition einen Rückbezug auf den Novellenplatonismus der 1950er Jahre, was ihr nicht die Gültigkeit nehmen muss. Manfred Schunichts Überblick am Schluss (323 – 336) ist eine konzise Zusammenfassung der hochkomplexen Geschichte und der Gattungsproblematik der Novelle.

Schlaffers feministisches, postmodernes Novellenbild

Hannelore Schlaffers Poetik der Novelle (1993) ist eindeutig auf den Modellcharakter Boccaccios ausgerichtet, der für sie nicht nur formale Gattungskriterien liefert. Das Muster des Dekamerons äußert sich nach Schlaffer in einer bestimmten Bandbreite von Novellenstrukturen und gattungstypischen Motiven. Die Arbeitsbegriffe der Novellendefinition fußen bei Schlaffer auf den tradierten deutschen Theorien, wobei besonders die Falkentheorie Paul Heyses hervorzuheben ist. Die dominante Handlungsstruktur liegt in der erotisch verführenden, souveränen Frau im novellistischen Dreieck zwischen zwei männlichen Rivalen, darüber hinaus auch in der Männerfreundschaft (vgl. Aust 2006, 50), die Eve Kosofsky Sedgwick beide als „homosoziales Begehren“ bezeichnet. Interessant ist Schlaffers Versuch, diese an Todorov anknüpfenden Analysen der altitalienischen Novellistik auf die deutsche Novellenproduktion des 19. Jahrhunderts zu übertragen. Problematisch hingegen sind die minimale forschungsgeschichtliche Auseinandersetzung sowie der enge interpretatorische Fokus. Das 20. Jahrhundert bleibt überdies vernachlässigt. Hannelore Schlaffer sieht die Gattungsgeschichte unter einem Hauptimpetus: „Die Geschichte der Novelle besteht in dem Versuch, den tollkühnen Entwurf Boccaccios rückgängig zu machen. Aber kaum ein Dichter in seiner Nachfolge kommt aus dem Odium des Weiblichen heraus.“ (Schlaffer 1993, 32) Jenes gattungsprägende Weibliche ist klar verortet: „Der Ort der Weiblichkeit und der Schauplatz der Novelle ist das Haus.“ (Schlaffer 1993, 33) Aus den oben umrissenen Kriterien ergibt sich eine klare überzeitliche Struktur der Gattung:

„Bei der Novelle, so zumindest lautet die These dieses Buches, sind neue Stoffe immer nur Zutaten zur festgeprägten Form. Ihr Wandel vollzieht sich nicht durch die Stoffwahl, sondern in der Umstrukturierung grundsätzlicher Konstellationen, wie der von Figur und Raum. […] Die Novelle des 19. Jahrhunderts folgt dem alten Schema und addiert den neuen Stoff hinzu. Sie wäre in die quasi-mathematische Formel zu fassen: Muster plus Stoff, Plan plus Farbe.“ (Schlaffer 1993, 81f.)

In ihrem spielerischen Aufgreifen alter Muster wie in ihrer Verbindung dieser Tradition mit einer feministischen Sichtweise ist Schlaffers Poetik als grundlegendes Werk einer postmodernen Novellentheorie aufzufassen, das sich zu der zeitgenössischen Novellenproduktion von Thomas Hürlimann bis Hartmut Lange fügt. Die Rückkehr der Form findet unter völlig neuen weltanschaulichen Vorzeichen statt.

Freunds Überblick über die Gattungsgeschichte

Noch einmal versucht Freund in Novelle (1998) im Hinblick auf eine umfangreiche kontroverse Forschungsliteratur eine Gattungsdefinition. Das menschliche Scheitern bzw. seine Darstellung erscheinen bei ihm als zentrale Gattungsmerkmale (vgl. Freund 1998, 2009, 30). Er konzentriert sich auf eine umfangreiche Darstellung der Novellengeschichte, auch und gerade im 20. Jahrhundert, bei der er viele vergessene Autoren, vor allem des novellentypischen Neoklassizismus, wiederentdeckt.

Raths Annäherung an die Novelle

Den Zusammenhang zwischen Novelle und Drama betont Wolfgang Rath (2008). Wie schon bei Bonciani und Storm liegt ein Schwerpunkt auf der Lehre von der Peripetie, die er unter anderem anhand der Technik des Dramas von Gustav Freytag (1816 – 1895) analysiert. Der Auf- und Abschwung bildet mit dem erkennenden Wendepunkt eine dreifache Gattungsstruktur in Drama und Novelle. Indem er die Novellenhandlung in ideengeschichtliche Zusammenhänge rückt, kehrt Rath eindeutig in die Tradition der Novellenmetaphysik zurück. In der Geschichte der Novelle sieht er überdies im Gegensatz zu Hannelore Schlaffer, aber auch im Widerspruch zu den meisten deutschen Novellentheoretikern des 19. Jahrhunderts einen Bruch zwischen der romanischen Tradition und der Novelle nach der Goethezeit. Anhand von Goethes Novelle stellt Rath folgende Schwerpunkte heraus:

„1. Das Erhabene als Statthalter des Wendepunktes – mit den Merkmalen des Plötzlichen als Verwunderlichem und Überraschendem – eines aufgesprengten Zeitkontinuums in der Vergleichzeitigung von Vergangenheit im Modus der Wiederkehr des Vergangenen. 2. Handlung in der Verspiegelung von Innen und Außen. 3. Lineare Konzeption einer Fallgeschichte.“ (Rath 2008, 115)

Schillers Ästhetik, vor allem seine Dramenkonzeption, aber auch der von Kant übernommene Begriff des Erhabenen modifizieren und vertiefen nach Raths Auffassung die deutsche Novelle der Weimarer Klassik gegenüber ihren romanisch-klassischen Vorgängern. Insofern nähert sich Rath wieder Hellmuth Himmel an, der die idealistische Philosophie als Vorbedingung der deutschen Novelle seit der Goethezeit ansah.

Austs Skizzierung von Novellenkriterien

Hugo Aust konzentriert sich in seinem Handbuch zur Novelle vor allem auf einen Wortschatz der Novellenlehre, um die Gattung und ihre Spezifika zu umreißen. Ausgehend vom Kriterium der Länge (Staiger) kommt er zu Goethes Paradigmen. Diese sind unter den Stichworten ,Unerhört‘, ,Neu‘Wahr‘, ,Eine‘ zusammenzufassen. Zusätzlich kommen noch Elemente der Konzentration, ,Punkt‘ und ,Symbol‘ sowie ein ,Rahmen‘ hinzu. Entscheidend jedoch ist an Austs Novellenkonzeption die Betonung, dass novellistisches Erzählen ein Erzählen nach Mustern darstellt:

„Die Novellenproduktion und die geschichtliche Kontinuität der Form erscheinen im Lichte dessen, was die alte Poetik imitatio nannte. Gerade auch Nationen (bzw. charakteristische Regionen) rücken so zu namentlichen Leitbegriffen auf, so dass die Novelle als eine Erzählform ,in der Art der Italiener oder Spanier‘ durchaus sinnvoll bestimmt wird. Es bleibt noch zu erproben, ob das Verfahren, bei der Gattungsidentifizierung auf individuelle Muster zurückzugreifen, nicht ein geschichtlich angemesseneres Bild der Gattungsbewegung […] ergibt als die gängigen Wachstumsinterpretationen oder Typenfixierungen […]: nicht zufällig begegnet in der Novellengeschichte immer wieder das Projekt der Muster- und Meistersammlungen.“ (Aust 2006, 16).

Trotz seiner vielfach geäußerten Skepsis gegenüber bisherigen Definitionsversuchen der Novelle gibt Aust also die Suche nach dem Muster keineswegs auf.

Boccaccio und die Folgen

Der Sammelband Boccaccio und die Folgen, der 2006 von Hugo Aust und Hubertus Fischer herausgegeben wurde, enthält neben Aufsätzen zu Fontane, Theodor Storm. Marie von Ebner-Eschenbach sowie Paul Heyse und Karl Emil Franzos, der die Dorfnovelle zur Ghettogeschichte umformte, auch einen einleitenden Aufsatz von Hans-Jörg Neuschäfer, in dem dieser die Beziehung zwischen romanischem und preußisch-hugenottischem Erzählen über Jahrhunderte der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte hinweg darlegt. In Boccaccio-Cervantes-Fontane. Vom Anfang und Ende der Novellendichtung weist Neuschäfer unter anderem die intertextuelle Verbindung zwischen Boccaccio und seinem Dekameron, das „seit 1554 auf dem Index stand, sozusagen wegen seiner erwiesenen Unmoral“ (Neuschäfer 2006, 15), und den Exemplarischen Novellen des Miguel de Cervantes nach. Bei Theodor Fontanes Effi Briest (1894) wird trotz der gattungstypischen, von der altitalienischen Novelle vorgeprägten Ehebruchshandlung durch die romanhafte Länge der novellistische Rahmen ebenso gesprengt wie die inhaltliche Struktur der Novelle durch Fontanes moralischen Skeptizismus. Das ethische Schema ist obsolet geworden: „Und zwar gerade deshalb, weil letztlich alle Normen auf längere Sicht an Verbindlichkeit verlieren und vom historischen Standpunkt aus zu relativieren sind. Eine so weitgehende Normenskepsis aber, so scheint mir, führt an die Grenze dessen, was in der klassischen Novellistik erzählbar war.“ (Neuschäfer 2006, 21) Gattungsnormen scheinen dasselbe Schicksal zu haben wie moralische Normen. Der historische Überblick relativiert beide.

Der Rahmen: Geschichte eines Novellenbausteins

Einem wichtigen Aspekt novellistischen Erzählens, dem Geselligen Erzählen in Rahmenzyklen, widmet sich die gleichnamige Abhandlung von Andreas Beck (2008). Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf Goethe, Tieck und E. T. A. Hoffmann. Beck stellt heraus, dass in der frühen deutschen Boccaccio-Rezeption ab der Übersetzung von 1472 über viele Jahrhunderte „das Rezeptionsinteresse der Vielfalt der Binnenerzählungen, nicht der literarischen Großform“ (Beck 2008, 14) gilt. Er verweist jedoch ebenso auf Vorläufer der bekannten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) von Goethe, etwa auf „das Gastmahl der Crispina in der Römischen Octavia (1677 – 1707) von Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel“ (1633 – 1714) (ebd.) als frühen deutschen Rahmenzyklus. Die Novellenbausteine waren mithin längst vorhanden, bevor sie in der Goethezeit in eine klassische Form gesetzt wurden.

Einführung in die Novelle

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