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I. Kapitel: Die Kreuzigung

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Judas war schon den ganzen Morgen auf den Beinen und näherte sich erst gegen Mittag seinem Ziel. Er war in Galiläa unterwegs und sah vor sich die Stadt, in die er wollte: Magdala.

Als er näher kam, nahm er ein ungewöhnliches Geschehen vor dem Stadttor wahr. Bald fand er heraus, was es war. Die Juden Magdalas waren vor die Stadt gekommen, um Zeugen einer Kreuzigung zu sein. Es war ein junger Mann aus Magdala – Ruben ben Jakob, neunzehn Jahre alt, der Sohn von Rahel und Jakob –, der zum Kreuz geführt wurde.

Die Juden Magdalas hatten sich hier versammelt, um dem jungen Mann und seinen Eltern ein Zeichen zu geben. Stille Zeugen des Protests wollten sie sein, gegen die Macht Roms und vor Gott.

Eine Gruppe römischer Soldaten ging geschäftig ans Werk. Einige vergewisserten sich, dass der fast zwei Meter hohe, senkrechte Pfosten fest im Erdreich verankert war. Andere – jeweils zwei an einem Ende – legten den etwa fünfzehn Kilo schweren Kreuzbalken auf den Boden, als Vorbereitung für den Gefangenen, der – streng bewacht – ein paar Schritte entfernt stand.

Mehr als Schrecken und stillschweigende Verachtung lag auf den Gesichtern der Umstehenden, denn hier, in dem für sie zutiefst befremdlichen Bild des Kreuzes, begegnete ihnen die ganze Würdelosigkeit Roms und seiner Demütigung des Menschen. Die langsame und menschenverachtende Folterqual der Kreuzigung offenbarte den Kern römischer Herrschaft, den Gräuel und die Abscheulichkeit vor Gott und den Menschen. Das war römische Art, ganz und gar.

Angekommen, stellte sich Judas zu den stummen Beobachtern. Sie bemerkten ihn kaum, denn ihre Aufmerksamkeit richtete sich vielmehr auf das Geschehen.

Die Soldaten bildeten nun einen Kreis um Ruben, während seine Eltern entsetzt auf die Szene starrten, sich gegenseitig stützten, einander umarmten, das Gesicht von Tränen überströmt.

«Nein!» Rahel schrie es heraus.

Jakob umfasste seine Frau fest und versuchte, sie wegzuführen.

«Sieh nicht hin!», flüsterte er.

Aber es gelang nicht. Rahel starrte wie angewurzelt und gelähmt auf ihren Sohn.

Rubens Gesicht zitterte vor Furcht, als die Soldaten ihm die Kleider abnahmen und mit einem Tuch seine Scham bedeckten. Bis auf zwei Soldaten zogen sich alle zurück. Für die Kreuzigung war nun alles vorbereitet.

«Oh Gott! Mein Sohn! Mein Sohn», schrie Rahel verzweifelt, «helft ihm doch, irgendjemand! Bitte, helft ihm!»

Die angstvolle Stimme der Mutter traf Judas ins Mark. Er spürte das Verlangen in sich, nach vorn zu springen und den Gefangenen seinen römischen Peinigern zu entreißen. Aber er blieb, wo er war, wie jeder andere auch, entsetzt, fassungslos, hilflos.

Die Exekution begann nach gründlicher Überprüfung der Vorbereitungen. Dann nickte der Henker den beiden Soldaten an jeder Seite des Gefangenen zu. Sie griffen Rubens Handgelenke und warfen ihn rücklings auf den Boden. Der Kreuzbalken passte exakt unter seinen Nacken. Sie streckten seine Arme nach beiden Seiten aus und knieten sich auf die Innenseite des Ellenbogens.

Der Henker holte zwei fünf Zoll lange Nägel heraus und hockte sich neben den Gefangenen. Einer der Soldaten hielt den rechten Unterarm dicht an den Kreuzbalken. Der Henker setzte die Spitze des quadratisch geschmiedeten Eisennagels in die leichte Vertiefung dicht beim Handgelenk und trieb den ersten Nagel in den Kreuzbalken.

Ruben schrie auf vor Schmerz. Der Henker wechselte unbeeindruckt auf die linke Seite und machte es dort genauso. Rahel und Jakob hörten ihren Sohn, konnten sie ihn doch durch ihre strömenden Tränen kaum noch sehen.

Der Henker vergewisserte sich, dass der Hingerichtete ordnungsgemäß fixiert war und warf dann seine Hände in die Luft, zum Zeichen, dass die Soldaten den Balken mit dem angenagelten Körper hochheben sollten.

Sie griffen das jeweilige Ende des Balkens und stemmten ihn hoch. Ruben hing daran herunter, seine Beine zappelten noch in der Luft. Die Soldaten hoben den Balken auf den senkrechten Pfosten, trafen das Zapfenloch und brachten ihn in Position.

«Was hat er getan?», fragte Judas einen der Umstehenden.

«Er hat den dort geschlagen», antwortete jener und nickte in Richtung eines sehr beleibten, feist aussehenden Mannes, der abseits der anderen stand und das Geschehen mit offensichtlicher Genugtuung beobachtete.

«Wer ist das?», wollte Judas wissen.

«Necho ben Obadjah, der Zolleinnehmer», war die Antwort.

«Er hat ihn lediglich geschlagen?», fragte Judas ungläubig.

«Das ist die römische Gerechtigkeit für dich, Jude!», war die sarkastische Antwort seines Nebenmannes.

Judas war nicht wirklich überrascht. Es war wieder einmal ein typischer Fall römischen Rechts. Über die genaueren Umstände konnte er natürlich nur Vermutungen anstellen. Rom ließ die Juden durch ständig neue und steigende Steuern ausbluten, und die Zoll- und Steuereinnehmer schlugen etliche Prozente zusätzlich als eigenen Gewinn auf die Waren auf. Die Höhe bestimmten sie selbst. Judas vermutete, dass der junge Ruben in seiner Erregung den Zolleinnehmer geschlagen hatte, als der zu hohe Steuern von seinen Eltern verlangte, womit er sie finanziell ruiniert hätte.

Nun griffen zwei Soldaten nach den Unterschenkeln des Gefangenen und legten den rechten Fuß über den linken. Sie schoben den Körper nach oben, um das Sterben zu verlängern, während der Henker einen einzelnen Nagel nahm und ihn durch die Füße schlug. Sie verzichteten darauf, die kleine Fußstütze unter der Ferse anzunageln, die sie manchmal anbrachten, um dem Hingerichteten Erleichterung zu verschaffen. Bei diesem jungen Mann sahen sie dazu keine Notwendigkeit.

Zufrieden blickte der Henker auf sein Werk. Das t-förmige Kreuz stand, wie es stehen sollte. Der Henker schloss die Hinrichtung ab und befestigte am Balken die Tafel mit dem Namen des Täters und des Verbrechens, das ihn ans Kreuz gebracht hatte.

Der Gefangene würde in einigen Stunden tot sein. Bis dahin jedoch würde er sich am Kreuz auf und ab winden, um sich irgendwie Erleichterung zu verschaffen. Er würde sich hochdrücken, um die Schmerzen in seinen Armen und Beinen erträglicher zu machen und um atmen zu können. Er würde in seinen Armgelenken hängend herabsacken, um den unsäglich stechenden Schmerz in seinen Beinen und Füßen zu mildern. Bis der Tod eintrat, würde es eine Ewigkeit dauern.

Die Gruppe der Anteilnehmenden begann sich aufzulösen, um ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen, so dass nur noch die Soldaten zurückbleiben würden, um den Toten zu bewachen – und die Fliegen.

«Kommt, wir bringen euch nach Hause», wandten sich einige Freunde an Rahel und Jakob.

«Nein», jammerte Rahel, «wir bleiben.»

Sie würden bleiben, auch sie – sie, die Soldaten und die Fliegen.

«Er kann nicht wahrnehmen, dass ihr hier seid», versuchte einer ihrer Freunde ihnen zuzureden, «quält euch selbst nicht noch länger, indem ihr hier bleibt. Behaltet ihn nicht auf diese Art in Erinnerung. Versucht euch an ihn zu erinnern, wie er war.»

«Wir bleiben!» Rahel bestand darauf.

Vielleicht würde er ihre Anwesenheit spüren, dachte sie. Vielleicht würde er sie ein- oder zweimal sehen, sie erkennen… Vielleicht würde es ihm helfen, nur für einen Moment.

Aber es gab keine wirkliche Hilfe für ihren Sohn. Nur und letztlich der Tod, mit dem Ruben ben Jakob rang, konnte ihm auch Befreiung geben.

«Ihr seid nicht aus dieser Gegend», stellte Judas’ Nebenmann fest, «woher kommt Ihr?»

«Jerusalem», erwiderte Judas und blickte den Mann an, «Könnt Ihr mir zufällig sagen, wo ich Barabbas finde?»

«Barabbas? Sicher. Dort steht er», entgegnete der Mann. Dabei nickte er in die Richtung eines Mannes von mittlerer Größe, der strotzend vor Kraft dastand. Auf seinem Gesicht lag ein harter Ausdruck. Judas hatte ihn schon vorher bemerkt, verwundert und fasziniert von der Tatsache, dass Barabbas unverwandt den Zolleinnehmer Necho ben Obadjah beobachtete, während die Aufmerksamkeit der meisten anderen durch die Hinrichtung gefesselt war.

«Danke», sagte Judas und ging hinüber zu Barabbas.

Bevor sich die bis dahin stumm gebliebene Menge gänzlich auflöste, erhob sie noch einmal ihre Stimme und sang den alten Segensspruch, der das Angesicht des Todes mildern sollte:

«Der Herr ist König!

Der Herr war König!

Der Herr wird König sein auf ewig.»

Dreimal sangen sie ihn.

Dann den zweiten Spruch:

«Gesegnet sei sein Name, die Herrlichkeit seines Königreiches währet ewig.

Gesegnet sei sein Name, die Herrlichkeit seines Königreiches währet ewig.

Gesegnet sei sein Name, die Herrlichkeit seines Königreiches währet ewig.»

Siebenmal sangen sie es:

«Der Herr ist Gott.

Der Herr ist Gott.

Der Herr ist Gott.

Der Herr ist Gott.

Der Herr ist Gott.

Der Herr ist Gott.

Der Herr ist Gott.»

Die Wachen griffen nach ihren Waffen, denn sie fürchteten sich vor der singenden Menge.

«Schma Jisrael, adonaj elohejnu, adonai ächad.»

«Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der eine Herr.»

Dann wandte sich die Menge ab vom Kreuz. Einige gingen. Einige gingen später. Einige blieben. Aber in ihrem Inneren hofften sie alle, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Israel über Rom triumphieren würde. Der Messias würde kommen, so war es geweissagt worden. Gottes Königreich würde auf Erden Wirklichkeit werden und das Ende der Tage wäre da!

Judas hatte Barabbas erreicht.

«Barabbas?», fragte er.

«Ja?»

«Schalom. Mein Name ist Judas», erklärte Judas.

Barabbas nickte, er drehte sich um, machte sich auf den Weg zurück in die Stadt Magdala und Judas folgte ihm.


Judas sah zu, wie Barabbas sich im Hofe seines Hauses zu schaffen machte. Er war der ortsansässige Schlachter, der jetzt nach seinen Messern griff, um sie zu schleifen.

«Warum seid Ihr gekommen?», fragte Barabbas seinen Gast.

Judas sah zu, wie er das erste Messer schärfte.

«Um für Euch zu arbeiten», erwiderte Judas

«Als Schlachter?», fragte Barabbas und ließ eindeutig eine Zweideutigkeit durchklingen, die Judas nicht entging.

«Ja», sagte Judas knapp.

«Hier», sagte Barabbas daraufhin und reichte Judas eines der Messer, «zeigt, was Ihr könnt!»

Er wies auf ein Lamm, das in einem Verschlag im Hofe stand.

Judas inspizierte das Messer. Die Schneide hatte eine Kerbe.

«Es ist unbrauchbar», meinte er.

«Unbrauchbar?», fragte der Schlachtermeister.

«Nach unseren Vorschriften unbrauchbar für rituelles Schlachten», erläuterte Judas ruhig, «es hat eine Kerbe.»

«Dann macht es brauchbar!», rief Barabbas ungeduldig.

Judas ging, um die Klinge zu schärfen, dann tastete er sie gründlich mit Fingernagel und Fingerkuppe ab und zeigte sie schließlich Barabbas, der sie prüfte und zustimmend nickte.

Judas ging zum Verschlag hinüber, öffnete ihn und holte das Lamm heraus. Das Lamm sah ihn sonderbar ruhig und geradezu vertrauensvoll an. Judas legte beruhigend eine Hand auf dessen Kopf und sprach den rituellen Segen:

«Gesegnet seiest Du, o Herr, unser Gott, der Du uns durch Deine Gebote geheiligt und uns über die Schlachtung unterwiesen hast.»

Das Messer fuhr blitzschnell durch die Kehle des Lammes, perfekt in der vorgeschriebenen Bewegung. Das Lebensblut schoss heraus, das Lamm brach zusammen und lag, aus glasigen Augen starrend, auf dem Boden. Der Lebensodem hatte den Körper verlassen.

Judas blickte zu Barabbas auf, der mit einem weiteren Nicken seine Zustimmung zu erkennen gab.

«Ich bin nicht der einzige Schlachter in Galiläa», meinte Barabbas, «warum seid Ihr ausgerechnet zu mir nach Magdala gekommen?»

Er hatte die erste Probe bestanden, dachte Judas. Jetzt kam die zweite, die entscheidende.

«Ich will für die Bewegung arbeiten!», sagte er. Er entschied sich für den direkten Weg. Er wusste vom Hörensagen, dass man mit Barabbas besser keine Ratespielchen machte.

«Die Bewegung?», fragte Barabbas zurückhaltend.

«Die Revolution – gegen Rom!», brach es aus Judas heraus.

«Ihr versteht zu schlachten», sagte Barabbas leise, «aber, könnt Ihr auch töten?»

«Ich denke, ja», erwiderte Judas.

«Ihr könnt bleiben.» Seine Antwort war knapp. Bevor Judas eine Gelegenheit hatte, sich zu bedanken, fuhr Barabbas fort:

«Ihr seid in Karioth geboren. Eure Familie zog nach Jerusalem. Euer Vater, der Sohn eines Kaufmanns, ist Arzt und in höheren Kreisen hoch geschätzt. Er behandelt die Wohlhabenden und Mächtigen. Er ist der Leibarzt des Hohepriesters Kaiphas und Rabbi Gamaliels, der dem Synhedrion vorsitzt. Euer Vater sieht sich mit den Sadduzäern in einer Linie. Er ist kein Freund der Zeloten oder der Bewegung gegen die Herrschaft Roms. Eure Mutter schätzt ihren sozialen Status. Ihre Freundin aus Kindertagen, Maria, lebt in Nazareth und hat fünf Söhne und zwei Töchter. Sie haben Euch während der drei Festtage besucht. Einer ihrer Söhne heißt Jesus. Er ist Euer Freund.»

Das alles klang wie eine Abhandlung über Judas’ Leben, und er war froh, dass er sich entschieden hatte, offen zu Barabbas zu sein. Es war mehr als deutlich, dass Barabbas über einen effizienten Geheimdienst verfügte und längst über Judas Bescheid gewusst hatte.

«So ist es», sagte Judas, nachdem Barabbas seine Aufzählung beendet hatte. Judas wusste nun seinerseits, dass er dem brillanten Zelotenführer gegenüberstand, dem Führer der militanten Untergrundbewegung gegen die römischen Besatzer.

«Wie gut kennst du Jesus», fragte Barabbas unvermittelt, «auf welcher Seite steht er? Wie steht er zu uns?»

«Ich weiß es nicht», sagte Judas ehrlich, «ich habe ihn seit drei Jahren nicht gesehen.»

Plötzlich wurde hinter Judas eine Tür geöffnet und eine Frauenstimme drang zu ihnen heraus.

«Ist hier jemand?»

«Ja, ja!», rief Barabbas. «Hier draußen sind wir!»

Judas war von der Schönheit der jungen Frau, die nun in der Tür auftauchte, verblüfft. Nie hätte er erwartet, so einer Perle im Hinterhof eines Schlachters zu begegnen.

«Ich brauche Fleisch für morgen!», erklärte die Frau übergangslos.

«Du könntest wenigstens Schalom sagen», knurrte Barabbas, den das Auftauchen der Frau eher unangenehm berührte als fröhlich stimmte.

«Ich hab’s eilig!», gab sie zurück.

«Und ich habe zu tun!», konterte Barabbas.

«Na gut. Schalom!», gab sie nach, als sie erkannte, dass sie so nicht weiterkommen würde.

Jetzt erst ließ sie ihre Augen zu Judas hinüberwandern, der immer noch neben dem geschlachteten Lamm stand.

«Oh», hauchte sie, «Schalom!»

«Schalom», antwortete er.

Sie war eine bildschöne Jüdin. Ihre blauen Augen kontrastierten faszinierend mit ihrem langen, rabenschwarzen Haar, das in weichen Wellen bis auf ihre Hüften herabfiel. Sie hatte volle, verlockende Lippen. Ihr Gesicht verfügte über jene vornehme Blässe, die nur Frauen hatten, die es sich leisten konnten, es vor der Sonne zu schützen. Keine der Marktfrauen hätten so ausgesehen, die oft trockene, gebräunte oder gar verbrannte Haut hatten.

Die teure Kleidung, die sie trug, bedeckte gerade eben so die zarte Haut ihres Körpers, und der Stoff ließ mehr die aufregenden Rundungen und weiblichen Linien erahnen, als dass er sie verbarg.

«Mein Gehilfe, Judas Ischariot», sagte Barabbas erklärend zu der Frau. Zu Judas gewandt sagte er: «Das ist Maria von Magdala, meine Kusine.»

«Schalom», wiederholte Judas noch einmal mit etwas festerer Stimme, lächelte ein wenig und wies entschuldigend auf das Lamm zu seinen Füßen, auf die Blutlache, das Messer und seine blutverschmierten Hände.

«Schalom», erwiderte nun auch Maria etwas einladender als zuvor. Ihr Blick blieb erst an Judas’ Händen haften, dann wanderten ihre Augen zu dem Lamm am Boden. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.

«Gut», sagte sie zu ihrem Cousin, «dann nehme ich eine Lammkeule.»

«Warte einen Moment, dann kannst du sie gleich mitnehmen!», brummte Barabbas unwirsch.

«Nein», sagte Maria und das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter, «lass sie morgen von Judas in mein Haus liefern!»

Barabbas knurrte. Judas konnte das Verhalten des Schlachters nicht verstehen, war doch Maria ausgesprochen höflich gewesen.

«Schalom, Judas», rief sie, «wir sehen uns morgen.»

«Schalom», antwortete Judas und spürte eine merkwürdige Vorfreude in sich, diese Frau schon morgen wiederzusehen.

«Sie ist wunderschön, nicht wahr», sagte Barabbas mehr als Feststellung denn als Frage.

Judas lachte verlegen.

«Alle Männer finden sie wunderschön», brummte Barabbas, der sich zu dem Lamm am Boden herunterbeugte.

Beide Männer begannen nun, das Fleisch von den Knochen zu lösen und das Tier zu zerlegen.

«Ihr zwei scheint einander nicht gerade grün zu sein», meinte Judas.

«Sie ist eine Närrin!», platzte es wütend aus Barabbas heraus. «Wenn Ihr einen Rat wollt, dann lasst die Finger von ihr.»

«Ihr versucht sie zu schützen?», fragte Judas.

«Nein», schnaubte Barabbas, «ich versuche, Euch zu schützen! Bislang hat es den Männern, die sich mit ihr eingelassen haben, mehr geschadet als gutgetan.»

«Ich denke, ich kann auf mich selbst aufpassen», sagte Judas zögernd.

«Sie ist Abfall, Müll, Abschaum!», wütete Barabbas weiter. «Ich sage es Euch, macht Euch Eure Hände nicht mit der schmutzig!»

«Wie könnt Ihr so etwas Abscheuliches über eure Kus …», begann Judas entgeistert, wurde jedoch abrupt von Barabbas unterbrochen.

«Bleibt ihr fern, Judas», Barabbas Worte wurden zum Befehl, «sie ist eine Hure!»

Judas war wie vor den Kopf geschlagen. Ehe er sich überlegen konnte, wie er antworten sollte, fuhr Barabbas im gleichen Ton fort: «Ihr habt morgen zweierlei zu tun. Erstens, Ihr liefert bei Maria die Lammkeule aus. Zweitens, am Abend, werdet Ihr Necho ben Obadjah, dem Steuereinnehmer, auf seinem Heimweg auflauern und ihn töten.»

Judas war perplex. Das es so schnell losgehen würde, das hatte er nicht erwartet. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Sein Verstand versuchte zu begreifen, was alles in dieser kurzen Zeit, seit er Magdalas Tore durchschritten hatte, geschehen war und was noch vor ihm lag und kommen sollte.


Unsicher näherte sich Judas am nächsten Tag Marias Haus. Seltsam, Seltsam, er fühlte sich zu ihr hingezogen, obwohl er nun wusste, dass sie eine Hure war. Er hatte solche Frauen immer verachtet. Doch bei Maria verhielt es sich anders. Sie war schön. Sie war aufreizend und er hatte Angst vor seiner eigenen Unfähigkeit, ihr widerstehen zu können.

Er erinnerte sich, wie er sich gestern gefühlt hatte, wie ein Begehren in ihm aufgestiegen war, das er lange nicht gekannt, eigentlich noch nie gekannt hatte. Aber da war noch mehr, er wusste, dass da mehr war als Begehren. Ein seltsames, geheimnisvolles Gefühl stieg in ihm hoch, als ob es eine Bestimmung gäbe, dass sie einander begegnen und kennenlernen sollten, als ob ein gemeinsamer Lebenszweck, ein gemeinsames Schicksal auf sie wartete.

Judas versuchte, beide Gefühle schnell abzuschütteln. Barabbas hatte recht. Es war besser, nichts weiter mit Maria zu tun zu haben.

Vor dem Haus hielt er an. Vorhänge hingen vor den Fenstern und verwehrten ihm den Blick ins Innere.

«Schalom!», rief er leise und klopfte zaghaft an die Tür.

Die raue Stimme eines Mannes antwortete: «Ja?»

Judas vermutete, dass es einer von Marias Kunden war. Er war überrascht, dass der Mann antwortete, und Judas revidierte seine Meinung. Anscheinend war es eher Marias Zuhälter, der nun die Tür öffnete. Vor Judas stand ein ungewöhnlich schöner Mann mit empfindsamen Gesichtszügen, die ihm auf den ersten Blick freundlich gesonnen schienen.

Judas maß den Mann vor sich mit Geringschätzung, seine Abneigung gegen Elieser ben Jochanan stand ihm offen ins Gesicht geschrieben, denn trotz der Freundlichkeit lag auch etwas Hinterhältiges in seinem Lächeln, etwas, das Grausamkeit und Boshaftigkeit zu verbergen suchte.

«Ich möchte zu Maria», sagte Judas schließlich.

«Warum?», fragte Elieser.

«Ich wollte ihr das Lamm bringen, das sie gestern bei uns bestellt hat», erwiderte Judas.

«Ich nehme es», sagte der Zuhälter knapp.

«Wer seid Ihr?», wollte Judas wissen.

«Ich sagte, ich nehme es», antwortete Elieser, «mehr müsst Ihr nicht wissen!»

Judas hatte nicht die Absicht, sich einschüchtern zu lassen oder gar zu gehen, ohne Maria gesehen zu haben.

«Sie hat mich gebeten, es ihr selbst zu geben», sagte er also mit Nachdruck.

Mit einer plötzlichen und schnellen Bewegung entriss Elieser Judas die Lammkeule und machte Anstalten, damit im Haus zu verschwinden. Diese Wendung überraschte Judas für einen kurzen Moment. Aber bevor Elieser im Haus verschwinden konnte, packte Judas den Zuhälter von hinten an den Schultern und wirbelte ihn zu sich herum. Dann rang er ihn zu Boden, drückte ihn in den Staub auf die Straße, wobei dem Zuhälter die Lammkeule aus den Händen fiel.

Dadurch war Judas einen kurzen Moment abgelenkt und er lockerte den Griff versehentlich. Elieser kam wieder auf die Füße und erkannte in Sekundenschnelle seinen Vorteil. Er riss Judas die Beine weg und warf sich auf ihn. Judas stürzte, doch sein Verstand arbeitete nun auf Hochtouren. Er trat seinem Angreifer in den Bauch, so dass dieser durch den mächtigen Stoß durch die Luft geschleudert wurde.

Elieser landete unsanft, nun war Judas seinerseits blitzschnell über ihm und ging auf ihn los. Ihre Hände verkrallten sich im Kampf. Elieser versuchte, Judas im Würgegriff zu halten, doch Judas entkam, als Elieser über einen Stein stolperte und das Gleichgewicht verlor. Judas warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn und zwang ihn zu Boden. Elieser wand sich im Staub, trat und boxte wild um sich und erwischte Judas im Gesicht. Judas fluchte und ließ seinen Widersacher los. Blitzschnell war Elieser wieder auf den Beinen, griff in seine Schärpe und zog ein Messer heraus.

Judas sah das blitzende Metall und hielt inne. Als Elieser auf ihn zukam, griff auch Judas ohne zu zögern in seine Kleidung und holte mit geübter Hand einen Dolch hervor.

Elieser blieb stehen. Er versuchte, die Lage einzuschätzen. Er konnte kämpfen oder fliehen. Ihm war nicht nach fliehen.

Die beiden Männer umkreisten sich in tödlichem Schweigen. Jeder beobachtete die kleinste Bewegung des anderen. Ein- oder zweimal stach Elieser zu, doch er traf nicht.

Plötzlich stolperte Judas über den gleichen Stein, der auch schon Elieser zu Fall gebracht hatte. Sofort warf sich der Zuhälter auf ihn, aber Judas rollte sich blitzschnell zur Seite und trat mit seinen Füßen hart zu. Elieser stieß einen lauten Schrei aus.

Judas hatte seine Hand getroffen und Eliesers Messer flog in hohem Bogen fort. Judas war bei ihm, bevor Elieser auch nur einen weiteren Schritt tun oder das Messer wieder holen konnte. Im nächsten Moment hielt Judas die Spitze seines Messers gegen Eliesers Kehle.

«Bringt mich nicht um!», winselte Elieser.

«Bastard! Verfluchter Bastard!», zischte Judas. «Was sollte das?»

«Erbarmen, Erbarmen», jammerte Elieser. «Ich lasse Euch in Zukunft in Ruhe!», versprach er.

«Parasit!», rief Judas aus. «Ich tue der Welt einen Gefallen, wenn ich Euch töte!»

«Bitte!», flehte Elieser.

«Ich will Euer dreckiges Leben gar nicht!», stieß Judas schließlich hervor.

Er nahm seinen Dolch von Eliesers Kehle und lies ihn frei.

Elieser sprang davon, ohne sich noch einmal umzudrehen, er stürzte förmlich die Straße hinunter und war verschwun-den.

Jetzt erst bemerkte Judas Maria. Sie hatte anscheinend die ganze Auseinandersetzung beobachtet. Judas hob die Lammkeule auf und brachte sie zu ihr.

«Hier!», sagte er.

«Wollt Ihr nicht hereinkommen?», fragte sie.

Judas nickte und folgte ihr ins Innere des Hauses.

«Setzt Euch», sagte sie, «ich hole etwas Wasser und ein Tuch, Ihr seht schlimm aus.»

Sie nahm ihm das Lammfleisch aus den zitternden Händen und kam kurz darauf mit einer Schale Wasser, einem Lappen und einem Handtuch zurück.

«Alles in Ordnung?», fragte sie.

«Ist es, ja,» sagte er, während er sich zu reinigen versuchte.

«Ihr hättet ihn umbringen sollen», sagte Maria.

«Hätte Euch das zufrieden gestimmt?», fragte Judas. «Hättet Ihr dann weniger Probleme?»

«Vielleicht», erwiderte sie mit einem Achselzucken, «jedenfalls wird er Euch jetzt Probleme machen.»

«Das kann ich mir nicht vorstellen», sagte Judas und wrang das Tuch über der Schüssel aus.

«Ihr kennt Elieser ben Jochanan nicht.» Als sie das sagte, sah sie Judas eine Weile schweigend ins Gesicht, während er fortfuhr, sich zu säubern.

«Und Ihr kennt mich nicht», sagte Judas.

Maria blickte ihn an und wechselte jäh das Thema.

«Was hat Barabbas über mich erzählt?», wollte sie in fast scharfem Ton wissen.

«Nichts», log Judas und legte das Tuch beiseite.

«Ihr müsst mir gegenüber nicht den Höflichen spielen. Er will entweder, dass Ihr mir helft oder dass Ihr nichts mit mir zu tun haben sollt. Was von beidem ist es?», fragte sie forsch.

Judas unterdrückte ein Lächeln. «Er riet mir, mich von Euch fernzuhalten.»

«Und?» Herausfordernd blickte sie auf ihn herunter.

«Ich werde meine eigene Entscheidung noch treffen müssen», sagte Judas.

«Ich gebe Männern, was ihr Geld wert ist, und mehr nicht!»

Sie sagte es unverblümt, geradeheraus. «Waren sie einmal da, kommen sie immer wieder. Werdet Ihr auch wiederkommen?»

«Vermutlich», erwiderte Judas und staunte über ihre Zielstrebigkeit, «die Lammkeule wird ja nicht ewig reichen.»

«Gut», sagte sie. Seine Bemerkung amüsierte sie ein wenig, doch sie war auch ein wenig ungehalten darüber, dass er ihr das Heft aus der Hand genommen hatte.

«Ich könnte Euer Leben interessant machen», meinte sie.

«Das habt Ihr schon», sagte er und sein Blick fand den ihren.

Judas stand auf. Maria spürte, dass er gehen wollte, und stellte sich dicht vor ihn.

«Ich habe noch gar nicht angefangen», sagte sie, «wenn es das Geld ist, könnt Ihr…»

«Es ist nicht das Geld», unterbrach er sie.

«Was dann», fragte sie, «was hält Euch ab?»

«Ein eigenartiges Gefühl», sagte Judas mehr zu sich als zu ihr.

«Und dieses Gefühl hattet Ihr vorher noch nie?» Sie fragte fast argwöhnisch.

«Nicht dieses Gefühl», sagte Judas und lachte, als er merkte, worauf sie hinauswollte, «ein anderes Gefühl.»

«Welche Art von anders?», wollte sie wissen und trat noch einen Schritt näher an ihn heran.

«Es ist da etwas Besonderes zwischen uns», sagte er ganz ruhig, obwohl das Blut in ihm zu kochen begann. Er hörte sein Herz laut und deutlich und sein Pulsschlag wollte ihm die Kehle zuschnüren.

‹Eine oft gehörte Banalität›, dachte Maria, laut sagte sie lediglich:

«Oh, wie besonders ist es?»

«Ich habe dieses Gefühl nur noch bei einem einzigen anderen Menschen gehabt», versuchte Judas es ihr zu erklären.

«Ja», fragte sie, «bei wem?» Doch insgeheim lächelte Maria, glaubte sie doch, die Antwort bereits zu kennen. Bei seiner Mutter, natürlich, mutmaßte sie.

«Es gibt da einen Mann», überlegte Judas und verblüffte sie mit dieser Antwort zur Gänze.

«Er heißt Jesus», fuhr Judas ungerührt fort, «ich bin mit ihm befreundet. Es ist eine ziemlich eigene Art von Freundschaft.»

«Das nehme ich an», sagte Maria spöttisch und trat einen Schritt zurück.

«Nein, nicht diese Art von Freundschaft», fügte Judas schnell hinzu, als er bemerkte in welche Richtung ihre Gedanken gingen, «ich hoffe, du lernst ihn eines Tages kennen.»

Maria meinte, sein Problem zu erkennen. Es war typisch für manche Männer, dass sie anderes vorschoben, weil sie Angst davor hatten, für ihr eigenes Handeln die Verantwortung zu übernehmen.

«Hört zu, Judas», sagte sie, «wenn Ihr das nächste Mal kommt, sagt mir einfach, was Ihr Euch vorstellt und wünscht, und ich werde es Euch geben. So einfach ist das. Vergeudet keine Zeit damit, mich oder Euch davon zu überzeugen, wann wir uns richtig und gut fühlen.»

Sie spürte deutlich, dass er nun gehen wollte, und hielt ihn nicht länger zurück. Sie brachte ihn zur Tür.

«Vielen Dank für das Lamm», sagte sie, «und für alles andere.»

Er wandte sich ihr ein letztes Mal zu.

«Maria», sagte er, «wenn in der Zukunft nichts Besonderes geschieht, das unsere Beziehung auf eine andere Ebene stellt als die, die du dir im Moment wünschst, muss mein Benehmen wohl aussehen wie das eines Narren. Wenn es aber etwas Besonderes geben wird, so wie es mein Gefühl mir sagt, möchte ich, dass es auf diese Weise beginnt.»

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ ihr Haus. Maria sah ihm nach und lächelte spöttisch. Sie war sicher, dass er zurückkommen würde, und zwar zu ihren Bedingungen.


«Seid Ihr sicher, dass er diesen Weg nimmt?», fragte Judas unruhig.

«Ja», sagte Barabbas, «ich kenne seine Gewohnheiten. Beruhigt Euch.»

Die kurze Dämmerung war vorüber. Der Vollmond beschien den Weg, bei dem sich die beiden Männer in einem Hinterhalt verbargen. Sie warteten auf den Steuereinnehmer Necho ben Obadja, der auf diesem Weg normalerweise nach Hause ging.

Judas spielte nervös mit seinem Messer, er fühlte die kalte Klinge und wusste von ihrer Schärfe.

«Macht Euch keine Gedanken», sagte Barabbas, «Ihr werdet es schon schaffen. Das erste Mal ist es immer am schwierigsten. Wenn Ihr zum Stoß bereit seid, denkt nur an eins – das Gesicht am Kreuz gestern!»

«Ja», sagte Judas trocken.

«Heute Nacht werdet Ihr einer von uns!», flüsterte der Schlachter und spornte ihn an.

«Kein Gott außer dem Einen! Keine Steuer außer die für den Tempel! Kein Freund außer den Zeloten!»

Judas nickte. Nicht zum ersten Mal hörte er den vertrauten Schlachtruf der Zeloten und trotz seiner Angst durchströmte ihn nun eine starke Erregung. Er stand an der Schwelle. Seine Aufnahme in die militante Befreiungsbewegung, sein Schritt in den Untergrund stand unmittelbar bevor. Es war ein wichtiger Schritt, das wusste er, und es würde nicht sein letzter sein. Die Methode hieß Gewalt, die Waffe war der Dolch und der Feind war Rom und jeder, der in Roms Auftrag handelte – überall im Land. Heute Nacht hieß sein Feind Necho ben Obadja.

«Ihr werdet es schaffen», bestärkte ihn Barabbas.

Plötzlich packte Barabbas Judas am Arm und bedeutete ihm mit dem Zeigefinger an den Lippen, leise zu sein. Judas spannte seine Muskeln an, als er in der Stille der Nacht sich nähernde Schritte hörte.

«Das ist er!», sagte Barabbas flüsternd.

«Seid Ihr sicher?», fragte Judas, der nur einen schemenhaften Umriss ausmachen konnte.

«Ja», erwiderte Barabbas, «seht genau hin!»

Einen Moment später war sich auch Judas sicher, denn der Umriss des Mannes war klein und enorm dick.

Barabbas und Judas waren übereingekommen, dass Judas es allein machen sollte. Er wollte versteckt bleiben, bis Necho ben Obadja vorüber war. Dann würde er hinter dem Steuereinnehmer aufspringen und ihm, bevor dieser irgendeine Chance hätte, wegzulaufen oder sich zu wehren, die Kehle durchschneiden und ihm das Messer ins Herz stoßen.

Judas hatte das Gefühl, Necho ben Obadja käme überhaupt nicht näher. Der Abstand, der eigentlich nur ein kleines Stück Weg war, schien ihm unendlich. Doch dann war es so weit, Necho kam heran, war da und ging vorüber, nichtsahnend und sorglos. Judas umfasste sein Messer fester und sprang auf, nur ein paar schnelle, lautlose Schritte und er war hinter dem Steuereinnehmer.

Im nächsten Moment hatte er sein Opfer auch schon im Würgegriff, das Messer zum Todesstoß erhoben.

Auch Barabbas war nun auf die Straße gesprungen und hatte jede Bewegung genau beobachtet. Er war mit dem Ablauf der Exekution zufrieden. Aber plötzlich bemerkte er das Zögern in Judas’ Hand, das Zittern, das nicht aufhören wollte, und er wusste sofort, dass etwas schiefging.

«Stecht zu!», flüsterte er heiser und trat näher an Judas und Necho heran.

Judas hörte den Befehl, aber seine Hand gehorchte ihm nicht. Er spürte, wie Necho ben Obadja sich wand, um freizukommen, und er wusste, wenn er nicht sofort handelte, würde er in große Schwierigkeiten kommen.

«Tötet ihn!», zischte Barabbas.

Judas hätte es getan, doch dann, plötzlich, schaute er für einen kurzen Moment dem Steuereinnehmer in seinem Todeskampf direkt in die Augen. Voller Panik war sein Blick, ein stummes, verzweifeltes Flehen. Dieser Blick war es, der Judas lähmte, denn er hatte diesen Blick schon einmal gesehen, voller Entsetzten, Hoffnungslosigkeit und Todesangst. Es war erst gestern Mittag gewesen, am Kreuz. Er hatte diesen Blick in den Augen Ruben ben Jakobs gesehen.

Judas lockerte seinen Griff ein wenig. Necho ben Obadja nutzte diese Chance und kämpfte sich frei. Er stolperte in Panik davon, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen und sein feister Körper es zuließ.

«Hilfe!», schrie er. «Hilfe!»

Doch er kam nicht weit. Barabbas, der dicht bei den Männern gestanden hatte, war ihm bereits nachgehetzt und hatte ihn von hinten ergriffen. Wie eine Schraubzwinge umfassten seine Arme den Steuereinnehmer und hielten ihn fest. Metall blitzte im Schien des Mondes auf, Barabbas riss seinem Opfer den Kopf zurück und schnitt ihm die Kehle durch. Anschließend stieß er ihm das Messer bis zum Schaft ins Herz, wie es die Zeloten immer zu tun pflegten.

Barabbas richtete sich auf und sah Judas an.

«Es tut mir leid», stammelte Judas, verwirrt von dem, was geschehen war. Doch Barabbas gab keine Antwort. Es gab nichts zu sagen.

Schweigend folgte Judas dem Zeloten nach Hause.


Zuhause angekommen, legte Barabbas ein paar übriggebliebene Bratenstücke und Brot auf den Tisch und holte eine Flasche Wein hervor. Sie setzten sich.

«Esst!», forderte Barabbas seinen Gast auf.

Judas zögerte. Er traute sich nicht, aufzublicken und den enttäuschten Augen seines Gastgebers zu begegnen. Barabbas hatte nicht gezögert, nicht eine Sekunde, und Judas schauderte bei dem Gedanken, mit welcher Abgeklärtheit und Selbstverständlichkeit Barabbas einen Menschen töten und kurz darauf essen konnte. Judas atmete tief ein und hob den Kopf. Er beobachtete sein Gegenüber. Wieder war er verblüfft, wie klein Barabbas war. Er war nur mittelgroß, wirkte aber viel größer, denn sein ganzer Körper strotzte vor Kraft.

Die Beine, die Arme, der Hals, alles an ihm war kräftig, sehnig und stählern. Festes Fleisch und unglaubliche Muskeln stachen unter seinem einfachen Gewand hervor. Selbst jetzt, da er entspannt war und einfach nur so dasaß, war er überwältigend. Seine Gesichtszüge waren hart und kantig, ja, und er blickte aus kalten, blauen Augen, die einen zu röntgen schienen, doch war da nichts von Vorwurf oder Zorn zu lesen. Barabbas’ Lippen waren dünn, fest und gnadenlos ernst.

«Nun?», fragte Barabbas und deutete auf die Speisen.

«Ich habe keinen Hunger», sagte Judas.

«Ihr müsst etwas essen!», sagte Barabbas und klang dabei fast väterlich besorgt.

«Ich kann nicht!», erwiderte Judas.

Er hatte mehr mit seinem Versagen zu tun als mit Barabbas. Sicher hatte der Zelotenführer schon viele Menschen kennengelernt und in seine Bewegung aufgenommen, die nicht gleich töten konnten, aber es zumindest lernten. Barabbas war sicherlich erstaunt darüber, dass Judas es heute Nacht nicht zu Ende bringen konnte, wo er doch so selbstsicher die Klinge am Halse des Lammes hatte führen können. Judas war kein Mensch, der aus purer Lust tötete, er hatte überhaupt noch nicht getötet. Doch er hatte geglaubt, dass eine so starke Motivation wie Rache oder Hass ausreichen würde, den letzten Schritt zu gehen. Er hatte sich geirrt.

«Ihr werdet es schon lernen», sagte Barabbas, um Judas‘ Selbstvertrauen wiederherzustellen, «beim nächsten Mal vielleicht schon!»

«Es wird kein nächstes Mal geben», sagte Judas langsam, fast schleppend.

Barabbas hörte auf zu essen.

«Ihr seid sehr erregt für den Moment», sagte Barabbas, ohne Judas aus den Augen zu lassen, «was Euch heute Nacht passiert ist, ist auch schon anderen vor Euch passiert. Ich habe es schon früher erlebt. Macht Euch keine Gedanken. Beim nächsten Mal werdet Ihr es schaffen, sicher.»

Doch Judas war sich nun sicher, dass er genau das nicht wollte, und wiederholte mit festerer Stimme: «Es wird kein nächstes Mal geben! Ich kann keinen Menschen töten!»

Anstatt Judas Vorhaltungen zu machen, erhob Barabbas seine Stimme und zitierte die Worte aus dem Buch der Prediger:

«Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde… eine Zeit zu töten und eine Zeit zu heilen… eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu hassen, eine Zeit zum Kriegführen und eine Zeit zum Frieden.»

«Für mich wird es diese Zeit nicht geben, ich kann nicht töten», sagte Judas ruhig, aber überzeugt von der Wahrheit seiner Worte.

Einen Moment lang erwiderte Barabbas nichts, denn seine Gedanken schweiften weit in die Vergangenheit zurück. Er dachte an seine Kindheit, an seine Mutter und besonders an seinen Vater.

Als er sich schließlich wieder seinem Gast zuwandte, schien es Judas, als ob ein anderer Mensch zu ihm sprechen würde. Barabbas offenbarte eine andere Seite an sich, eine Seite, die verletzlich und empfindsam war. Judas erkannte, dass ein zutiefst aufrechtes Wesen in diesem Mann wohnte, ein Wesen, das immer noch, nach all der Zeit des kalten Tötens, in seinem Herzen lebte – auch wenn er jetzt der harte und brutale Führer der Zeloten geworden war.

«Ihr hättet meine Mutter und meinen Vater gemocht», sagte er sanft, «besonders meinen Vater. Er war ein feiner Mensch, der an die Güte aller Menschen glaubte. Er war mit seiner eigenen Meinung immer sehr zurückhaltend. Er wollte nichts mit jenem Judas, dem Galiläer, zu tun haben, der vor etlichen Jahren behauptete, der Messias zu sein, und die Zeloten zu einem Aufstand gegen die römische Besatzung unseres Landes verleitete. Aber die Römer hielten sich nicht an feine Unterschiede. Sie griffen sich zweitausend Juden und kreuzigten sie. Auch meinen Vater. Ich war damals ein kleiner Junge. Ich sah, wie sie meinen Vater kreuzigten. An jenem Tag wurde ich Zelot!»

Judas war tief bewegt.

«Ich verstehe!», sagte er mit fast tonloser Stimme.

«Ja, tut Ihr das?», fragte Barabbas und hielt seine Augen auf Judas gerichtet. «Ja, Ihr tut es», sagte er gleich darauf.

«Ich werde morgen aufbrechen», sagte Judas.

«Weggehen? Ihr seid gerade erst gekommen!» Barabbas hob eine Augenbraue.

«Ich kann nicht bleiben!» Judas suchte nach Worten.

Barabbas war mehr als verwirrt, doch dann nickte er Judas zu. «Ich hoffe, Ihr findet, wonach Ihr sucht.»

«Ich hoffe es auch», sagte Judas ehrlich.

«Eines Tages werdet Ihr euch jedoch entscheiden müssen», sagte Barabbas. Seine Stimme klang ernst. Er schnitt ein Stück Fleisch ab und stach das Messer in die Tischplatte.

Judas sah wie abwesend zu.

«Judas? Ihr werdet Euch erinnern», sagte Barabbas kauend.

«Woran?», wollte Judas wissen.

«Daran, dass es besser ist, durch das Schwert zu sterben als am Kreuz!»

Judas dachte lange über diese Worte nach, während sie den Rest der Mahlzeit schweigend verbrachten.


Jesus - mein jüdischer Bruder

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