Читать книгу bernsteinhell - Roma Hansen - Страница 8
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ОглавлениеSolche Nebelschwaden lagern auch nahe Helenas Kate auf den Feuchtwiesen. Schummrig nur dringt Licht in die Küche, deren Wände ein Film dumpfer Feuchte bedeckt, während Helena standhaft den Tag beginnt und Kaminasche in einen Kübel kehrt. Sie erinnert das irre Gemenge in ihrem Traum, dessen Morgenröte, zart wie Malven am Obstgarten in strahlender Sommersonne. Doch saust ihr Blick vom Besen fort, und die Schultern rücken hart aufwärts. Denn da sind sie wieder, klar in der Asche sichtbar! Fuchs und Hase hängen im Lauf fixiert in der Luft des Traums, und vor dem Geruch vom Schilf, der deutlichen Melancholie vom Mantelsaum.
„Nein, halt, nicht weiter, ich will da nicht rein!“
Ihr Ruf rumpelt durch die Feuerstelle, hallt in den Schlot, zittert am Besen. Die Jagd der Tiere war in der Natur. Nun sind sie starr fixiert. Ein Rätsel, das sie löse, wärme sie ein Feuer.
Bald knistert es unter dem Wasserkessel, zum Wärmen daneben steht das Frühstücksmus mit Sauermilch. Jetzt hält Helena nichts mehr auf. Sie greift in die Truhe, zieht die Sagen von Karl Eduard Haase heraus, schlägt abgegriffene Seiten um, die mit den Mähren über Bäume, deren Wispern sie lauschen müsste, um zu verstehen. Sie legt es zurück auf die mystischen Sagen, die Joos ein Verdruss waren, aber ihr, in der Achtung ihrer Bestimmungen und Impulse durch lebendige Natur, immerzu Freude bereiten. Dafür ist nicht die Zeit, kühle Morgenfrische streift heran. Die Kaminglut glimmt schwach nur. Helena stapelt Scheite zu einem Stern, der lange abbrennt. Dann sortiert sie aus der Truhe rasch die löchrigen Socken in einen Weidenkorb hinein, bevor sie sich an ihr Frühstück setzt.
Dabei in einem Buch über Tiere in Wald und Wiese blätternd, stutzt sie bei einem mageren Tier mit struppigem Fell gezeichnet, ein Rotfuchs mit weißer Brust und buschigem Schwanz. Weiter hinten hockt in einer Mulde harter Dünengräser ein Hase, mit den Hinterläufen im Sand schaufelnd.
Helena stockt unvermittelt bei hübsch gezeichneten Rindern. Solche Flecken bedecken die Flanken ihrer Kuh, die auf ihr Melken wartet. Nur winzige Decken wären zu stricken aus dunklen Fäden, für Kälbchen, deren Ohren am Kopf abstehen. Könnte aus den Traumtieren Spielzeug für Kinder werden? Stricken könnte sie einen tapsigen Fuchs, und ihm Knopfaugen sticken. Ja, dafür taugen Joos’ Socken, und die Bilder in den Schulbüchern.
Sie steht auf, behaftet von ihrer planenden Fantasie. In der Scheune klaubt sie zum Ausstopfen der Stofftiere Heu vom Boden auf in einen Sack. Dabei den Aalreusen näher kommend, fixiert sie die, als stören sie ihre neu errungene Aussicht. Je nun, damals stieg Joos damit in die Mündung der Beek. Sollte sie auch das übernehmen?, fragt sie sich, und denkt weiter. Steige sie in die Beek, wird der Rock nass, auch wenn sie ihn schürze. Stört nur. Eine Hose von Joos ziehe sie an und im Stall. Seines wurde ihres. Ja! Sie grabe den Kopf nicht ins Heu hinein - bessert die Aussicht nicht.
Helena wedelt mit der Hand durch die Luft, die leidige Befangenheit verscheuchend. Nun schwappt ihr eine zurückliegende Zeit vor Augen, als Joos wegen ungeklärter Ursachen kompliziert wurde. Ein Gang an die alte Eibe half. Deren bernsteinhelle Sonnensprenkel im Grün flirrten ein Willkommen. Im Dämmerlicht tief darunter, raschelte magisch der Schemen des Wuschelhaares, rotgrau, schulterlang gewachsen dem hüfthohen Wesen vom anderen Volk. Völlig außer Atem sprang es, plötzlich wie wild vor ihre Beine. Zu Boden gestürzt, schlief sie ein im Eibenduft, träumte vom Werktisch der Kammer. Eine Kinderstimme plapperte nebenan. Nachschauen wollte sie, nur verging ihr der Impuls. Erwacht, wusste sie, weshalb der Zwerg atemlos war. Zu kurze Beine. Er bündelte all sein Feuer in dem einen Tritt, damit sie der gütigen Eibe lausche. Sie weist nicht nur den Weg ins Jenseits, auch den ins Recht im Diesseits, für ein Anerkennen des Mannes Joos, und sie sich, in der Erwartung seines Kindes.
Umsonst war es gewesen, wie die leere Kammer. Nun liegt die einst gesehene Vision neu in ihrem Atem und sagt, Joos' Tod ändere am Recht im Leben kein Fitzelchen, auch nicht die Erde unter der Eibe. Auch ihr Alleinsein verebbe, während sie sich dem widme, was mit der Hände Arbeit gedeiht.
Erfüllt von ihrer Erkenntnis, die ihre Hoffnungslosigkeit verdrängt, folgt sie diesem Vorsatz und greift aus dem Heu einen Ballen, trägt den zur Box, streichelt anschließend die warme Flanke der Kuh.
Beim Melken zupft die Kuh gemächlich Halme aus der Schütte, muht ab und an zufrieden. Helenas Gedanken fliegen derweil zum Schiet unter ihr, zur Miste draußen, zu dem Wetterpfeil auf eisernen Willen, schichte sie den Haufen um auf Kartoffel- und Gemüseacker. Einzig ihr Stolz, so erkennt sie bald, darf nicht auf die Miste! Er bewirke den Mut mit den Ahlbeeker Viechern im Stricken. Die Eibe blinke ihr doch wie das Leuchtfeuer am Turm seewärts zu, beseele sie. Indes fehlt irgendetwas doch noch, während die Milch in den Eimer rinnt, der Hals der Schwarzgefleckten einmal schaukelt.
„Fühlst du mit? Dir liegt die Käserei näher“, raunt Helena ihr zu, drückt ihre Stirn ins Fell der Flanke.
Unruhig stampft ein Hinterbein auf, das Helena tätschelt, dann aufsteht, den Melkschemel nahebei zwischen zwei der Streben im Ständerwerk der Pfosten klemmt. Weite Kuhaugen drehen sich ihr zu, und kehliges Muhen, dem sie sich nähert. Die Zunge der Kuh leckt durch ihr Gesicht. Kichernd wischt Helena den Seim am Ärmel ab, ergreift den Milcheimer und den Jutesack mit Heu.
So schnell wie möglich quert sie im Hof das böige Wehen; es trug die Nebelschwaden fort. Ihr Herz klopft deutlich rascher, als sie bald darauf vor den Socken am Tisch sitzt. Sie ribbelt und sortiert Wolle nach den natürlich grauen Farbtönen der Schafe und weiß nichts Wichtigeres zu tun, bis das abendliche Zwielicht sie zum Melken ruft. Helena versorgt flink die Schwarzbunte, prägt sich deren Formen ein, schon dabei überdenkend wie es weitergeht.
Der Bogen aller Körper wäre in gleicher Art wie im goldenen Schnitt zu entwerfen, auch die kräftigen Hälse, kurze Beine, Pfoten und Hufe. Das Verhältnis bestimmt, wie eines wirkt, ein Tier an den Beinen steht. Eine Passe aus Stoff würde es hübsch betonen. Kapuzenjacken mit Ärmeln sollten es werden, mit deutlichen Nähten an Kopf und Maul, in die Kinder später hinein beißen dürfen. Dafür würden Joos’ Küstenklamotten dran glauben müssen.
Bis weit in die Nachtstunden hinein heftet Helena. Sie gibt verstimmt ihre Entwürfe für tadellose Schnittmuster auf, als an die Fenster immer öfter Hagel knattert. Eindringlich pfeift der Luftzug über die Dielen, flirrt und kreiselt im Kamin in Glut und Asche. Die kehrt Helena zusammen, und geht schlafen. Traumlos verläuft die Nacht, in der sich ein Sturm absoluter Art ungebremst entlädt.
In den nächsten drei Wetter verhagelten Tagen hört Helena ihre Schwarzbunte in gereizten Tönen muhen und überdrüssig quengeln. Fast erwartet Helena, den massigen Kuhkörper im Dreieck in der Streu springen zu sehen. Sie selber täte es, würde es das Drama abstellen. Allein ihre Gewissheit lenkt sie ab, irgendwann ende es, nur einander im Anlehnen zu halten. Doch ihre triste Unruhe bleibt. Die kurzen Wege in der Scheune und zwischen den Wänden der Kate reichen nicht aus. Am nächsten Morgen stiefelt Helena, den Kopf umhüllt und in den Mantelkragen gezogen, in eiskalter Februarluft ans Ufer. Am Wasser driftet ein Boot mit erdbraunem Segel gen Horizont. Den Vorgang überträgt sie auf sich.
Fischer geben nie auf, schippern immer. Auch wenn sie auf Wellen der Armut um Seelenruhe ringen. Joos sprach genau das für sein Drücken vor der Feldarbeit. Auf ewig nun. So ewig muss ich bewahren, was mich erhält. Viel Feines schon entdeckte ich, strickte nach Eingebung. Die führe weiter, folgert auch Lehrer Johann aus den Wolken, an denen er sich besinnt. Und die Seeluft hilft mit, das Grobe von einst durch Feines im Jetzt zu ersetzen, alte Flausen zu vertreiben.
In solch gnadenvollen Gedanken, atmet Helena tief erlöst in die Brust unter ihre verschränkten Arme, geht am Ufer ostwärts. Sie gelangt an die Verwüstung des Sturms. Zur Flutgrenze hängen Kiefern mit verkeilten Kronen, teils entrindet von der sandigen Brandung. Helena hangelt sich hindurch und zum Pfad des flachen Findling, der Landmarke nach Swinemünde.
Sie springt auf den Stein. Zutiefst vom Toben der Elemente betroffen, ignoriert sie den wüsten Windbruch, blickt seitwärts hinab. Am Strand gehen ein paar Heranwachsende in Winterjacken. Ab und an beugen sie die bemützten Köpfe tiefer, wühlen mit den Händen im Sand, sammeln eindeutig Bernsteine. Kaum angedacht, stockt Helenas Atem, flirrt ihre Sicht als träfe sie Hagel, wiederum zur Erledigung restlicher Geschäfte umgeschwenkt. Im Gesprenkel gewahrt sie eine Bewegung aus dem borstigen Dünengras oberhalb hervorkommen.
Zwei torkelnde Männer mit Schirmkappen wanken heraus, heben die Füße nicht. Ihre Stiefel stieben Sandregen auf, als hätten sie Spaß. Sie schlingern zum Wasser, und laufen davor ungestüm seitwärts, entreißen die Beutel den Sammlern, zerren sie grob an den Armen mit sich.
Helena atmet stoßweise, es klärt ihre Sicht auf den Strand, aber schickt ihr erregende Stiche in ihr Gemüt. Ihr Blick wandert wie gefesselt unten umher. Das dort sieht sie nicht zum ersten Mal und spürt, im Grunde oft entkommen zu sein. Sicherlich, vor allem, denke sie an Joos’ Verbot, der mit den rangelnden Kerlen erstklassig umgegangen wäre. War es so gewesen?
Eine kleine Scham spürt sie Gestalt annehmen, er hätte mehr Kraft. Dieser Regung folgend, wird sie ihrer Kraft sicher. Nicht weniger vehement verfolgt sie das Geschehen, unter ihr erzittert der Stein, auf dem sie steht. Doch mehr irritiert sie ihr Nichtverstehen des unten nur sichtbaren Geschreis, vor dem der Wind an- und abebbt, und in den hinein sie murmelt: „Kinder, brutal erwischt ...“
Ein lausiger Moment vergeht. Dann sieht sie nahebei am Rand der Böschung zwei weitere hinunter spurten, sie rufen und fuchteln. Die Männer blicken rückwärts. Ungestüm reißt ein Kind sich von ihnen los, tritt eine Spur in den Sand und stolpert in ein von Gras bestandenes Areal, verliert seine Mütze vom roten Haar. Das andere Kind zerren die Männer fort. Helena seufzt, ob des Schauers, was dem Kind in den Fängen der Männer blühe. Sie springt vom Stein, um zu der Chaussee zu gelangen, die Richtung Swinemünde führt, und daran einfacher umzukehren.
In den Hagelwehen darauf fährt eine schwarze Kutsche an. Unter den Rädern spritzen knirschende Eisklumpen, als sie an Fahrt gewinnen. Der Kutscher peitscht die beiden Gäule, mehr als nötig wäre. Voraus auf Helenas Seite zwängt sich der Rotschopf durchs Randgestrüpp und setzt an, hinüber zu sprinten. Zu ihm lenkt scharf der Kutscher sein Gespann. Der Junge kippt beim Ausweichen und stürzt rücklings ab, hält jäh sein Knie, schreit scharf und laut heraus. Dann bricht seine Stimme.
Im Moment des Vorbeifahrens schaut ein alter Mann durch das Rückfenster. Sein kalter Blick trifft Helena, stoppt abrupt ihre Schritte. Ein befehlendes Klopfen im Wageninneren hört sie. Der Kutscher lenkt zur Mitte der Chaussee. Kleiner und kleiner wird der schwarze Punkt zwischen den winterlich kahlen Bäumen. So lautlos wie die Böen an den Ästen rütteln, so verhallt das Trappeln der Hufe .
Helena wirft die Arme hoch. Sie eilt zu dem ins Gebüsch Gestürzten. Eines seiner Hosenbeine tönt rot sein eigen Blut, tränkt einen größer werdenden Fleck. Angst und Entsetzen verzerren sein Gesicht. Hilflos zwinkert er. Seine Pupillen gleiten umher, nehmen Helena gar nicht wahr.
Keuchende Stimmen nahen. Die Halbwüchsigen, zuvor lenkten sie die Häscher ab, steigen über die schneebedeckte Böschung. Im Lauf noch streifen sie ihre Beutel von den Jacken. Der Größere hockt sich nieder und rüttelt an den Schultern des Gestürzten.
„Du bist nicht zu uns gerannt“, raunt er vor den wirren Augen, aber ändert damit nichts.
Der Rotschopf stöhnt nur kurz noch. Bewusstlos sackt er ab, gibt alle Spannung frei, sein Kopf sinkt zur Seite. Eine Beule wächst im Haar hoch auf, knapp vor der Schläfe, dem Ohr.
Erschüttert sinkt der Kleinere, herangekommen, auf die Knie, kauert mit hängenden Armen daneben. Er schlüpft aus seiner Jacke, bedeckt die blutige Hose, lagert den Kopf in seinen Schoß und stülpt ihm seine Mütze über.
„Lieber Bruder“, murmelt er leise. „Vater kommt und holt uns auf der Postrunde hier ab.“
Sein Wispern hallt ringsum in die frostkalten Böen, und erzeugt in Helena ein grausiges Erkennen.
„Marthas Söhne seid ihr? War der andere auch ein Bruder?“
„Nee, der ist von Bansin. Wir wechseln ab, wer aufpasst.“
Auf und ab blickt er mit weiten Augen, vom Kopf im Schoß zu Helena, die eigentlich auf mehr wartet.
„Wohin habt ihr denn aufgepasst? Eure Warnung kam zu spät, Betrunkene waren das keine! Ich kann kaum glauben, wie naiv ihr seid! Nun wisst ihr, wie das Leben spielt! Euer Bruder wird sich obendrein unterkühlen.“
„Soll ich ihn wach machen?“ Er klatscht ihm sogleich seine kleine Hand auf die Wange.
„Lass! So merkt er nicht, wenn wir ihn verfrachten müssen“, erwidert der größere Bruder, der schon aufspringt, sich umschaut in beiden Richtungen. Er scharrt mit dem Fuß im Schotter und reckt das Kinn, gerade so als mache ihm der Vorfall nichts aus, doch zucken seine Lider.
„Wir wurden nie ausgeraubt. Der Bansiner bezieht Prügel zum ersten Mal. Pech, die zahlen keinem von uns ein paar Pfennige.“
„So kaltschnäuzig? Du warst doch auf ihn angewiesen! Hätte dich treffen können.“ Helena knotet ihr Kopftuch ab, reicht es ihm und lächelt aufmunternd. „Bevor das Warten kein Ende nimmt, und er noch mehr Blut verliert, lege ihm einen Pressverband an. Das lerne aus eurer Misere. Roll deinen Beutel als Kompresse fest zusammen.“
Er scharrt abwägend im Schotter. So oder so haben ihm die Freundinnen der Mutter nichts zu sagen. Doch ein Glück im Pech fühlt er, als seine gesammelten Bernsteine wie Hagel prasseln, hinein in den Beutel des Bruders. Er kniet sich gehorsam neben das blutige Hosenbein, und vermeidet es, genauer hinzusehen.
Nach einer halben Stunde des Bangens galoppieren die Pferde der Postkutsche endlich heran. Die zügelt der Fahrer im Nähern. Helena sieht er an, seine Söhne. Steifbeinig steigt er ab und nimmt den Verletzten in die Arme, hebt ihn in die Kutsche.
„Wärmt ihn mal“, keucht er, rau vor Zorn, durch die Zähne.
Helena mag sich nicht vorstellen, wie er auf der Fahrt heim wüte, der Morgen des Sammelns von aus der Ostsee ausgewaschenen Bernsteinen hätte seinem Sohn das Leben kosten können. Sie eilt heim, bei jedem Schritt bemüht, die Begegnung zu vergessen.
Während sie die Hintertür öffnet, drängt schon eine Gewissheit ihrer selbst in Helena auf. Und Mut für die Stiege in der Vorratskammer, um hinaufzusteigen unters Dach, selten benutzt im Winter.
Dumpf im Schulterschlag, stemmt Helena die Bohlentür auf in den Dämmer der Sparren, und hockt sich am Giebelfenster vor die Seemannstruhen, öffnet die ihre. Darin lagern in der Schatulle Urahnin Elis Segeltuchbeutel, von ihr an der Landverbindung der Halbinsel Hela mit Bernsteinen gefüllt.
Gedankenvoll schaut Helena auf den geheimen Schatz, zu dem ihre Mutter riet, er halte die Sorge um das nächste Stück Brot fern. Verbrauchen dürfe sie etliche Bernsteine, sollte neue sammeln, sobald sie könne. Den Schatullendeckel mit der Rosette streichelt Helena wissend, nach dem Sturm sei eine gute Zeit zu sammeln. Ein Finger zentriert sich am Mittelstein der Rosette, am Ritzmuster der Rune, und spürt, mehr als erkennbar im wenigen Licht vom Fenster, die Kerben des seltsamen Zeichens. Ungleich lange drei Linien, spitz über Eck stehen sie über Kopf, als würden sie den Urquell des Bernsteins anheben, und zum Sieg über die Not verhelfen.
So winzig fein ihre Macht, dankt nun Helena still dem Urgroßvater, auf seinen Handelsreisen nutzten ihm die Runen. Ihr eröffnet der Moment, was ihr Herz für nötig zu erkennen erachtet.
Helenas schmale kalte Hand streichelt vorne den Deckelrand. Ritzmuster an drei Steinen verlaufen in ungleichen Formen, und vermitteln der sinnlichen Weite ihres Herzens den Anblick unermesslicher Tragkraft. Rechts am Eckstein sind Kerben dem Mittelstrich jeweils unten und oben angefügt, weisen spitz nach außen wie bei einem Haken, der etwas aufhängen und erfolgreich tragen kann, etwas sehr leicht auswechselbares. Helena sieht spontan die immergrünen Zweige der Eibe, spitze Nadeln. Tief drückt das Bild in ihre Seele, und vor die Hindernisse vor dem Erfolg mit ihren Stofftieren. Doch wie das Immergrüne und deren Duft, atmet sie den Anblick der Rune ein. Sie schöpft Mut zum Erfolg aus ihrer Zukunft und aus fernen Orten, an denen Wunder geschehen.
In der Ecke unten links liegt ein Stein, dessen Linien ihr unheimlich sind. Mystisch kreuzen dort zwei Mittelbalken die lange Kerbe. Wie schon oft, kreiseln sie Helena vor Augen. Not steigt ihr auf, sperrt als Kloß den Hals. Zuerst. Den Kloß zerschlägt kraftvoll ihre Atemwärme. Notstand muss ausgeräumt werden, Schutz und Geborgenheit sollen innen leben. Wie das Licht eines klaren Eiskristalls kann ihr Unbeschwertheit dazu verhelfen. Bald betrachtet sie genauestens die Mitte der Deckelkante, darin den Bernstein mit kreuzenden Linien zwischen aufrechten Kerben, ähnlich einer Fahne, seitlich weist ein Dorn nach links. Helena richtet sich aus, wächst ein Stück in diese Bindung hinein, die sie vorhat. Und sie räumt aus, was in ihr noch von dem Unnötigen im Gemüt sie bremst und zwickt, als gäbe ihr gerade diese Rune die Resonanz auf kommenden Geldsegen.
Helena versteht es, klappt den Deckel zu und drückt daneben Joos’ Truhe auf, ertastet Dokumente und eine sperrige Socke. An der abgewetzten Ferse lugt Papier hervor. Sie legt den Strumpf auf ihren Schoß. Tiefer im Truheninneren tupft sie auf einen zweiten, nachgiebig voll. Sie löst den Knoten, und steckt die Hand hinein. Leichte Bernsteine rieseln, deren Leuchten sie ahnt.
Plötzlich sieht sie Joos an der Tür auf Socken, und hört ihn verdreht reden von seinem Notgroschen. Die Not haue ihn aus den Socken, und, wer ohne Schuhe gehe, stehe unter einem schlechten Omen, würde sich bald keine mehr leisten können. Doch das war oft gehört, und jetzt sowieso nur lästig und hinderlich. Sie verscheucht ihn mit abwehrender Hand, knallt den Deckel auf seine Truhe. Die beiden Wollsocken in ihren vor Kälte steifen Fingern, steigt sie die Stiege herunter.
Joos’ Gold der Armen kippt sie am Tisch aus, bedeckt die halbe Platte mit seinen Notgroschen, und entschließt sich vor diesem Reichtum, noch vor Beginn ihrer Arbeit im Lebensmittelladen fahre sie nach Stralsund. Die Stofftiere müssten doch in einem Kaufhaus unterzubringen sein, und nachfragen um Geschäfte mit Bernstein könnte sie auch gleich dort.
Ihren Mantel wirft Helena auf den Haken an der Küchentür. Er baumelt, indes sie im Kamin ein Feuer anzündet, den Wasserkessel füllt, die Teekanne vorwärmt. In die Kök hinein zieht allmählich Wärme, die ihre Unruhe kaum lindert. Vieles bringt sie aus dem Lot. So, wie in der anderen Socke die Zeitung, und das ausgewickelte Intarsienkästchen. Unter dem Datum des Ostseebeobachters prangt eine in Fett gedruckte Zeile: Dampfer sank nach Kesselexplosion. Ja, ja, Joos fischte nach Treibgut, geht ihr auf. Und sein Bangen, die alte Flause, empört sie obenauf wie seine lange ertragene Lebenslüge.
Kurzum öffnet Helena den Schließhaken. Der Kasten zeigt ein Pfeifenbesteck in Laschen, wellig vom Seewasser. Sie klappt den Einlegeboden herauf. Wo sonst Tabak aufbewahrt wird, da liegen trübe Reichsmarkmünzen. Gestockt sind sie, doch blinken blank wie ein Berg von reinem Gold für Helenas vollkommenes Dasein, feuern an gegen den Glauben an Mangel, und für einen nächsten Schritt.
Schauer rieseln warm über Helenas Kopf und Ohren, die sich ausrichten zum Kamin. Na gut, dessen rissiger Schlot bietet ein Versteck an. Sie reckt sich hinein in den rußigen Rauchfang.
In der Nacht wärmt eine Kanne Tee Helena. Dabei strickt sie so nachgiebig wie sie an Martha denkt, die um das Leben ihres verletzten Kindes bangt. Wie sie, vor der Gefahr. Aber könnten die Häscher überall gleichzeitig sein? Eine Witwe, von Fischweibern gemieden, geht hinaus vor die Tür und an den Strand.
Am nächsten Morgen folgt Helena der Chaussee ostwärts durch den Wald, wandert am Rückerweg zur Bucht vor Swinemünde hinab. Der Kiefern horizontal gewachsene Wipfeln stimmen sie durch den nachgiebigen Zauber daran auf ein Quäntchen mehr von Zuversicht ein. Und den wolkenlos hellblauen Himmel darüber bittet sie, er möge ein Einsehen haben, auch für ihren Mut.