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2. Abgrenzung der Novelle von der Anekdote, dem Kunstmärchen und der Kurzgeschichte

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Anekdote und Historiennovelle

Schwieriger als die Abgrenzung zum Roman erweist sich die gattungsmäßige Abgrenzung zur Novelle bei der Anekdote. Manchmal wird die Beziehung zwischen beiden Gattungen sogar von Novellisten hergestellt. So stellt die in der italienischen Kultur sehr bewanderte Isolde Kurz in ihrer Aphorismen-Sammlung Im Zeichen des Steinbocks heraus: „Der Ursprung der Novelle ist die Anekdote, wie man bei Boccaccio noch deutlich sieht. Die Novelle darf ihre einfache anekdotische Grundform nicht verleugnen, sonst wird sie leicht kleinlich. Man muss den mündlichen Charakter noch durchfühlen, das erhält ihr die Frische und den ursprünglichen Reiz.“ (Kurz 1927, 189) Gegen diesen Standpunkt lässt sich der Gattungsunterschied am besten aus der Gattungsgeschichte herleiten. Der Begriff Anekdote ist nämlich bedeutend älter als der Novellenbegriff. Während der Begriff ,novella‘ im Italien des 13. Jahrhunderts geprägt wurde – das nach 1281 entstandene und später sogenannte ,Novellino‘ ist hier der erste Novellenkranz –, entstand die Anekdote in einem völlig anderen historischen Zusammenhang im Byzantinischen Reich des 6. Jahrhunderts (vgl. Weber 1993). Der Historiker Prokopios von Caesarea (ca. 500 – 562) nannte eine durchaus kritische Historiensammlung über den Kaiser Justinian I. Anekdota, wörtlich das ,Unveröffentlichte‘, also geheime Geschichten. Wie vor ihm Sueton (ca. 70 n. Chr. bis ca. 130 – 140 n. Chr.) in seiner Geschichte über die römischen Kaiser veröffentlichte Prokopios somit Charakteristisches über eine bekannte, real existierende Person, das teilweise vorher mündliche Verbreitung gefunden hatte. Das Kriterium der historischen Wahrheit ist in diesem Kontext entscheidend für die Gattungsdefinition der Anekdote. So ist denn auch „die Anekdote eine wahre, noch unbekannte, merkwürdige Begebenheit“ (Hilzinger 1997, 232). Sonja Hilzinger unterstreicht darüber hinaus die selbst in der Historiennovelle manchmal nicht gegebene historische Wahrheit als wesentliches Kriterium der Gattung: „In der historischen Wahrheit lag die Voraussetzung für die Wirkung der Anekdoten: Sie sollten historische Belehrung und moralische Bildung vermitteln.“ (Hilzinger 1997, 178) Die Anekdote ist im Gegensatz zur Kunstform der Novelle ohnehin eine halbliterarische Gattung, die ebenso wie die (Auto-)Biografie eine Nähe zum Zeitgeschehen hat. Nino Erné hält hierzu fest: „[Die] Ankdote hat eigentlich keinen Verfasser, kein Copyright. Jeder konnte und kann sie noch heute erzählen und ausschmücken, wie er will. Aber nur begrenzt.“ (Erné 1995, 88) Sie kann – weil sie meist noch kürzer ausfällt als eine altitalienische Novelle – als ,Biographie in nuce‘ aufgefasst werden. Aus einzelnen Erlebnissen soll der Geist einer Epoche und ihrer Persönlichkeiten sprechen. Die Gattung der Anekdote vermittelt jedoch keine geschichtsphilosophischen Modelle, sondern Sonderbares über berühmte Persönlichkeiten einer Epoche, wie Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1897) hervorhebt:

„Bei den großen Herrschercharakteren des achtzehnten Jahrhunderts, die neue, strengere, geregeltere Formen des Staatsregiments schufen, zeigt sich der gleiche Gegensatz von persönlicher Willkür und der Hingabe an eben dieses allgemeine von ihnen begründete Gesetz. Friedrich der Große, Joseph II., Katharina von Russland, […] konnten sämtlich das Sonderlingswesen, welches die Zeit als das notwendige Attribut einer genialen Natur ansah, nicht ganz loswerden. Daher gaben sie den Stoff zu unzähligen Anekdoten […]. In den beiden vorletzten Jahrhunderten musste ein König witzig sein, wenn seine Größe den Zopfmenschen nicht langweilig erscheinen sollte.“ (Riehl 1896, 153)

Die grotesken Figuren der Anekdote sind nicht erfunden; sie saßen wirklich auf dem Thron. Im Gegensatz zur Historiennovelle ist das Kriterium der Wahrheit also zentral für die Anekdote. Zwar sieht Sonja Hilzinger die Anekdote „als Vorform der historischen Novelle“ (Hilzinger 1997, 178). Dem psychologischen Erzählen sind in dieser Gattung im Gegensatz zur Novelle aber enge Grenzen gesetzt. Das Charakteristische im Sinne Riehls muss auf eine bestimmte Eigenschaft der dargestellten historischen Persönlichkeit konzentriert sein, sonst wird die Pointe verfehlt, auf die das anekdotische Erzählen fast notwendig hinausläuft. Die Historiennovelle kann dagegen im größeren Erzählrahmen ein psychologisches Porträt einer politisch-historisch oder kulturgeschichtlich bedeutsamen Person zeichnen. Die Anekdote liefert den Realitätssplitter, die Historiennovelle kann ein Gesamtbild ausmalen und muss sich dabei nicht an das Wahrheitskriterium halten. Ein prägnantes Beispiel dafür sind die realistischen, aber nicht genau der Realität bzw. der historisch dokumentierten Faktenlage entsprechenden Novellen Conrad Ferdinand Meyers Das Amulett (1873) und Gustav Adolfs Page (1882). Der Kulturkampf Bismarcks gegen den Einfluss des Vatikans auf die deutsche Politik der Gründerzeit liefert für das Lesepublikum dieser Geschichtsnovellen den aktuellen Bezug für die Beschäftigung mit Stoffen wie der Pariser Bartholomäusnacht (1572), einem antiprotestantischen Massaker, oder dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648). Historisch-politisch ähnlich gelagert ist die Erzählung Die schwarze Galeere (1861) von Wilhelm Raabe (1831 – 1910), die den Seekrieg niederländischer Protestanten gegen das katholische Spanien im 16. und 17. Jahrhundert behandelt. Meyer stellt in Gustav Adolfs Page die gerade vom Bildungsbürgertum im Preußendeutschland seiner Zeit verehrte Gestalt des Schwedenkönigs, der für die Evangelischen – und für die Machtausdehnung Schwedens – im Deutschland des 17. Jahrhunderts kämpfte, in den Mittelpunkt der Novellenhandlung. Dies geschieht innerhalb eines faktisch verbürgten Rahmens. Die Geschichte der Nürnberger Patriziertochter Auguste, die den König liebt, verehrt und als Page, also als junger Mann verkleidet, seine Nähe sucht, wird als Produkt der dichterischen Fantasie in jenen realen Rahmen hineingestellt. Der König wird nicht anhand überlieferter situativer Vorkommnisse oder eines anekdotischen Einzelereignisses charakterisiert, sondern anhand seiner fiktiven Begegnung mit einer fiktiven Mädchengestalt. Dieses Charakterbild wird durch eine erweiterte Handlung und eingefügte Novellensymbole, z. B. einen scheinbar verräterischen Handschuh, ausgemalt.

Romantische Novelle und romantisches Kunstmärchen

Schwieriger ist – gerade in der Epoche der Romantik, aber auch in der Klassik – die Differenzierung zwischen Novelle und Kunstmärchen. Man kann sich anhand der Geschichten zweier befreundeter Berliner Romantiker, E. T. A. Hoffmanns (1776 – 1822) Fantasiestück in Callot’s Manier Die Abenteuer der Silvester-Nacht und Adelbert von Chamissos (1781 – 1838) Peter Schlemihls wundersame Geschichte, fragen, was den einen Erzähltext zur fantastischen Novelle und den anderen zum Kunstmärchen werden lässt. Diese Frage steht aufgrund der Tatsache im Raum, dass Hoffmann die kurze Zeit vorher entstandene Schlemihl-Figur Chamissos in seiner Novelle auftreten lässt, die durch den Obertitel ,Fantasiestück‘ sowohl als fantastisch wie als bildmächtig gekennzeichnet ist. Auch hier ist die Schlemihl-Figur ihres Schattens als Symbol der Identität verlustig gegangen; auch hier will sie diese peinliche Tatsache vor der Umwelt verbergen. Was die Texte jedoch unterscheidet, ist ihr Realitätsgehalt. Während in Chamissos Kunstmärchen die gesamte naturwissenschaftliche Weltkonstruktion ungültig zu sein scheint (man kann in Windeseile mit Siebenmeilenstiefeln ganze Kontinente durchschreiten), ist die Berliner Lebenswelt in der Hoffmann’schen Novelle fast realistisch gezeichnet. Vor diesem Hintergrund erscheinen fantastische oder unheimliche Einzelgestalten wie Schlemihl umso beunruhigender. Mit der Novelle hat das Kunstmärchen im Gegensatz zum Volksmärchen aber auch einiges gemein (vgl. Mayer, Tismar 1997). Seine Gattungsfunktion als Kunstprodukt sieht vor, dass es nicht beliebig verändert werden kann. Es ist ein genuin literarisches Werk, in Stil und Haltung das künstlerische Werk eines Dichters in seiner endgültigen Gestalt, das nicht mehr durch mündliches Weitertragen überformt werden kann. Das romantische Märchen Chamissos zeigt überdies auch auf, dass das Kunstmärchen im Gegensatz zum Volksmärchen den literarisch-ästhetischen Strömungen seiner Entstehungszeit unterworfen ist. Die gleichnishafte Kapitalismuskritik, die hinter der Schilderung des Verkaufs des eigenen Schattens verborgen liegt, ist sicher ein Spezifikum der bürgerlichen Epoche. Ähnliches gilt für den Kohlenmunk-Peter in Wilhelm Hauffs (1802 – 1827) Kunstmärchen Das kalte Herz, der für den Erfolg in der Welt der Marktwirtschaft, deren Mechanismen klar skizziert werden, dem Holländer-Michel sein Herz verkauft. Der Name des Seelenkäufers ist kein Zufall, sondern durch die Faktenlage der Wirtschaftsgeschichte vorgeprägt: Die Niederlande sind ein Hort des Frühkapitalismus. Das Element des Gleichnisses ist, was diesen Aspekt betrifft, offensichtlich. Märchenhaft ist jedoch, dass sich in der dargestellten Wirklichkeit niemand über geisterhafte Glasmännlein verwundert, wie es demgegenüber in einer fantastischen Novelle der Fall wäre, in der die Vision solcher Gestalten zu irritiertem Realitätsverlust des Helden führen würde. So liefert das Volksmärchen häufig die inhaltlichen Stoffe wie den Erzählduktus für das Kunstmärchen, das die Gestalten des Volksmärchens, aber auch des Aberglaubens produktiv umdeuten kann. Dann mutieren z. B. graue und gräuliche Teufelsgestalten der Volksmythologie in Chamissos Kunstmärchen zu einem dezent grauen, aber unheimlicheren Vertreter der Geldwirtschaft.

Romantik: Novelle und Kunstmärchen

Novelle und Kunstmärchen haben gerade in der deutschen Literaturgeschichte, aber auch in der Weltliteratur vieles gemein. So beginnt die kontinuierliche Geschichte des deutschen Kunstmärchens im 18. Jahrhundert in Anknüpfung an französische Vorbilder aus dem 17. Jahrhundert wie Charles Perrault (1628 – 1703) mit Christoph Martin Wielands parodistischem Feenmärchen vom Prinzen Biribinker in seinem Roman Don Sylvio von Rosalva (1764) sowie den teilweise ironischen Volksmährchen der Deutschen (1782 – 86) von Johann Karl August Musäus. Wieland ist aber auch mit seinem Hexameron von Rosenhain einer der ersten Novellisten in Deutschland, der sich als solcher bezeichnet. Deswegen ist es durchaus aufschlussreich, wenn er den Unterschied zwischen beiden Gattungen herausstellt. Schon zu Beginn der gängigen Geschichte der deutschen Novelle (also unter Ausschließung ihrer zahlreichen Vorbilder in Renaissance und Barock) betont Wieland nämlich deren Realitätsgehalt. So erläutert ein Herr M. in der Rahmenhandlung des Hexameron von Rosenheim besagte Prosagattung, bevor er daran anknüpfend seine Novelle ohne Titel erzählt, die eben durch jenen Titel wie später auch Goethes Novelle einen paradigmatischen Charakter erhält:

„Bei einer Novelle, sagte er, werde vorausgesetzt, dass sie sich weder im Dschinnistan der Perser […] noch in einem anderen idealischen oder utopischen Lande, sondern in unserer wirklichen Welt begeben habe, wo alles natürlicher und begreiflicher zugeht und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten.“ (Wieland 1999, 94)

Der Realitätsbezug einer novellistischen literarischen Welt besteht in der Nachahmung des Möglichen. Diese Nachahmung (Mimesis) ist schon seit Aristoteles ein wesentliches Kennzeichen der Literatur. Je nachdem, wie weit sie diesem Nachahmungsprinzip folgen wollen, schaffen romantische Novellisten wie Ludwig Tieck, Friedrich de la Motte Fouqué, E. T. A. Hoffmann oder Clemens Brentano auch Kunstmärchen. Gerade beim frühen Tieck vermischen sich beide Gattungen zwecks Steigerung des Fantastischen. Dies geschieht unter anderem in Der Runenberg (1804). Genuine Kunstmärchendichter sind im Gegensatz zu genuinen Novellisten dagegen eher selten anzutreffen. Das prominenteste Beispiel mag der Däne Hans Christian Andersen (1805 – 1875) sein, der unter anderem über die Vermittlung seines deutschen Freundes, des besagten Berliner Romantikers Adelbert von Chamisso, weltbekannt wurde.

Die Kurzgeschichte der Nachkriegszeit

Noch schwieriger als die Abgrenzung zwischen der romantischen Novelle und dem Kunstmärchen ist – angesichts einiger Gemeinsamkeiten bei der Handlungskomposition – die Abgrenzung zwischen der Novelle und der deutschen Kurzgeschichte. Sie ist vor allem historisch-politisch bedingt. Die deutsche Kurzgeschichte ist trotz erster Veröffentlichungen zeitgenössischer amerikanischer Kurzgeschichten in der Zwischenkriegszeit vor allem ein Produkt der Nachkriegskultur, und zwar zunächst, etwa mit den frühverstorbenen Autoren der sogenannten Trümmerliteratur Wolfgang Borchert (1921 – 1947) und Elisabeth Langgässer (1899 – 1950), in West- und dann erst in Ostdeutschland. Für die DDR-Literatur wären als Autoren der Kurzgeschichte etwa Franz Fühmann (1922 – 1984) und Günter Kunert (* 1929) zu nennen. Schon in der Kurzgeschichte Die Küchenuhr von Wolfgang Borchert, in der ein noch junger Mann auf den Trümmern seiner Existenz sitzt und sich anhand jenes Uhrensymbols der verlorenen Zeit mit seiner unter Kriegstrümmern begrabenen Mutter erinnert, wird die Nähe zur Novelle deutlich. Schließlich ist auch sie durch zentrale Dingsymbole wie die titelgebende Uhr als Zeichen der vergänglichen Zeit und des verloschenen Lebens geprägt. Man könnte überdies – etwa im Hinblick auf die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels (1760 – 1826) (vgl. Hebels Geschichten in: Anekdoten 1998, 318 – 334) – an viele Kurzgeschichtenautoren vor 1945 denken. Das Wort Kurzgeschichte ist jedoch eine Lehnübersetzung des amerikanischen Gattungsbegriffs ,short story‘. Es ist aber mit diesem nicht deckungsgleich, da die deutschsprachige Kurzgeschichte gegen andere etablierte Formen der erzählenden Kurzprosa (z. B. Novelle, Anekdote, Kalendergeschichte) abzugrenzen ist. Nicht alle kurzen Geschichten stehen mithin im kulturgeschichtlichen Kontext der deutschen Kurzgeschichte.

Die Novelle als politisch belastete Gattung

Insbesondere die Dominanz der klassischen (Goethe) und neuklassischen Novelle (z. B. Paul Ernst) verhinderte eine frühe Entwicklung der Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum. Erst nach 1945 setzte eine breitere produktive Rezeption der amerikanischen short story ein, wobei die jungen deutschen Schriftsteller sich vor allem von Ernest Hemingway beeinflussen ließen. Diese Rezeption sollte freilich nicht überwertet werden (vgl. Kilchenmann 1978, 161). Die spezifische Gattungsgeschichte der deutschen Kurzgeschichte hat unter anderem mit der literarischen Situation in Deutschland nach dem Dritten Reich zu tun. In diesem Kontext bot sich mit der Kurzgeschichte eine Gattung an, die unbelastet, ideologisch noch nicht missbraucht war. Wo allerdings unbelastete Gattungen benötigt werden, scheint es in der vielbeschworenen ,Stunde Null‘ auch belastete Gattungen gegeben zu haben. Neben der traditionellen Lyrik – etwa Josef Weinhebers (1892 – 1945) – gehörte auch die Novelle dazu. Viele formal konservative Novellisten tendierten politisch nach rechts, freilich mit unterschiedlicher Intensität. Die auflagenstärksten Novellen der 1930er Jahre stammten von Autoren wie Emil Strauß (1866 – 1960), der trotz fortgeschrittenen Alters Parteimitglied wurde, dem ebenso politisch eindeutig positionierten Wilhelm Schäfer (1868 – 1952) oder dem nationalkonservativen Rudolf G. Binding (1867 – 1938). Das machte die Novelle – bis zu ihrem neuen Durchbruch mit Katz und Maus (1961) von Günter Grass – verdächtig. Die Kurzgeschichte bot sich an, eine neue, unbelastete, unpathetische Sprache zu finden, und übernahm damit eine Pionierfunktion.

Die Ästhetik des ,Kahlschlags‘

Die Kurzgeschichte war in der Nachkriegszeit die Gattung, die den Forderungen nach dem literarischen ,Kahlschlag‘ am ehesten nachkam. Auch die Ästhetik der neuen Kurzgeschichte sollte sich nämlich von der alten Novelle unterscheiden. Der Begriff Kahlschlag bezeichnet zunächst einmal eine gerodete Waldfläche. Im literaturhistorisch-ästhetischen Zusammenhang bedeutet er einen radikalen Neuanfang (vgl. Weyrauch 1977). Der Purismus der Bauhaus-Architektur wie der abstrakten Malerei, die sich zumindest im westlichen Nachkriegsdeutschland endgültig etablierten, sollte eine Entsprechung in der literarischen Ästhetik finden. Kahlschlag und Kurzgeschichte passen infolgedessen zusammen.

Unterschiede zwischen Novelle und Kurzgeschichte

Der Begriff Kurzgeschichte besagt bereits, dass Verkürzung eine zentrale Eigenschaft der Gattung ist. Kürze ist hier nicht nur quantitativ (vom geringen Umfang her), sondern auch qualitativ zu verstehen: Sie meint sprachlich eine Tendenz zur schnörkellosen Schlichtheit, aber auch eine Verdichtung, eine konzentrierte Gestaltung. Formmittel, die die Kurzgeschichte kennzeichnen und von der traditionellen Novelle unterscheiden, sind mithin eine ausschnittweise und fragmentarische Darstellung eines Geschehens sowie seine sachliche sprachliche Darstellung. In der Kurzgeschichte ist das Fragment keine romantische Arabeske, keine nur bruchstückhaft aufgefundene alte Chronik, die durch das dichterische Fantasieren zu einer Chroniknovelle ausgebaut werden kann. Vielmehr steht das Fragment in der Ästhetik des Kahlschlags unter anderem für einen abrupten Erzählanfang, einen unvermittelten Erzähleinsatz (vgl. z. B. die Kurzgeschichten Josef Redings). Wenn wie in einer Kurzgeschichte von Reding Generalvertreter Ellebracht Fahrerflucht begeht, dann ist dazu kein aufwendiger Novellenrahmen vonnöten. Die zeitliche Raffung ist in der Kurzgeschichte noch ausgeprägter als in der Novelle, die sich in den Epochen zwischen Romantik und Realismus ohnehin zur groß angelegten Monumentalnovelle entwickelt hatte. Die Kürze der Kurzgeschichte bedingt demgegenüber, dass sich das Figurenarsenal oft auf zwei bis drei Personen beschränkt. Auch dies unterscheidet die Kurzgeschichte von der Novelle, wenn man z. B. an das vielfältige Binnen- und Rahmenpersonal gründerzeitlicher Monumentalnovellen wie Die Hochzeit des Mönchs (1884) von C. F. Meyer oder zeitgenössischer Novellen wie Im Krebsgang (2002) von Günter Grass denkt. Die puristische Nüchternheit der Kurzgeschichte der Nachkriegszeit setzt sich auch durch knappe Dialoge, einen parataktischen Satzbau und sparsame Attribute von der herkömmlichen deutschen Novellentradition ab. In ihrem nüchternen Erzählstil kann die Welt – und sei es die kleinstädtische Welt nach dem Vorbild Seldwylas – nicht mehr als Ganzes wie etwa in den Novellen Gottfried Kellers beleuchtet werden. Leonie Marx hält hierzu fest: „Allgemein fällt die umrisshaft, skizzierend gehandhabte Behandlung von Erzählraum und Figuren auf. Der Raum spielt gegenüber der Zeit eine geringere Rolle.“ (Marx 1985, 64) Geheimnisvolle Symbolräume, wie sie noch in der Zwischenkriegszeit, etwa in der kurzen Erzählung Brudermord im Altwasser von Georg Britting (1891 – 1964), einer ungeheuren, gleichsam biblischen Untat in der düster-wilden Landschaft eines Donauarms, bis ins Detail ausgemalt werden, fügen sich nicht in die neue Nüchternheit. Für Marx ist auch die Spannung der Kurzgeschichte anders als in der Novelle organisiert, „nämlich andeutend statt ausdeutend […] Im Gegensatz zur Novelle bietet die Kurzgeschichte keine Lösung oder Erklärung“ (Marx 1985, 87). Der Ausschnittcharakter prägt die Gattung der Kurzgeschichte in erzähltechnischer wie in soziologischer Hinsicht.

Gemeinsamkeiten

Die Kurzgeschichte ist oft nur eine literarische Momentaufnahme. Der große Sinnzusammenhang der Einzelgeschichte wie der Geschichte allgemein, die großen weltanschaulichen Erzählungen im Sinne Lyotards, die die Monumentalnovellen Theodor Storms oder Conrad Ferdinand Meyers tatsächlich oder vorgeblich (vgl. Jäger 1998) prägen, sind der Kriegsgeneration nach 1945 abhanden gekommen. So wird in der Kurzgeschichte scheinbar zusammenhanglos meist ein bestimmter Zeitpunkt, ein bestimmter Lebensausschnitt, eine bestimmte Situation dargestellt. Dies unterscheidet die Kurzgeschichte von der Novelle. Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten. Was die Struktur des Erzählens in der Kurzgeschichte betrifft, so entspricht der abrupte Erzähleinstieg nämlich nicht einem abrupten Ende. Anfang und Ende sind folgerichtig nicht gleichartig aufeinander zugeordnet. Das Ende kann durch eine pointierte Schlusssequenz durchaus eine partielle Sinnstiftung enthalten. Dies könnte fast als Fortsetzung des traditionellen ,Fabula docet‘ altitalienischer wie barocker Novellen aufgefasst werden. Der Kulminationspunkt, die Pointe, auf die sich die Kurzgeschichte zubewegt, ist überdies mit dem novellentypischen Wendepunkt vergleichbar, der in der aristotelischen Dramentheorie der Peripetie, dem Umschlag von Nichtwissen in Wissen, einer oft erschreckenden jähen Welterkenntnis, entspricht. Durch diese Grundelemente gibt es also durchaus Parallelen zwischen der Novelle und der Kurzgeschichte. Ironischerweise gibt es diese Gemeinsamkeiten weniger mit den symbolisch überladenen Großnovellen, die die kulturelle Sozialisation der Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit zunächst prägten, sondern mit den kurz und knapp gehaltenen altitalienischen Novellen des Novellino mit ihrer schlichten, nicht-psychologischen Menschendarstellung, die so zumindest den strukturalen gattungsgeschichtlich sehr früh angesiedelten Anfang der Kurzgeschichte im Wortsinn bilden.

Einführung in die Novelle

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