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1. Begriffsbestimmung der Novelle im deutschsprachigen Raum

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Der Ursprung des Novellenbegriffs

Der Novellenbegriff ist ein Lehnwort, das erst am Ende des 17. Jahrhunderts den deutschen Sprachraum erreichte. Wolfgang Rath hält hierzu fest: „1692 bis 1697 erschienen in Frankfurt und Gotha Novellen aus der gelehrten und curiosen Welt“ (Rath 2008, 81). Das Wort Novelle, das zunächst ,Neue Begebenheit‘ oder ,Nachricht‘ bedeutet, tritt in der romanischen Welt recht früh als Bezeichnung von Kurzerzählungen auf, nicht nur im Italienischen des Mittelalters, sondern auch im Französischen und Provenzalischen, z. B. bei Raimon Vidal (um 1213). Die später sowohl von Paul Heyse (1830 – 1914) als auch von Paul Ernst (1866 – 1933) zu Novellen verarbeiteten Lebensgeschichten der provenzalischen Troubadoure, von denen viele um 1230 von Uc de Saint Circ in Italien verfasst wurden, gelten als frühe Vorläufer der Novellistik. Das Italienische gebraucht den Begriff der ,novella‘ denn auch als frühe Übernahme aus dem Provenzalischen. Erste Nachweise bei italienischen Poeten finden sich unter anderem bei Francesco da Barberino (1264 – 1348) und bei Giovanno Boccaccio (1313 – 1375) selbst (vgl. Krömer 1973, 16), wobei man annehmen kann, dass der Begriff schon Jahrzehnte vorher im Gebrauch war.

Boccaccio

Boccaccio spielte hierzulande wie südlich der Alpen früh eine zentrale Rolle in der Geschichte der Gattung Novelle. Die letzte Novelle seiner Novellensammlung Dekameron (X, 10), „die Geschichte von Griselidis“, wurde „schon 1432 von dem Nürnberger Kartäusermönch Erhart Grosz […] in deutsche Prosa gebracht“ (Heinzle 1981, 27). Die deutsche Publikationsgeschichte des Dekamerons schließt sich mithin chronologisch eng an die italienische an. „Nur kurze Zeit nach dem Venezianer Druck […] des italienischen Originals (1471) erscheint im Jahre 1472 oder 1473 in Ulm die erste Gesamtübersetzung“ (ebd.) durch einen Gelehrten mit dem Pseudonym Arigo.

Der populäre Novellenbegriff

Was hat es nun mit dieser Gattung auf sich? In der komischen Oper bzw. Operette Boccaccio von Franz von Suppé (1879), die im Florenz des 14. Jahrhunderts angesiedelt ist, bietet ein öffentlicher Buchverkäufer „neueste Novellen“, angeblich „aus den besten Quellen“, feil. Der Chor, das heißt das städtische Publikum der Renaissance, antwortet sogleich: „Novellen? Schnell hierher!“ (Suppé 1941, 10). Die Novelle scheint demnach den Librettisten Camillo Walzel und Richard Genée in der Gründerzeit, die mit Theodor Storm und Gottfried Keller auch eine Hochzeit der Novelle war, eine sehr publikumswirksame Gattung zu sein. Der Kolporteur preist anschließend Werke von verschiedenen Novellisten der Renaissance (Sacchetti, Fiorentino) an, um dann zum Meister der Novelle (und zum Titelhelden des Musikdramas) selbst zu kommen: „Doch mit niemand zu vergleichen/Und von keinem zu erreichen/Unterhält und stimmt uns froh/Giovanni Boccaccio!“ (ebd.). Die Novelle ist demnach eine vor allem unterhaltende Gattung. Dies ist eine Einschränkung, die bis in die Goethezeit, in die Zeit der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), gilt und erst durch die Schicksalsnovelle in der Nachfolge Kleists relativiert wurde. Interessant erscheint dann aber bei Suppé auch eine geschlechtsspezifische Reaktion auf der Bühne: Während die Frauen mit dem Ausruf: „Ganz verlockend, interessant!“ auf die Ankündigung der neuesten Novellen Boccaccios reagieren, urteilen die Männer: „Nichts als Lüge, Schmach und Schand!“ (ebd.).

Novellenbegriff und Neuigkeit

Die Novelle erscheint also als Gattung des ,Unerhörten‘, des Skandals und als vornehmlich weibliche Gattung (vgl. Schlaffer). Das Publikum der vornehmen Gesellschaft in der Rahmenhandlung von Boccaccios Dekameron (1349 – 1353) wurde folglich auch von ,Hohen Frauen‘ dominiert. In jedem Fall jedoch präsentiert sich die Novelle dem Theater- wie dem Lesepublikum des 19. Jahrhunderts als romanische, italienische Gattung. Für den Kunstgelehrten Karl Friedrich Rumohr (1785 – 1843) stand folglich fest, dass die „Novelle, in ihrem ursprünglichen Verstande genommen, eine Form der Erzählung ist, welche ausschließlich der italienischen Literatur angehört. Der Name ist so alt, wie die Gattung selbst, und so bezeichnend als möglich. Novella nämlich, gleichwie das Abgeleitete: novellare und novellatore, kommt von nuova, Neuigkeit, Nachricht […] Ursprünglich bezeichnete es also: Erzählung von den Ereignissen des Tages“ (Polheim 1970, 46). Die Verbindung zwischen neuester Nachricht und Novelle wird allein darin deutlich, dass diejenigen altitalienischen Novellen, die zeitgenössische Begebenheiten widerspiegeln, oft mit präzisen Orts- und Datumsangaben eingeleitet werden. Auch noch im deutschen Barock gilt ,Zeitung‘ als Synonym für Novelle (vgl. Breuer 2001a, 203). Den Begriff selbst gab es damals in der deutschen Poetik noch gar nicht, die Gattung – spätestens seit den Dekameron-Übertragungen und den Druckausgaben des 15. Jahrhunderts – durchaus.

Novellenbegriff und Novellenideal

Was ist dann aber eine Novelle mehr als eine bloße Erzählung mittlerer Länge, wie der Schweizer Germanist Emil Staiger (vgl. Polheim 1965, 9) sie definiert haben soll? Die Antwort könnte sein: Sie soll etwas anderes als eine bloße Erzählung sein. Die Novelle setzt sich von anderen Prosaformen ab, indem sie als Erzähltext bestimmte feste Strukturen haben soll. Sie soll z. B. einen festen Rahmen haben. Ihr Erzählen soll nicht nur ein Fluss, sondern durchkomponiert sein. Die Novelle soll sich nicht in Schilderungen ergehen, sondern eine straffe Handlung mit einem oder mehreren Wendepunkten haben. Sie soll des Weiteren durch bestimmte, sich wiederholende Themen oder Motive strukturiert sein. Ob das, was zumeist von einem Autor, bisweilen aber auch erst im Nachhinein von einem klugen Verleger als Novelle tituliert wird, diesen Kriterien gerecht wird, ist eine ganz andere Frage. Der Wille des Verfassers oder der Verfasserin zur Novelle und damit zu einer alten, romanisch geprägten Tradition definiert die Gattung wesentlich.

Der Novellenbegriff als ,metaphysisches‘ Ideal

Auch die Novellentheorie bezieht sich immer mehr auf das Sollen statt auf das empirische Sein, das eben ist ihr metaphysisches Spezifikum. Die Kriterien für die Novellendefinition sind historisch gewachsen, werden aber – vor allem in der deutschsprachigen Novellendiskussion – wie platonische Ideen behandelt. Das bis auf einige wichtige Ausnahmen genuin deutsche Phänomen der Novellentheorie erklärte sich im 19. Jahrhundert der Wiener Populärphilosoph Ernst von Feuchtersleben (1806 – 1849) wie folgt: „Nun ist es aber uns Deutschen eigen, nichts genießen zu können, was wir nicht, wenigstens nebenher, bedenken; ja, das Bedenken der Genüsse ist uns eigentlich der Genuss der Genüsse. So haben wir mit einer Metaphysik der Sitten begonnen […] und was wäre an einer Metaphysik der Novelle Gewagtes?“ (Polheim 1970, 106). Wenn aber die Novelle seit der Goethezeit mit solchen Ansprüchen belegt ist, dann hat dies auch Auswirkungen auf die sogenannten Novellisten. Sie sind einem anderen Anforderungsprofil ausgesetzt als die Verfasser anderer Prosagattungen. Da die Novelle als anspruchsvollere Gattung gilt, liegt auch ein Ringen um die richtige Novellenform nahe. So kann es nicht verwundern, dass es z. B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Novellisten Theodor Storm, Paul Heyse und Gottfried Keller einen umfangreichen Briefwechsel gibt, in dem das Für und Wider der rechten Novellenform und einzelne Werke intensiv diskutiert werden. Obwohl die Novelle in der traditionellen Gattungstheorie von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) bis Julius Caesar Scaliger (1484 – 1558) nicht vorkommt, ist ihr zumindest im deutschsprachigen Raum eine gewisse Klassizität zu eigen.

Die Novelle als konservative Gattung

Dies führte dann in der Moderne, im 20. Jahrhundert, zur Einordnung der Novelle als konservativer Gattung (Kiefer 2004, 89ff.). Wer in der Moderne Novellen schrieb, wollte einerseits Klassisches bewahren wie die formal, aber z. T. auch politisch konservativen Autoren Paul Ernst, Emil Strauß, Rudolf G. Binding auf der einen sowie Thomas Mann und Stefan Zweig auf der anderen Seite. Letztere gehörten gleichsam dem ,linken Flügel‘ des novellenschreibenden Bildungsbürgertums an. Eine andere Gruppe von Novellisten wollte einen ironischen, d. h. sich verstellenden Gegenentwurf zur Tradition anhand tradierter Formvorgaben entwerfen, wie z. B. die Expressionisten Georg Heym und Alfred Döblin sowie später der Döblin-Verehrer Günter Grass. Erst in der Postmoderne (vgl. Scherpe 1991) löst sich dieses Paradigma mit neuen Tendenzen der Novellistik seit den 1970er Jahren auf.

Die Vielgestaltigkeit der Novelle

Wie ist mithin die Novelle auf den Begriff zu bringen? Was sind die typischen Inhalte, was ist die typische Form einer Novelle? Zunächst einmal kann als typisch herausgestellt werden, dass Novellisten das Typische nicht scheuen. Die Novelle muss nicht originell sein. Die Auswahl des Novellenbegriffs für eine Prosaerzählung bedeutet vielmehr: ,Seht her, ich ordne mich in eine seit dem Spätmittelalter überlieferte Gattungstradition ein. Ich will alte Formen nicht umstürzen, ich will mich ihrer entweder ernsthaft oder auch ironisch bedienen, auch um mein handwerkliches Können als Schrifthersteller unter Beweis zu stellen.‘ Dies ist ein für Prosatexte eher ungewöhnlicher regelpoetischer Ansatz, den man sonst eher bei den Verfassern traditioneller lyrischer Gattungen, etwa von Sonetten, antrifft. Die Nachbarschaft von Novelle und Sonett zeigt sich überdies auch darin, dass beide Gattungen im Italien des Hochmittelalters entstanden sind und Sonett-Parodien, wörtlich also persiflierende Gegengesänge, ebenso häufig anzutreffen sind wie Novellenparodien, z. B. die unerhörte Novelle Die Erfindung der Currywurst von Uwe Timm (1993, vgl. Steinecke 1995). Inhaltlich gehört zur Tradition der Gattung oft die stoffliche Konzentration auf die Liebeskonstellation des novellistischen Dreiecks, bei dem seit der altitalienischen Novellistik meist der Konflikt eines Mannes zwischen zwei Frauen oder der Kampf zweier Liebender um eine Geliebte vorherrschen. Diese Liebesnovellen können sich im Fall einer tragischen Verwicklung zu Schicksalsnovellen ausweiten. Schauplatz dieses Geschehens ist meist das Haus, das als intimes Versteck – etwa für Ehebruch – dienen kann (vgl. Kosofsky Sedgwick 2003). Neben diese Konstellation tritt die historische Dimension des Novelleninhalts, die jene nur ergänzen kann. Schon das Haus ist oft mit Erinnerungen, die auch die erzählten oder schriftlich fixierten Erfahrungen mehrerer Generationen beinhalten können, behaftet. Das Gedächtnis formt, wenn es allein als innerseelischer Vorgang dargestellt wird, statt der Gesprächs- oder Dialognovelle die Erinnerungsnovelle, die im Fall von Kindheitserinnerungen zur Kindernovelle bzw. Familiennovelle werden kann. Das Neue, das wortgeschichtlich (etymologisch) in der Novelle steckt, kann also durchaus auch das Neue von gestern sein. Dann erscheint die Novelle als Historiennovelle. Das Gestern, die in der Novellengeschichte verborgene Geschichte, ist tiefer geschichtet, wenn das Haus alt ist, noch tiefer, wenn es sich um ein adliges Haus bzw. ein Schloss handelt. So entwickelt sich der Begriff der Schlossnovelle. In Schlössern als Erinnerungsräumen wohnt häufig der alte Geist ihrer verschwundenen Bewohner mitsamt den vergangenen Schicksalen und Lieben; bisweilen ist dieser Geist personifiziert. Dann haben wir es mit dem Unterbegriff der Gespensternovelle (in gesteigerter Form Schauer- oder Gruselnovelle) zu tun.

Das Novellenschicksal kann auch mit Verbrechen zusammenhängen, deren Geheimnis gelüftet werden muss. In diesem Fall spricht man von einer Kriminalnovelle. Nicht nur in Schlössern, auch in der Kleinwelt des Dorfes können sich Schicksalsnovellen ereignen: Diese Handlungen werden dann als Dorfnovelle bezeichnet. Weil in der dörflichen Umgebung die Nähe zur Natur naheliegt, ist diese oft auch Schauplatz von Tiernovellen, in denen die Tiercharakteristika oft als symbolisch bzw. metaphorisch für menschliche Eigenschaften aufgefasst werden. Alle diese Stofffelder oder Diskurse können miteinander verwoben werden. Die Novelle hat immer eine interdiskursive Struktur (vgl. Wehle 1984; Kocher 2005). Die diversen Diskurse bringen die Novelle stofflich auf einen oder mehrere Begriffe.

Zwischen Tradition und Originalität

Formal ergeben sich die Novellenkriterien, die ebenso wie die stofflichen Kriterien nicht zwingend sind, sondern Angebote aus dem Repertoire der Novellentradition darstellen, aus dem mündlichen, aber auch schriftlichen Erzählen, das für den Novellenbegriff konstitutiv ist. Das Novellistische, also das Neueste oder das Neue von gestern, wird im täglichen Leben in einer bestimmten Situation, in einem lebensweltlichen Rahmen, erzählt (vgl. Beck 2008). Von dieser Alltagssituation ist der Weg zum Novellenrahmen als Textmerkmal nicht weit.

Das Erzählen braucht, wenn es fesselnd sein soll, Spannungskurven und Wendepunkte. Man hört gerne Unerhörtes, Dramatisches – insofern ist also im Begriff des novellistischen Erzählens die Nähe zum Drama bereits angelegt (vgl. Storm 1881). Die Dramenstrukturen werden folgerichtig auch gerne auf die Novelle übertragen. Das Unerhörte muss konzentriert dargebracht werden, um novellistisch zu sein. Die beste Konzentration von Sinnzusammenhängen bietet das novellentypische Symbol, das, wenn es die Handlung strukturiert, die Funktion eines Zentral- oder Leitmotivs hat. Die Novelle ist als Gattung nicht in sich abgeschlossen wie das Sonett oder die klassische fünfaktige Tragödie. Unter Zuhilfenahme von Bauelementen, die schon in der Renaissance entwickelt und benannt wurden, wird mit jeder neuen Novelle an der Gattung weitergearbeitet. Da jede neue Novelle auch das novellenspezifische Neue enthält, stellt sie den hergebrachten Novellenbegriff wieder infrage, wie der Strukturalist Tzvetan Todorov anhand der Einzelhandlungen und wandlungsfähigen Strukturen des Dekamerons herausstellt (Todorov 1977, 109). Die Arbeit am Novellenbegriff ist mithin nach vorn gerichtet. Die traditionellen Gemeinplätze über die Novelle formen jedoch ebenfalls am Novellenbegriff mit. Die Novelle ist folgerichtig eine der wenigen Prosagattungen, deren Qualität sich nicht nur an der Originalität, sondern auch an der Traditionsverhaftung misst. Zwar kommen auch Romane nie ohne die Romantradition aus, bei der Novelle ist der Traditionsbezug aber im Gegensatz zum Roman unverhohlen und konstitutiv.

Einführung in die Novelle

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