Читать книгу Darum bin ich wie ich bin - Romy Meißner - Страница 4
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ОглавлениеAm 2. August 1985 erblickte ich in einem Krankenhaus in Dresden das Licht der Welt. Alle Babys sind ja süß, aus der Sicht aller Menschen. Für mich nicht. Babys sind für mich einfach nur Babys. Alles was ich bis zu meinem sechsten Geburtstag erlebte, weiß ich nur von Erzählungen meiner Mutter. Ich erinnere mich an diese Zeit überhaupt nicht. Als ich zwei Monate alt war, und meine Mutter mit mir bei so einer allgemeinen Untersuchung war, zu der Säuglinge wohl immer müssen, bemerkten die Ärzte meine unterschiedlich groß ausgeprägten Pobacken. Nach weiteren Untersuchungen stellten sie Hüftdysplasie fest. Als Erläuterung für diejenigen die davon noch nie etwas gehört haben: Hüftdysplasie ist eine Sammelbezeichnung für angeborene oder erworbene Fehlstellungen und Störungen der Verknöcherung des Hüftgelenks beim Neugeborenen. Die Hüftdysplasie kann dabei alleinstehend oder zusammen mit anderen angeborenen Fehlbildungen vorkommen. Die alleinstehende Hüftdysplasie ist erheblich häufiger anzutreffen und findet sich weitaus häufiger bei Mädchen als bei Jungen. Es werden mehrere Faktoren als begünstigend oder teilweise verursachend angesehen: ein Faktor ist die Beckenendlage. Die Symptome der Hüftgelenksdysplasie sind zunächst Seitenungleichheit der Pofalten und Bewegungseinschränkungen der betroffenen Hüfte beim Strampeln. Ohne Behandlung kommt es bei schweren Formen zu bleibenden Schäden des Hüftgelenks mit Hinken, Gangstörungen und Schmerzen. Ich gehörte zu denen „ohne Behandlung“, aber dazu später mehr.
Die Ärzte stellten also fest, dass mit meiner linken Hüfte etwas nicht stimmte und somit musste ich im Krankenhaus bleiben. Sie banden mir Streckbänder um die Beine mit tellergroßen Gewichten. Mit diesen Bändern ließen sie meine Beine nach oben ziehen, sodass die Bänder an einer über dem Bett befestigten Stange herunterhingen und meine Beine durch die Gewichte nach oben gezogen wurden. Nach sechs Wochen in dieser Haltung wurde die Anbindung so geändert, dass meine Beine gespreizt fixiert und durch die Gewichte gezogen wurden und nach weiteren sechs Wochen in gerader gestreckter Haltung ebenfalls für sechs Wochen. Da ich kein Arzt bin, kann ich nicht sagen was das bringen sollte. Aber ich habe später im Leben einige Menschen getroffen die auch mit Hüftdysplasie zur Welt kamen, bei denen diese Methode auch angewandt wurde und es half. Diese Menschen hatten nichts Auffälliges an sich und waren gesund. Bei mir half das ganze Streckbänderprozedere nichts. Schließlich versuchten sie es mit einer Operation. Ich war sehr lange im Krankenhaus. Für ungefähr sechs Monate mit zehn Kindern in einem Zimmer. Meine Oma erzählte mir später, dass alle immer nur geweint und geschrien haben. Nur ich habe immer gestrahlt wie ein Sonnenschein.
Vor einiger Zeit bei einer Sitzung mit meiner Psychotherapeutin unterhielt ich mich mit ihr über diese Zeit und sie erklärte mir, dass da bereits meine erste Traumatisierung stattfand. Denn ich hatte keinen großen Kontakt zum Menschen, den Säuglinge brauchen. Meine Mutter kam zwar jeden Tag nach der Arbeit und gab mir die Flasche. Aber Studien haben bereits dargelegt das das Stillen mit der Brust sehr wichtig für die Bindung zwischen Mutter und Kind sei. Ansonsten gab es nur das Krankenhauspersonal aber ich denke mal, dass ich die meiste Zeit des Tages einfach nur in meinem Bettchen lag, mit den schweren Gewichten an meinen Beinen, und die Wand oder Decke anstarrte.
Als meine Mutter mich nach der Operation besuchte und auf den Arm nahm, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Ich wollte mich nicht anfassen lassen und hatte Schmerzen. Eine Krankenschwester gestand meiner Mutter, dass sie ihr eigentlich nichts sagen wollten aber das bei der Operation etwas schiefgegangen sei. Den Ärzten sei bei dem Korrekturversuch meine Hüfte weggebrochen und statt den Fehler gleich zu beheben, haben sie die Operation beendet und den Oberschenkel zugenäht, in der Hoffnung das die Knochen der Hüfte schon irgendwie verwachsen. Meine Mutter hatte dagegen nichts gesagt oder getan. Ich denke sie war damals überfordert und glaubte auch den Ärzten. Man setzt auch Vertrauen in die Mediziner. Die sollten wissen was sie tun. Als ich mit ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahren erfuhr, wie alles damals war und dagegen vorgehen wollte, sagte man mir es sei verjährt. Schade. Ich hätte schon gern Schadensersatz gesehen. Aber meiner Mutter mache ich da keine Vorwürfe da sie gutgläubig war und den Ärzten vertraute. In der Hoffnung, dass alles irgendwie zusammenwächst, wurde ich eingegipst. Vom Brustkorb an abwärts. Zwischen den Beinen wurde eine Stange befestigt und ich bekam den Ausscheidebereich frei. Dieser Zustand blieb ein Jahr. Alle sechs Wochen wurde der Gips gewechselt. Irgendwann wurde auch von einem geraden Liegegips zu einem Sitzgips gewechselt. Da wurde ich im Sitzen eingegipst und beim Schlafen waren die Beine eben oben. Aber nur, weil ich von der Brust an eingegipst war, hieß das nicht, dass man mich einfach irgendwo hinsetzen oder hinlegen konnte und dann blieb ich da. Ich bewegte mich und den schweren Gips mit meinen Armen vorwärts. Wenn man sich die Kinderbilder ansieht sind meine muskulösen Oberarme nicht zu verachten. Meine Mutter beklagt heute, dass sie Rückenschmerzen hat und schief läuft, weil sie mich immer mit dem schweren Gips tragen musste. Naja, es war bestimmt nicht leicht für sie. Meine Mutter war zu der Zeit eine zierliche Person und hatte sicherlich wenig Kraft.
Wir zogen 1987 von Dresden nach Velten. Im Krankenhaus Hennigsdorf wollte meine Mutter zum üblichen Gipswechseln. Mich untersuchte mal wieder ein Arzt und sagte, dass der Gips ab muss, weil ich ansonsten Wachstumsschwierigkeiten bekäme. Mein linkes Bein ist da schon nicht mehr richtig mitgewachsen und war zwei Zentimeter kürzer als das rechte Bein. Ich war um die zwei Jahre alt und plötzlich stand meine Mutter mit mir da. Ohne Hosen, Strümpfe oder Schuhe. Sie ging mit mir in ein Schuhgeschäft. Da sie nicht wusste, welche Größe ich habe, musste die Verkäuferin mehrere Schuhe ausprobieren. Meine Mutter erzählt mir heute noch oft wie schlimm das war. Ich habe den ganzen Laden zusammengeschrien, weil ich bei jedem berühren und bewegen meines Beines starke Schmerzen hatte. Ich fing an laufen zu lernen. Wenn ich davon Fotos sehe, tut es mir in der Seele weh. Das kleine blonde Mädchen mit den strahlenden Augen versucht zu laufen. Und dabei der fröhliche Gesichtsausdruck. Was mir aber auch so wehtut, ist die Fröhlichkeit und die freundliche Offenheit die das kleine Mädchen ausstrahlt, denn ich weiß, was ihr alles noch bevorsteht. Wenn ich mich auf den Bildern sehe, möchte ich am liebsten das kleine Mädchen in den Arm nehmen und beschützen.
Am linken Schuh habe ich da schon einen zwei Zentimeter dicken Absatz als Beinlängenausgleich. Das nervt und verfolgt mich bis heute. Zwar darf ich normale Schuhe im Laden kaufen, aber sie müssen eine gerade Sohle haben und am besten sind eh Turnschuhe. Egal für was immer Turnschuhe. Und dann muss der linke Schuh eine Woche zum Schuhmacher, um die dicke Sohle unter den Schuh zu kleben. Ich fand das immer hässlich und mochte auch nie Schuhe kaufen. Von Anfang an wurde auch schon das rechte Bein in Mitleidenschaft gezogen. Ich glich den Längenunterschied selbst auch aus, in dem ich das rechte Bein immer eingeknickt ließ und mit dem Knie drückte ich gegen das linke Bein um es zu stabilisieren. Ich verstehe bis heute nicht so richtig, wieso ich das rechte Bein nie gerade durchstreckte, wenn ich doch einen Längenausgleich am linken Schuh hatte. Ich sollte wohl in Velten in einen Kindergarten für behinderte Kinder. Aber da wurde dagegen entschieden, weil ich mich sonst geistig nicht richtig entwickeln würde. Also kam ich in einen Kindergarten für „normale“ Kinder. Ich weiß aus dieser Zeit absolut nichts. Aber Mama erzählt heute noch gern davon, dass ich dort mal über den Zaun geklettert und nach Hause gelaufen bin. Warum auch immer.