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III. Kapitel: Die Mission beginnt
ОглавлениеAn diesem Nachmittag lag der See Genezareth ganz still im Sonnenlicht. Einige Boote dümpelten leicht vor sich hin und warteten auf ihre Säuberung und Reparatur, damit sie für den nächsten Tag einsatzbereit waren.
Die Boote von Zebedäus und Jonah ankerten an derselben Stelle. Ihre beiden Familien arbeiteten in allen beruflichen Dingen zusammen. Sie nutzten nicht nur ihre Werkzeuge gemeinsam und tauschten ihr Wissen aus, sondern arbeiteten auch an Land und auf dem See eng zusammen. Ihr Fischfang war überaus erfolgreich.
Als sie von ihrer Mittagsmahlzeit zurückkamen, halfen die Söhne Jonahs, die Andreas und Simon hießen, den Söhnen des Zebedäus’, Jakob und Johannes, die Netze für die nächste Ausfahrt fertigzumachen.
«Der See ist ziemlich ruhig. Wir dürften morgen einen guten Fang haben», sagte Andreas.
Simon blinzelte in Richtung ihres eigenen Bootes. Er sah seinen Vater beim Verstauen der Segel.
«Vater?», rief er.
Jonah hielt inne und blickte herüber. «Ja?»
«Brauchst du Hilfe?», fragte er.
«Ich rufe dich, wenn ich dich brauche», rief sein Vater zurück und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
«Meinst du nicht, du solltest besser zu ihm gehen?», fragte Jakob.
«Er wird es schon sagen», meinte Simon. «Wie auch immer, er hat genug Hilfe.»
Das stimmte. Jonah und Zebedäus konnten nicht klagen.
«Warum hast du dann überhaupt gefragt?», wollte Andreas wissen.
«Tja», Simon gab sich nachdenklich, «ich wollte höflich sein.» – Sie lachten.
«Vater muss ihn einfach lieben, weil er ein so diensteifriger Typ ist», stichelte Andreas, «ich denke, ich muss Vater mal aufklären.»
Andreas wollte sich davonmachen, aber Simon hielt ihn fest und rief: «Wage es ja nicht!»
Die beiden stürzten sich lachend aufeinander. Plötzlich hörten sie den Ruf ihres Vaters: «Was ist los mit euch?»
Andreas und Simon hörten sofort auf: «Nichts!», rief Andreas.
«Nichts», wiederholte Simon grinsend, «wir albern nur herum.»
Jonah schüttelte in gespieltem Unmut den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Simon und Andreas sahen sich an und lachten. «Es gibt nur eines, was schlimmer ist als einen Kindskopf zum Bruder zu haben!», knurrte Jakob.
«Und das wäre?», fragte Johannes gespielt streitlustig.
«Nun, ich würde sagen…, überhaupt keinen zu haben.» Jakob zerwühlte Johannes’ Haare, als der ihn gutmütig in die Seite boxte.
Das war der Moment, in welchem Simon zu ihnen kam. Er hatte Kaleb und Moses beobachtet, die sich mit einem Segel abmühten.
«Komm, du kannst eine helfende Hand gebrauchen», sagte Simon und half Kaleb, das widerspenstige Segel zu bergen.
«Das ist genau das, was ich brauche, eine helfende Hand», bemerkte Kaleb trocken, «in Wirklichkeit könnte ich einen ganzen Arm gebrauchen.» Er deutete auf seinen Arm, der schlaff an seiner Seite herunterhing.
«Diese Segel sind auch mit zwei gesunden Armen nicht leicht zu bedienen», versuchte Simon Kaleb zu besänftigen.
Kaleb lächelte bitter: «Sie haben mir kein Problem gemacht, als ich noch zwei gesunde Arme hatte. Weißt du noch, wie es war, Simon, als ich zwei gesunde Arme hatte?»
«Du warst stärker als zwei von uns zusammen. Also bringst du jetzt immer noch die volle Arbeitsleistung eines Mannes», betonte Simon mit Nachdruck.
«Danke, dass du mich ermuntern willst», lächelte Kaleb etwas milder gestimmt, «so lebe ich jetzt seit zwei Jahren, seit jenem Unfall.»
«Ja, ich erinnere mich», sagte Simon vorsichtig, «mein Bruder hat dich immer sehr gemocht.»
«Ich ihn auch. Ich kümmerte mich um ihn, seit er ein Baby war», sagte Kaleb. Er klang wehmütig.
«Meine Mutter sagte immer: ‹Kaleb, du musst auf Jonah, den Bruder von Simon und Andreas, aufpassen!’ Du weißt, dass ich versucht habe, ihn zu retten.»
«Du hast alles getan, was du konntest», stimmte Simon ihm zu.
«Ja», sagte Kaleb, doch es klang wenig überzeugt.
«Es war ein fürchterlicher Sturm», sagte Simon, «es ist ein Wunder, dass überhaupt noch jemand von uns am Leben ist.»
«So war es wohl», murmelte Kaleb.
«Wir dachten, ihr wäret alle dem Tod geweiht, als das Boot kenterte», fuhr Simon fort.
«Es war harte Arbeit, zu euch zu gelangen», seufzte Kaleb, «wenn ich nur etwas länger hätte durchhalten können!»
«Du warst selbst schon halb ertrunken», erinnerte ihn Simon.
«Das stimmt», erinnerte sich Kaleb, «ich konnte einfach nicht länger durchhalten!»
«Wir waren alle hilflos», sagte Simon.
«Vielleicht war es mein Arm, vielleicht konnte ich wegen meines Armes nicht länger durchhalten», mutmaßte Kaleb.
«Er war völlig taub, als wir dich herauszogen», meinte Simon.
«Genauso war es», sagte Kaleb, «wahrscheinlich war das der Grund, weshalb ich nicht länger durchhalten konnte.»
«Das wird es gewesen sein», sagte Simon.
«Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass er taub wurde, Simon. Ich denke immer wieder darüber nach.»
«Du hast alles getan, was du konntest», erwiderte Simon.
«Jonah würgte und würgte mich und zog mich mit sich herunter», stieß Kaleb hervor.
«Es war ein fürchterlicher Sturm», sagte Simon erneut.
«Es war entsetzlich», stöhnte Kaleb, als würde er es noch einmal erleben.
«Gott gibt und Gott nimmt», sagte Simon lakonisch.
«Ja», erwiderte Kaleb, «gelobt sei der Name des Herrn. Aber manchmal ist es sehr schwer, das zu sagen.»
«Es ist immer schwer», sagte Simon, «aber es ist alles, was wir sagen können.»
Kaleb wandte seinen Kopf. Er sah in die Ferne, weit weg. Plötzlich bemerkte er zwei Gestalten, die sich näherten. Eine erkannte er sofort.
«Siehst du, wer da kommt?», fragte er Simon und zeigte in die Richtung der beiden Männer. «Das ist Jesus, Josephs Sohn», antwortete Kaleb.
«Ich frage mich, was er hier will», staunte Simon.
«He, Johannes, Jakob, euer Vetter kommt!», rief Kaleb aus.
Johannes und Jakob unterbrachen ihre Arbeit und sahen in die Richtung, aus der die zwei Männer kamen.
«Wer ist das bei ihm?», fragte Simon. Keiner schien Judas zu kennen.
«Schalom!» Johannes und Jakob riefen hinüber und winkten. Jesus erwiderte den Gruß: «Schalom.»
Er winkte zurück. Gleich darauf näherten sich Jesus und Judas dem Boot und kamen an Bord.
Zebedäus kam zu ihnen herübergefahren, hielt an und umarmte ihn.
«Schalom, Jesus!», sagte er herzlich.
«Schalom, Onkel Zebedäus», antwortete Jesus. «Wie geht es dir?»
«Gut, gut. Und wie geht es deiner lieben Mutter?», fragte Zebedäus.
«Auch gut, danke. Wie geht es Tante Salome?», wollte Jesus wissen.
«Gut, sehr gut», sagte Zebedäus, «sie wird sich freuen, dich zu sehen.»
«Das ist mein Freund Judas. Er kommt aus Karioth», stellte Jesus Judas vor.
«Schalom», sagten alle und nickten Judas zu.
«Schalom», antwortete Judas.
Jesus umarmte seine Vettern und Freunde einen nach dem anderen.
«Schalom, Jesus», sagte Kaleb, als Jesus zuletzt Simon begrüßt hatte.
«Schalom, Kaleb», erwiderte Jesus freundlich, «wie ich sehe, arbeitest du weiter so hart wie immer.»
«Wie immer schon, aber lange nicht mehr so gut», erwiderte Kaleb, «ich versuche eben, das Beste daraus zu machen.»
Jesus lächelte. Er fühlte mit ihm: «Mehr erwartet unser himmlischer Vater nicht von uns.»
Dann wandte er sich Judas zu.
«Das sind meine Vettern Johannes und Jakob. Und das sind meine Freunde Andreas, Simon und Kaleb.»
«Schalom», sagte Judas noch einmal.
«Schalom», war ihre Antwort.
«Was führt dich nach Kapernaum?», fragte Jakob.
«Ich dachte, es ist an der Zeit, euch zu besuchen», sagte Jesus.
«Fein», meinte Jakob, «es ist eine Ewigkeit her, dass du hier warst.»
«Setzt euch doch», meinte Johannes und rückte zwei Kisten für Jesus und Judas zurecht, «ihr habt sicher einen weiten Weg hinter euch.»
«Danke», sagten beide und setzten sich.
«Hast du schon das Neueste von Johannes dem Täufer gehört?», fragte Andreas besorgt. «Er ist verhaftet worden und sitzt im Gefängnis!»
«Ich habe davon gehört.» Jesus nickte langsam.
«Was, denkst du, wird jetzt passieren?», fragte Johannes.
Jesus sah ihn eindringlich an, dann sprach er ganz sanft und wandte sich dabei allen zu: «Die Zeit ist erfüllt. Das Himmelreich steht unmittelbar bevor. Kehrt um und glaubt der guten Nachricht.»
Die Antwort war seltsam. Weder Johannes noch einer von den anderen hatten sie erwartetet. Johannes hatte sich lediglich nach dem Wohlbefinden des Täufers erkundigen wollen, er hatte wissen wollen, was nun mit ihm geschehen würde, nichts anderes. Jesu Antwort passte nicht dazu. Sollte er seine Frage missverstanden haben? Andererseits hatte ihm diese Antwort einen Schauer den Rücken hinuntergejagt, sie war mit Macht gesprochen worden. Er schaute die anderen an. Ihnen schien es ähnlich ergangen zu sein, denn sie waren alle seltsam berührt.
Johannes schoss plötzlich durch den Kopf, dass die Worte Jesu so etwas wie ein Echo auf die des Täufers waren: «Kehrt um! Das Himmelreich steht unmittelbar bevor!» Das hatte der Täufer immer unten am Jordan gepredigt.
Doch Jesus hatte noch mehr gesagt, mehr. Diese Erkenntnis traf Johannes wie ein Blitz.
Hatten auch die anderen den feinen Unterschied bemerkt? ‹Die Zeit ist erfüllt›, schoss es ihm durch den Kopf, ‹die Zeit ist erfüllt…die Zeit ist erfüllt…!›
Johannes heftete seine Augen auf Jesus und suchte in dessen Gesicht nach einer tiefgründigeren Antwort.
«Was meinst du damit?», fragte Johannes schließlich. Die anderen lauschten aufmerksam, auch sie wollten die Antwort Jesu hören.
Jesus erklärte ihnen seinen Weg der Liebe, so, wie er es bei Judas getan hatte. Wie Hungrige hörten sie ihm zu. Am Ende herrschte eine tiefe Stille. Jeder hatte Angst, zu sprechen, hatte aber auch Angst davor, den sanften und zarten Hauch des Geistes zu zerstören, der sich über sie gelegt hatte.
Simon hatte Jesus am nachdenklichsten beobachtet. Er erlaubte es seinen Gedanken nicht, an die Stelle zurückzukehren, an der sie eben noch verweilt hatten. Sollte es wirklich wahr sein, dass…. Er erschreckte heftig. Sein Herz schlug fast fiebrig bei der Größe und Bedeutung dieser Idee. Er versuchte diesen Gedanken mit aller Macht zu unterdrücken, um ihn nicht unbedacht auszusprechen. Seine Gefühle waren völlig durcheinandergeraten. Einer Sache aber war er sich in diesem Moment völlig sicher. Er hatte Jesus seit langer Zeit zum Freund, aber nie zuvor hatte er sich zu ihm so hingezogen gefühlt wie in diesem Moment. Später konnte er sich selbst nicht mehr ganz erklären, was da mit ihm geschah, aber plötzlich war es aus ihm herausgebrochen: «Was willst du, das wir tun sollen?»
«Ihr sollt anderen weitersagen, was ich gesagt habe», war seine Antwort.
Kaleb hatte aufmerksam zugehört. Auch er fühlte sich auf seltsame Weise von Jesus angezogen. Er konnte nicht sagen, was ihn antrieb, aber plötzlich stürzte er vorwärts und fiel vor ihm auf die Knie.
«Hilf mir», bat er, «ich bitte dich, hilf mir!»
Die anderen blickten verwirrt drein, irritiert durch Kalebs Verhalten.
«Du glaubst, ich kann dir helfen?», fragte Jesus.
«Ja», sagte Kaleb voller Inbrunst, «ja, das glaube ich, ja!»
Jesus betrachtete den erregten Mann mit seinem verkümmerten Arm, dessen Augen ihn inständig baten.
«Steh auf!», sagte Jesus eindrücklich.
Kaleb erhob sich.
«Deine Sünden sind dir vergeben. Gib mir deine Hand.» Stumm streckte Jesus seine Hand nach Kalebs verkümmertem Arm aus und wartete.
Da, Bewegung! Ja, Leben sogar kehrte in den Arm zurück. Kaleb konnte ihn Jesus entgegenstrecken, ganz langsam, bis ihre Hände einander berührten.
Tränen stürzten aus Kalebs Augen.
«Gelobt seiest du, o Herr unser Gott, der du Wunderbares schaffst!» Kaleb schrie es heraus, weinte und dankte dem Unsichtbaren, dem großen Herrn der Welt.
«Dein Glaube hat dich geheilt», sagte Jesus, «geh in Frieden deinen Weg.»
«Ich kann ihn wieder bewegen», rief Kaleb, «seht doch!»
Er schwang seinen Arm umher. Wild schwang er ihn herum und die anderen blickten völlig verblüfft. Kaleb konnte nicht mehr an sich halten, eine große Freude brach aus ihm heraus, er lachte, weinte und lief davon. «Mein Arm», rief er begeistert, «mein Arm ist wieder mein Arm!» Er rief es immer wieder und zeigte es jedem, der es sehen wollte: «Seht, mein Arm ist wieder mein Arm!»
Jesus sah seine Vettern und Freunde an, die immer noch nicht ganz fassen konnten, was sie da eben erlebt hatten.
«Kommt», sagte er zu ihnen, «ich werde euch alle zu Menschenfischern machen.»
Ohne ein weiteres Wort, ohne den geringsten Zweifel oder das kleinste Zögern standen Simon, Andreas, Jakob und Jo-hannes auf. Sie ließen ihre Netze, wo sie waren, und folgten Jesus.
Die Nachricht von dem, was Jesus getan hatte, breitete sich blitzschnell aus. Dafür sorgte Kaleb. Somit war es nicht verwunderlich, dass viele Menschen kamen, um Jesus zu sehen, als bekannt wurde, dass er zu Simons Haus gegangen war. Und es kamen natürlich jene, die an das Wunder glaubten und ebenfalls seine Hilfe suchten. Ihr Glaube an seine wundersame Kraft wurde umso stärker, als sie hörten, dass er auch Simons Schwiegermutter endlich von ihrem Fieber befreit hatte.
An diesem Tag heilte er kranke Menschen bis in den späten Abend hinein.
«Dein Glaube», sagte er jedem, der geheilt wurde, «dein Glaube hat dich geheilt.»
Am nächsten Tag jedoch zog er sich zurück. Keiner konnte ihn finden. Er hatte Mitleid mit den Behinderten, den Tauben und den Blinden, aber er wusste, dass es auch noch andere gab, bei denen das Leid keine äußeren Merkmale hatte, bei denen es tief im Innern saß. Auch jene hatten ein Wunder nötig. Die ganze Welt, das wusste er, hatte ein Wunder nötig – das Wunder der Liebe.