Читать книгу Einführung in die Novelle - Rolf Füllmann - Страница 15
2. Typische Bauformen, Motive und Symbolstrukturen
ОглавлениеDie Stabilität der Gattung Novelle ist nicht nur anhand des Erzählrahmens über die Epochengrenzen hinweg belegbar. Gerade die altitalienischen Muster der Novelle beginnen oft mit einer präzisen Ortsangabe und den Adverbien ,neulich‘ oder ,jüngst‘. Auch Friedrich Schlegel betont im 429. Athenäumsfragment, dass die „Novelle in jedem Punkt ihres Seins und ihres Werdens neu und frappant sein muss“ (Kunz 1968, 38). Die Novelle ist eben auch eine „unerhörte Begebenheit“ (Goethe). Zur Neuigkeit, die auch in alten Chroniken – etwa über einen Michael Kohlhaas bzw. Hans Kohlhase – verborgen sein kann, gesellen sich typische Bauformen hinzu, die wie in einem Setzkasten bei der Novellenkomposition immer wieder verwendet werden können, bis hin zu einer zeitgenössischen Novelle wie Schweigeminute von Siegfried Lenz (2008). Diese Bauformen sind wesentlich in einer altitalienisch-deutschen Novellentradition entstanden und nicht automatisch auf andere Literaturen übertragbar. Vor allem zum angelsächsischen Bereich ergeben sich Differenzen, während andererseits das zuerst auf Französisch erschienene Manuskript von Saragossa des polnischen Schriftstellers Jan Graf Potocki (1761 – 1815) das Muster des Dekamerons bis hin zu einem vielfachen Novellenrahmen ausbaut. Angesichts der Stabilität der Bauformen ist jedoch festzuhalten, dass die Theoretiker und die Novellisten in ihren jeweiligen Epochen trotz gänzlich unterschiedlicher Voraussetzungen zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Dies ist unter anderem ein Ergebnis der oben skizzierten Forschungsdiskussion.
Bauformen der deutschitalienischen Novelle
Die Bauformen bilden die Novelle als erzähltechnisch und symbolisch überstrukturierte Prosa-Gattung aus. Besonders hervorzuheben sind hierbei folgende Epochen übergreifende Besonderheiten und Bausteine, die schon im 16. Jahrhundert in der Poetik des Erzbischofs Bonciani zu finden sind:
Seit der Spätrenaissance gilt die Novellistik Boccaccios als allgemein akzeptiertes Gattungsmuster. Das bedingt seit jeher auch eine gewisse Bevorzugung italienischer Stoffe in der deutschen Novellistik bis hin zu den Italienischen Novellen von Hartmut Lange (1998).
Die Novellengattung besitzt eine wesensbestimmende Bildhaftigkeit, die sich etwa im Fall des Dekamerons in entsprechenden Illustrationen (vgl. König 1989), in der deutschen Novellistik aber in Gattungsbezeichnungen wie ,Nachtstücke‘ (E. T. A. Hoffmann), ,Niederländische Gemälde‘ (Friedrich Hebbel), ,Blumenstück‘ (Adalbert Stifter) oder ,Studie‘ (Gerhart Hauptmann) niederschlägt. Viele Novellenautoren entnehmen der Kunstsphäre Bezeichnungen für Bildformen und übertragen sie dann auf ihr eigenes Erzählwerk. Auch bestimmte Bildmotive (wie etwa der dunkle Schlossraum im flackernden Kerzenschein im ,Nachtstück‘) werden von der Bildenden Kunst auf die Literatur übertragen.
Die Novelle gilt als „Schwester des Dramas“ (vgl. Storm 1881), was in der ursprünglichen Renaissancepoetik der Gattung neben bestimmten tatsächlichen Gattungsspezifika vor allem der Autorität der Tragödientheorie des Aristoteles geschuldet ist. Eine (niedrige) Gattung wie die Novelle sollte sich am (höherrangigen) Drama orientieren. Deshalb war auch die Novellentheorie auf die Dramentheorie ausgerichtet. Novellen werden jedoch nicht nur Dramen nachgebaut. Manchmal entstehen auch Dramen aus Novellen, wie z. B. im Fall Shakespeares oder von Theodor Körners Toni, der den Stoff von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811) auf die Bühnenbretter brachte. Auch die zahlreichen Verfilmungen der Novellen von Thomas Mann sind solche Dramatisierungen.
An die Dramenstruktur knüpft die zentrale Stellung des Wendepunkts oder Umschlags (Peripetie) in der Novellenhandlung an. Dies ist auch in Boncianis Renaissancepoetik wie später beim Romantiker Ludwig Tieck verbunden mit dem Element des Wunderbaren. Die Schicksalswende der Novelle führt die Handlung in andere Sphären.
Hervorgehoben wird schon 1574 bei Bonciani die gattungsspezifische Bedeutung eines Zeichens, das später als Zentralmotiv fungiert, wobei hier nicht – wie bei Paul Heyse – der Falke Boccaccios, sondern z. B. das Ringmotiv oder körperliche Merkmale als handlungsbestimmende Kennzeichen genannt werden. Diese Bausteine bewegen oft die Handlung vorwärts, indem z. B. Menschen den Ring besitzen wollen und so zu Aktionen motiviert werden.
Seit jeher gilt die Novelle als tendenziell bürgerliche Gattung mit handelnden Personen mittleren Standes. Freilich: Die novellenspezifische Konzentration auf das (Früh-)Bürgertum ist im 16. Jahrhundert eben kein Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins wie im 19. Jahrhundert.
Zusätzlich ist der strukturierende, oft in beschaulichem Milieu angesiedelte Novellenrahmen hervorzuheben, „jene Form gesellschaftlicher Bukolik, der in den romanischen Ländern eine so reiche Auswirkung beschieden war“ (Erich Auerbach 1970, 5). Novellen werden oft in geselligem Rahmen erzählt, sei es in Gesellschaften auf dem Land, im Salon oder im Bahnabteil. Nicht der unbekannte Novellentheoretiker Bonciani, sondern der bekannte Novellenautor Boccaccio hat diesen Baustein in der Renaissanceepoche als Erster eingesetzt.
Der Rahmen als traditioneller Baustein
Der Novellenrahmen ist eigentlich schon durch die Alltagssituation des Erzählens festgelegt und auf diese Weise naheliegend. Erst später kommen der schriftliche Bericht, beispielsweise in der Chroniknovelle, und im Zuge der Etablierung der wissenschaftlichen Psychologie die persönliche Erinnerung hinzu, sodass sich die Erinnerungsnovelle (z. B. Theodor Storms Immensee) ausbildet. Vom Heptameron der Margarete von Navarra (1558) über Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und Wielands Hexameron von Rosenhain (1803 – 1805), von Gottfried Kellers erstem Band der Züricher Novellen (1876 – 77) und Das Sinngedicht (1881) und von Werner Bergengruens Das Buch Rodenstein (1927) bis hin zu Im Krebsgang (2002) von Günter Grass reicht die Reihe der Adepten des gerahmten Dekamerons.
Der Vorbildcharakter des Dekamerons
Im Rahmen wird denn auch oft gerechtfertigt, warum eine bestimmte Novelle erzählt wird und warum nicht. Als Beispiel für eine tragische Novelle gilt etwa die unerhörte Geschichte der Ghismonda, deren eifersüchtiger Vater ihr das Herz ihres heimlichen Liebhabers servieren lässt (Dekameron IV, 1). Das Handlungsschema jener mit dem Herzmaere des Konrad von Würzburg (ca. 1220 – 1287) inhaltlich verwandten mittelalterlich-grausamen Novelle verläuft wie folgt: „Tancredi, Fürst von Salerno, tötet den Geliebten seiner Tochter und schickt ihr sein Herz in einer goldenen Schale; sie aber gießt vergiftetes Wasser darüber und stirbt“ (Boccaccio 1961, 216). Im Erzählrahmen Boccaccios wird die ungewöhnlich grausame Handlung durch eine Kontrastästhetik des Erzählers der Novelle gerechtfertigt: „Vielleicht tat er es, um die Heiterkeit der vorigen Tage ein wenig auszugleichen.“ (ebd.) Boccaccio liefert mithin nicht nur das Modell für den Novellenrahmen, sondern auch ein frühes Beispiel für eine blutige Gruselnovelle. Die Autorität Boccaccios ist wiederum ein Spezifikum der Novellentheorie seit dem 16. Jahrhundert. Die Belegstellen aus dem Dekameron sind nämlich schon im Traktat Boncianis ein modellbildendes Leitmotiv. Allein achtundzwanzig „jene[r] hundert Urnovellen, welchen das Programm der Novellistik gleichsam auf einem Spruchband aus dem Halse hängt“ (Riehl, in: Polheim 1970, 31), werden in Boncianis knappem Text genannt, zitiert und wiedergegeben. Diese Konzentration auf Boccaccio, den Meister aus dem toskanischen Certaldo, und seine „verschwenderische Fülle des Faktischen“ (A. W. Schlegel, in: Polheim 1970, 19) haben die Ausführungen Boncianis mit den viel späteren Ansätzen von Friedrich und August Wilhelm Schlegel und anderen deutschen Novellentheoretikern gemein. Auch den deutschen Theoretikern ist „Boccaz“ (so wird er von F. Schlegel genannt) Jahrhunderte später der Leitstern nicht allein der deutschen Novellistik, denn „in dem Dekamerone des Boccaccio […] nahm die Dichtart ihren eigenen Gang, worin viel Verstand und feine Ausbildung des Einzelnen ist“ (A. W. Schlegel, in: Polheim 1970, 15). Die altitalienische Novelle erscheint mithin als das Modell für die deutsche Novelle. Schließlich ist „selbst der aristotelische Gesetzgeber der Novelle, Francesco Bonciani, in seiner viel späteren Zeit doch in keinem Stück theoretisch über seine Praxis“ (Ernst 1941, 281) hinausgekommen. Noch heute ist für Hans-Jörg Neuschäfer Boccaccio der, „der das Genre der Novelle gleichsam erfunden hat, indem er das Geschichtenerzählen gleichsam auf eine neue Basis stellte“ (Neuschäfer 2006, 11). Diesen Vorlagen- bzw. Vorbildcharakter hatte die altitalienische Novelle seit der Zeit des deutschen Frühhumanismus in der Literatur selbst. Seit der Goethezeit wurde diese Musterfunktion dann auch theoretisch und philosophisch untermauert, wobei stets das Problem aufscheint, dass es die romanische ,novella‘ ebenso wenig gibt wie die deutsche Novelle.
Zwischen Novellentheorie und Novellenschaffen tut sich traditionell ein Graben auf. So ist gerade im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der romantischen Märchennovelle und der gründerzeitlichen Monumentalnovelle, eher die Theorie als die Praxis der novellistischen Literaturproduktion an italienischer Kürze und Klarheit orientiert. Was nützt nun aber diese Orientierung an Boccaccio für die Novelleninterpretation und -definition? Zunächst haben die Novellisten durch Boccaccio einige Gattungsbausteine erhalten; neben dem ausbaufähigen Erzählrahmen ist unter anderem das besagte novellistische Dreieck, das zumeist von zwei Männern und einer Frau gebildet wird, zu nennen, welches selbst in der grausamen Herznovelle variiert wird. Auch Boccaccios humoristische Figuren wurden zumindest in der italienischen Novellistik bis hin zu Luigi Pirandellos (1867 – 1936) Novellen für ein Jahr gerne übernommen und weiterentwickelt.
Novellenwelt und Bildwelt
Nicht nur das Personal, auch die Bildhaftigkeit der Novelle geht auf Boccaccio zurück. Das Bild ist ein weiterer möglicher Baustein der Novelle, wie Novellentitel wie Das Bild des Kaisers von Wilhelm Hauff (1802 – 1827) oder Die Gemälde von Ludwig Tieck (1773 – 1853) belegen. Auch das titelgebende Zentralmotiv und Dingsymbol des Amuletts ist bei Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898) im Grunde ein Marienbild. Bildern wohnt eine große Zeichenhaftigkeit, Symbolkraft bis hin zur Heilkraft inne. Das Dekameron selbst wurde schon früh in Frankreich illustriert. Im Auftrag des Burgunderherzogs Johann Ohnefurcht wurde das Werk ab 1414 übersetzt und präzise bebildert. Eberhard König betont im Kontext dieser ersten „Bilderhandschrift“, dass „Illustration […] immer mit dem Schreiben verwandt“ ist: „sie setzt Begriffe und Personen in Bildformen um und neigt dabei zur Reihung“. Wie Drama und Novelle neigt die Illustration zur „Einheit des Bildes in Raum, Licht und Gestik“, was viel später etwa Novellen, die als ,Nachtstücke‘ bezeichnet werden, belegen. Das Drama, aber etwa auch die Ehebruchs-Novellistik Boccaccios gewähren wie die Bilderhandschrift einen „fragmentierte[n] Blick in […] bühnenhafte Innenräume“ (König 1989, 35), die auch intime Verstecke sein können. Dieses intermediale, verschiedene Medien wie Text und Bild verbindende kulturgeschichtliche Faktum untermauert einen weiteren Grundbaustein der Novelle zwischen Boccaccio, der altitalienischen Novellentheorie des 16. Jahrhunderts und der deutschen Novellenbetrachtung des 19. Jahrhunderts: die (Sinn-)Bildhaftigkeit der Gattung, die mit ihrer Anschaulichkeit und mit ihrer komprimierten Form in Einklang steht. Der altitalienische Gelehrte Bonciani sagt 1574 hierzu: „Was Nachbildung ist, wollen wir uns klar machen, an dem Beispiel eines Gemäldes, welches die Eroberung von Carthago darstellt. Ein solches Gemälde kann man nicht Nachbildung nennen, sondern wir müssen sagen: es existiert eine Beziehung zwischen dem Ding, das nachgebildet wird und dem Ding, das nachbildet; diese ergibt sich aus der Ähnlichkeit beider, und das ist im eigentlichen Sinne die Nachbildung.“ (Bonciani Typoskript, 8) Was bei Bonciani ein novellistisch relevantes Gemälde eines historischen Wendepunkts ist, ist in der deutschen Novellenpoetik des 19. Jahrhunderts z. B. für Wilhelm Heinrich Riehl, den Schöpfer Kulturgeschichtlicher Novellen, der „echte Holzschnitt“ (zit. nach Polheim 1970, 127), der tatsächlich viele Novellenausgaben schmückt. Die bildlich fassbare, relativ einfache Handlung prägt die Novelle. Diese bildliche Fasslichkeit fügt sich zudem zur traditionellen Anforderung, dass man die Handlung einer Novelle in einem Satz zusammenfassen sollte. Friedrich Hebbel benennt seine Novellen nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus soziologischen Gründen nach Bildern: „Ich habe ihnen den Titel: niederländische Gemälde vorgesetzt. Dadurch wollte ich andeuten, dass sie aus dem Leben, und zwar großenteils aus dem Leben der niederen Stände geschöpft sind.“ (Polheim 1970, 98) Noch eine 2001 veröffentlichte Italiennovelle Josef Winklers, die das römische Alltagsleben illustriert, trägt den Titel Natura morta, zu Deutsch also Stillleben. In der Orientierung an Sinn-Bildern wie an der Malerei zeigt sich ein weiterer Baustein, aber auch ein weiteres Motivfeld, auf das Novellenautoren gern zurückgreifen. Ob die Novelle selbst als Bild fungiert oder eines zum Thema macht: Die bildhafte Prägnanz ist ein wesentliches Gattungsmerkmal.
Die Novelle als Schwester des Dramas
Ein weiteres Merkmal der Novelle ist die bedeutende Verschwisterung mit dem Drama. Im Hinblick auf Bonciani und seine aristotelische Novellentheorie ist das bekannte Wort Theodor Storms von der seinerzeit aktuellen Novelle als Schwester des Dramas, zumindest bezüglich der Einschränkung auf seine Zeit, falsch: „die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens.“ (Storm 1881, in: Polheim 1970, 119). Schon die altitalienische Novellenpoetik orientiert sich am Drama als Gattung mit hoher Dignität. Sie zeigt sich im Regelsystem Boncianis jedoch auch im Unterschied. Etwa in der Tatsache, dass Tragödie und Komödie nach poetologischer Tradition ihre Handlung auf vierundzwanzig Stunden beschränken müssen, die Novelle aber in ihrer Zeitgestaltung bei Weitem freier ist: „Die Novelle aber, welche nicht eine solche Zeit vorgeschrieben hat, kann eine Handlung, die sich durch zwei oder drei Jahre hindurch zieht, erzählen, wie sie will.“ (Bonciani Typoskript, 10) Selbst die strenge aristotelische Renaissancepoetik garantiert der Novelle demnach ihre Freiheiten.
Der Wendepunkt
Dazu gehört, dass „die Novelle wunderbarere Dinge erzählen wie die Komödie darzustellen vermag“ (Bonciani Typoskript, 11), was in der Romantik auch bei Tieck anklingt. Tieck verbindet den novellentypischen Wendepunkt mit dem Wunderbaren im Alltag: „Diese Wendung der Geschichte […] wird sich in der Phantasie des Lesers umso fester einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter anderen Umständen wieder alltäglich werden könnte.“ (Kunz 1968, 53) Trotz aller Gestaltungsfreiheit gibt es also ein gemeinsames Strukturmerkmal zwischen Novellistik und Dramatik: die Peripetie. Die Novelle muss nach Boncianis Regelwerk den Wendepunkt auch deshalb übernehmen, weil die Dramatik die bestimmende Gattung ist. Später geht diese regelpoetische Rechtfertigung verloren; das Grundelement selbst aber verbleibt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts betont beispielsweise A. W. Schlegel für die deutsche Novellenpoetik, dass „die Novelle entscheidender Wendepunkte“ (Polheim 1970, 18) bedürfe, „so dass die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen fallen, und dies Bedürfnis hat auch das Drama“ (ebd.). Auch Ludwig Tieck sieht „jenen auffallenden Wendepunkt […], der sie von allen Gattungen der Erzählung unterscheidet“ (Polheim 1970, 76), als prägend für die Form der Novelle an. Die „Handlungen“, die „für die Novelle geeignet sind“, will Bonciani „wie Aristoteles einteilen in einfache und verwickelte. Einfache nenne ich die, bei denen der Umschlag erfolgt ohne Erkennung und jenen großen Umschwung, der Peripetie heißt, und verwickelt die, welche Erkennung und Peripetie oder beides zugleich haben“ (Bonciani Typoskript, 14). Diese „Erkennung ist nach Aristoteles ein Übergang vom Nichtwissen zum Wissen, der in verschiedener Weise vor sich gehen kann, weil man eine Tat oder eine Person erkennen kann; und nicht nur Menschen, sondern auch unbelebte Dinge“ (ebd.). Wenn z. B. die Marquise von O… in Heinrich von Kleists (1777 – 1811) gleichnamiger Novelle erkennt, dass der Offizier Graf F., der sie bei der Eroberung einer Zitadelle anscheinend vor der Vergewaltigung durch seine Soldaten rettete, sie anschließend selbst missbraucht hat (was ihr durch eine Ohnmacht entfallen war), so ist dies gleichzeitig der Wendepunkt der Novelle wie der jähe Umschlag von Nichtwissen in Wissen: Der rettende Engel war ein Teufel.
Zentralmotiv und Dingsymbol
Das, was heute Zentralmotiv genannt wird, klingt bereits in der Entstehungszeit der Gattung als novellentypisches Zeichen an. Es führt oft zum besagten Wendepunkt „der Erkennung“ (Bonciani Typoskript, 14). Das Kennzeichen ist schon bei Bonciani ein die Novellenhandlung motivierendes Motiv: „Kennzeichen gibt es verschiedene Arten, nämlich solche, die von uns getrennt werden können, wie eine Kette, ein Ring und solche, die untrennbar mit unserer Person verbunden sind; diese letzteren sind entweder einer ganzen Familie eigentümlich, oder einem Einzelnen; und in letzterem Fall entweder angeboren oder erworben. Alle diese Kennzeichen kann der Novellist anwenden.“ (ebd.) Über diese Zeichen, seien es Körpermerkmale oder Dinge, können sich Novellenfiguren wiedererkennen. In der Novelle Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848) erkennt z. B. der Grundherr an der Narbe eines toten Selbstmörders, dass dieser der flüchtige Verbrecher Friedrich Mergel und nicht sein verwandter Doppelgänger ist, für den er gehalten wurde. Durch diesen Umschlag der Erkenntnis muss das vorhergehende Geschehen neu gedeutet werden. In der deutschen Novellenpoetik des 20. Jahrhunderts wird ein solches Zeichen zu einem hochkomplexen Symbol ausgebaut, das nach Jürgen Link als Kollektivsymbol bezeichnet werden kann. Um den Unterschied zwischen dem Zeichen und dem Symbol zu verstehen, hilft eine Erläuterung von Hermann Pongs, den Symbolbedarf der deutschen Novelle im Unterschied zur altitalienischen Novelle betreffend: Die deutsche Novelle „gibt Anlass, eine Fülle symbolischer Formen auszubreiten in der Polarität des geschlossenen und offenen Baus […]. Doch wird in der deutschen Novelle im Gegensatz zur romanischen Urform das bestimmende Dingsymbol […] mit seiner konstruktiven Klarheit mehr und mehr hineingenommen in das Ganze einer symbolisch aufgefassten Existenz.“ (Pongs 1969, 2)
Heyse: die Falkennovelle
Wegen eines Zeichens hat eine der vielen Novellen des Dekamerons heute noch einen besonderen Status, zumindest in der deutschen Literaturgeschichte. Es handelt sich um die sogenannte Falkennovelle, in der ausnahmsweise Adlige und nicht – wie so oft in der Novellistik – Bürger im Mittelpunkt stehen. Der deutsche Sonderstatus dieser Novelle geht auf den Novellenautor Paul Heyse (1830 – 1914) zurück. Heyse betont 1871 im Vorwort des von ihm herausgegebenen Deutschen Novellenschatz, dass die Novelle nicht ein „Kultur- und Gesellschaftsbild im Großen“, sondern ein „Weltbild im Kleinen entfaltet“. Das Bildliche steht bei Heyse wie bei vielen anderen Novellisten über dem Abstrakten. „Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereignis, nicht die sich in ihm widerspiegelende Weltanschauung, sind hier die Hauptsache.“ (Kunz 1968, 67) Die Novelle erscheint Heyse im Jahrhundert naturwissenschaftlicher Empirie als „isoliertes Experiment“ im Gegensatz zur romanhaften Breite:
„Eine starke Silhouette – um nochmals einen Ausdruck der Malersprache zu Hülfe zu nehmen – dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinne Novelle nennen, nicht fehlen, wir glauben, die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen, ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen, in der Weise, wie die alten Italiener ihren Novellen kurze Überschriften gaben, die dem Kundigen schon im Keim den spezifischen Wert des Themas verraten. Wer, der im Boccaz die Inhaltsangabe der neunten Novelle des fünften Tages liest: ,Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und behält nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zufällig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er getan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Vermögens macht‘ – […] Wer, der diese einfachen Grundzüge einmal überblickt hat, wird die kleine Fabel je wieder vergessen, zumal wenn er sie nun mit der ganzen Anmut jenes im Ernst wie in der Schalkheit unvergleichlichen Meisters vorgetragen findet.“ (Kunz 1968, 68)
Heyse greift hier – was die Erinnerbarkeit der Handlung als Fabel betrifft – auch auf die aristotelische Poetik zurück.
Falke und Novellenhandwerk
Eine handwerklich solide, klare Konstruktion, vergleichbar einem gut sichtbaren Gebälk, vorzugweise um ein Motiv, einen Falken, herum, kennzeichnet das Novellenmuster. Stets steht der sogenannte Falke im Mittelpunkt, bei Heyse noch als ein gleichsam reales Strukturelement. Später wird er bei Hermann Pongs oder bei Johannes Klein zum Dingsymbol bzw. Leitmotiv erhoben.
Spiel mit Formen und Inhalten
Das der Falknerei entnommene Zentralmotiv einer Novelle ist formal ein Strukturmerkmal, inhaltlich jedoch fast immer ein Symbol. Unter den vielen Versatzstücken, die eine Novelle konstituieren, ist es vielleicht das bedeutendste. Alle oben aufgeführten Elemente der Form wie des Inhalts haben aber eines gemeinsam: Es handelt sich stets um hinreichende, nie um notwendige Bausteine einer Novelle.
Umbauten der novellistischen Bausteine sind gattungsimmanent. Der Novellist kann sich ihrer bedienen, indem er frei aus ihnen auswählt. Dies unterscheidet die Novelle von in Reim, Versmaß und Strophenform klar fixierten Gedichtgattungen. Von den anderen Prosaformen wiederum unterscheidet sich die Novelle durch das große Repertoire an formalen Versatzstücken, aber auch inhaltlichen Motiven und Symbolen, auf die zurückgegriffen werden kann. Entgegen der Genieästhetik, nach der ein Autor nur aus sich schöpfen soll, ist im Bereich der Novellistik das Erzählen nach Modellen und Mustern kein Ausweis mangelnden Talents. Im Gegenteil: Das Spiel mit der Tradition prägt das Novellieren. Unter anderem deshalb ist die Novelle in der Postmoderne, die eine Skepsis gegen die moderne Avantgarde kultiviert, wieder eine beliebte Gattung geworden. Der bittere Ernst des konservativen Novellenschaffens ist hier freilich einer spielerischen Ironie im Umgang mit den ererbten Musterbüchern gewichen. Die Meisterschaft des Novellisten, die in gängigen Bezeichnungen wie Meisternovellist, Meisternovelle und -erzählung, Novellenhandwerk etc. zum Ausdruck kommt, legt das Kunsthandwerkliche der Gattung nahe. Wer sich für die Bezeichnung Novelle entscheidet, bekennt, dass er nicht gegen, sondern mit der Tradition erzählen will.