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Rätsel Hitler
ОглавлениеHitler ist wohl jene Persönlichkeit, mit der sich die Geschichtswissenschaft nach objektiver Zählung am meisten beschäftigt hat. Man hat zwar an sehr vielen Beispielen zeigen können, dass das nationalsozialistische Herrschaftssystem eine vielköpfige Polykratie darstellte und von einer Reihe unterschiedlicher Akteure gesteuert war. Aber Hitler war der eindeutige Führer und hat die wesentlichen Weichenstellungen selbst vorgegeben, wobei er nicht nur alle ethischen Grundlinien überschritten hat, sondern auch fremde Fachmeinungen nicht gelten ließ und sich über diese hinwegsetzte. Er war kein »schwacher« Diktator, sondern ein »rücksichtsloser« Gewaltmensch.
Der junge Hitler bietet dabei wegen der dramatischen Quellenarmut und der methodischen Unschärfen ein weites Feld für Vermutungen und Konstruktionen. Man suchte nach den familiären, inzestuösen oder homophilen Verwerfungen, nach den katholischen Wurzeln, den ideologischen Wegbereitern und den geistigen Vorbildern. Man fand tiefenpsychologische und milieubedingte Erklärungen. Für die einen ist Adolf Hitler das vom Vater geschlagene und von der Mutter verzärtelte Kind, für die anderen der verkrachte Schüler und gescheiterte Künstler, der vagabundierende Männerheimbewohner oder der über seine Verhältnisse lebende Kleinbürger. Für die einen ist er ein mittelmäßiger Provinzler, für die anderen der schon in der Jugend charismatische Gewaltmensch, für Peter Longerich, einen der neuesten Biografen, als Jugendlicher ein »Niemand«, für andere ein »Jemand«, dessen Führungsanspruch bereits in der Kindheit und Jugend vorgezeichnet war.
Doch vieles ist von Rätseln umgeben. Wie konnte ein Kind aus den entlegensten Winkeln des Landes und ohne wirklich gute Schulbildung, eigentlich ein Versager und Autodidakt, derartige Erfolge feiern? Wie konnte sich in dem provinziellen Milieu, in dem er aufwuchs, ein solch diktatorischer Charakter ausbilden, der so viele in den Bann zu ziehen vermochte? Wie konnte aus einer Familie, die für die Zeitgenossen wenig Auffälliges beinhaltete, ein Gedankengut entwickelt werden, das zur Zerstörung eines ganzen Landes und zur Auslöschung so vieler Juden und sonstiger rassisch diskriminierter Gruppen fähig war? Wie, wann und warum haben sich Hitlers Denkmodelle, Vorurteile und Leitbilder ausgebildet?
Für Hitlers Verhaltensweisen als Diktator und für seine verantwortungslosen und verbrecherischen Entscheidungen sind seine Kinder- und Jugendjahre ein wichtiger Schlüssel. Nicht nur seine Sprache und Rhetorik und sein Kunstgeschmack wurden in seiner Jugend grundgelegt, sondern auch sein nationalistischer Fremdenhass, seine Kirchenfeindschaft, sein antisemitisches Vernichtungsdenken und seine rassistischen Zielsetzungen. Tiefe Prägungen aus seiner Herkunft, seiner Familie und seinem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umfeld blieben ein Leben lang bestehen. Hitler neigte besonders stark dazu, von einmal gefassten Vorstellungen, Zielsetzungen und Entscheidungen sein ganzes Leben lang nicht mehr abzurücken.
Über keine andere historische Persönlichkeit gibt es mehr Bücher als über Adolf Hitler: wissenschaftliche und triviale. Die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 150.000 Buch- und Zeitschriftentitel, die sich mit dem Nationalsozialismus und dem NS-System beschäftigen. Es gibt einige hundert Hitler-Biografien, davon mehrere ganz hervorragende und sehr ausführliche, die aber die Jugendjahre meist nur mehr oder weniger kursorisch mitbehandeln, aber auch ein paar Dutzend Monografien über die Jugendjahre. Es gibt Bücher zu allen möglichen Facetten, Stationen und Begleitern seines Lebens, von seiner angeblichen Homosexualität bis zu den Frauen um ihn, von seinem Charisma über sein Leseverhalten, seine Religion und sein Kunstverständnis bis zu den Wurzeln seiner Ideologie und zu seinen geistigen Wegbereitern. Man findet Biografien über Hitlers Fotografen, Pressechef, Rechtsanwalt, Bankier, Chauffeur, Leibarzt und Chefastrologen, über seine Sekretärin, Diätköchin, Hebamme, über die Mutter und die Schwester, über seinen Halbbruder, seine Nichte, seinen Neffen, sogar über seine Großmutter und über angebliche Kinder, natürlich über seine Geliebte und spätere Ehefrau, aber keine über Hitlers Vater.
Dass Alois Hitler fehlt, mag an der Quellenarmut gelegen sein. Außer zwei Ansuchen über die Rückerstattung seiner Dienstkaution in dürrem Amtsdeutsch, zwei oder drei Privatbriefen und mehreren Kartengrüßen waren von ihm bislang keine persönlich verfassten Schriftstücke bekannt. Der Personalakt ist verschwunden. Die Standesdaten sind unvollständig oder schlecht gelesen und die Zeitzeugenberichte widersprüchlich, ob sie nun aus der NS-Zeit stammen oder aus der Nachkriegszeit. Zu Hitlers Kindheits- und Jugendgeschichte gibt es nur drei etwas ausführlichere Schriften mit Quellencharakter, von denen alle weiteren Darstellungen ausgehen. Quellen im historiografischen Sinn möchte man sie gar nicht nennen, weil sie eigentlich alle drei aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus mehr oder weniger Kampfschriften darstellen: Erstens Hitlers eigene Autobiografie Mein Kampf, die explizit als Propagandamedium gedacht war und als solches ein schwer entwirrbares Konglomerat aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und glatten Lügen darstellt. Auch die kritische Edition konnte bezüglich der Kindheits- und Jugendgeschichte Hitlers wenig zusätzliche Klarheit schaffen. Die beiden Veröffentlichungen von Franz Jetzinger und August Kubizek, die als die wichtigsten Grundlagen für Hitlers Jugend vorhanden sind, sind keine Quellen im Fachsinn, sondern ebenfalls Kampfschriften. Beide stecken sie voller Vorurteile und Irrtümer, sind aber dennoch als Ausgangspunkt aller weiteren Forschungen zum jungen Hitler unersetzlich, wobei sich die dort enthaltenen Fehler oft durch alle nachfolgenden Veröffentlichungen fortpflanzen.
Mehrere wichtige Quellenfunde haben das mit einem Male verändert: erstens ein dickes Bündel vergilbter Briefe Alois Hitlers in zeittypischer Kurrentschrift, die auf einem Dachboden über den Kahlschlag der NS-Zeit hinweggerettet werden konnten und dem Autor zur Verfügung gestellt wurden.3 Diese sehr inhaltsreichen Briefe und Dokumente, die Alois Hitler an den Straßenmeister Josef Radlegger geschickt hat, vervielfachen mit einem Schlag nicht nur die Ego-Dokumente zur Familie Hitler vor dem Ersten Weltkrieg, sondern eröffnen auch einen völlig neuen und genaueren Blick auf jene Person, die auf Adolf Hitlers Werdegang zweifellos den größten Einfluss hatte: seinen Vater.
Dazu kommt, dass auch der Vertrag über den Hausverkauf Alois Hitlers in Wörnharts aufgetaucht ist und damit in die finanzielle Situation der Familie mehr Klarheit kommt. Nicht zuletzt ist mit der Auffindung der handgeschriebenen Urfassung von Kubizeks Buch aus dem Jahr 1943 eine sehr viel kritischere Sicht auf Hitlers Linzer Jugendjahre möglich geworden. Dass es auch gelang, mit zusätzlichen Meldedaten einen einjährigen Aufenthalt der Familie in Urfahr in den Jahren 1894/95 zu beweisen, schafft nicht nur die Behauptung aus der Welt, dass Alois ein Jahr lang getrennt von seiner Frau und den Kindern gelebt habe, sondern bringt auch neue Fragen, weil der damalige Hausherr der Familie einer der reichsten Linzer Juden war.
Auch längst bekannte Quellen fließen durch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung plötzlich sehr viel reichlicher. Der Zugang zu den Pfarrmatriken ist sehr viel leichter geworden. Vor allem hat die Digitalisierung von Zeitungen und Zeitschriften neue Erkenntnisse eröffnet. Vor allem die Linzer Tages-Post, die von der Familie Hitler nicht nur regelmäßig gelesen wurde, sondern für die Alois Hitler auch selbst Leserbriefe und Artikel verfasste und in der er immer wieder auch Annoncen und Anzeigen platzierte, ergänzt die neu zum Vorschein gekommenen Quellen. Wie bedeutsam diese Tageszeitung für die Familie und auch Adolf Hitlers Jugend war, bekräftigte er noch im Jahr 1944: Sehr traurig sei der Führer, notierte Joseph Goebbels 1944 in sein Tagebuch, dass in Linz die Zeitung eingestellt worden sei, die er schon in frühester Jugend gelesen und für seinen Vater gekauft habe.4 Auch August Kubizek erinnerte sich, dass er Frau Klara damals immer wieder bei der Lektüre der Tages-Post angetroffen habe.5