Читать книгу Darum bin ich wie ich bin - Romy Meißner - Страница 5

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In Velten blieben wir nur ein Jahr und zogen 1988 nach Berlin. Ich weiß, dass ich zu der Zeit noch gut drauf war. Ich bin gern in den Kindergarten gegangen und früh aufstehen machte mir nichts aus. Ich war fröhlich und offen allen gegenüber. Wenn die anderen Kinder meine Narbe sahen, machte ich Scherze darüber. Ich verglich sie mit einem blätterlosen Baumstamm oder einer Mohrrübe bei der man die äußere Schicht abgeknabbert hat. Ich glaube da spielten auch die anderen Kinder mit mir. Und ich weiß noch, ich lernte zu dieser Zeit Schuhe zuzubinden. Zu Hause nahm ich alle Schnürschuhe und machte freudig Schleifen. Der Kindergarten wurde geschlossen und wir kamen in einen anderen Kindergarten.

In dem neuen Kindergarten fühlte ich mich sehr unwohl. Ich wollte da nicht sein. Seit diesem Wechsel bereitet mir das früh aufstehen Probleme. Die Kindergärtnerin, deren Namen ich heute noch weiß aber nicht nenne, war eine furchtbare Person. Sie war eine große und sehr kräftige Frau und ließ mich spüren, dass sie mich nicht mochte. Ich weiß nicht mehr ob sie zu allen Kindern so war, aber mit mir meckerte sie nur rum. Alles was ich tat war falsch. Ich traute mich kaum mich zu bewegen oder überhaupt etwas zu sagen und saß nur ruhig in der Ecke, weil ich große Angst vor der Frau hatte. Das einzige worin ich ihrer Meinung nach gut war, war Tische mit nassen Lappen abzuwischen. Weil ich so viel Kraft hatte und den Lappen soweit auswringen konnte das er nicht mehr zu nass war. So sagte sie es und ich musste immer die Tische abwischen. Außerdem zwang sie mich Milch zu trinken. Ich weiß, das klingt aus erwachsenen Sicht nicht schlimm aber als Kind war es für mich schlimm. Ich trinke bis heute keine pure Milch. Und warm mit der Pelle schon gar nicht. Aber da musste ich. Einmal habe ich die Milch auf den Teller wieder ausgespuckt. Sie steckte mich ins Bett, weil sie der Meinung war, dass ich krank sei. Ich blieb auch artig liegen. Mir war das Recht. So ließen mich alle in Ruhe und ich konnte liegend ja nicht viel falsch machen. Dachte ich. Nur irgendwann musste ich auf die Toilette. Es war wohl schönes Wetter und alle waren draußen im Garten und spielten. Ich war allein im Gebäude des Kindergartens. Die Toiletten waren ja nicht weit weg also ging ich schnell auf die Toilette um mich danach gleich wieder hinzulegen. Bis meine Mutter kam lag ich da. Ich dachte mir noch, dass der Tag ja gut gelaufen war doch irgendjemand, ich glaube eine Putzfrau, hat mich dabei gesehen wie ich auf die Toilette ging und am nächsten Tag schimpfte die Kindergärtnerin mit mir, dass ich nicht rumzulaufen habe, wenn sie mich ins Bett steckt. Sie hatte es aber nicht einfach nur so gesagt, sondern sich richtig aufgeregt und mich angebrüllt. Ich hatte furchtbare Angst. Die Erzieherin hatte auch einen Vogelkäfig mit einem Wellensittich im Raum stehen. Einmal saßen wir alle um den Käfig um ihn uns anzusehen. Ich saß hinter allen. Weil ich eh die größte war musste ich immer ganz nach hinten. Die Erzieherin verließ kurz den Raum und der Vogel erschrak wegen irgendwas. Ich konnte es nicht sehen was da genau geschah. Ich sah und hörte nur wie der Vogel ganz aufgeregt im Käfig umherflatterte. Die Erzieherin kam zurückgeeilt und fragte böse wer das war. Die anderen Kinder sagten alle ich wäre es gewesen und somit bekam ich wieder Ärger und wurde in eine Ecke des Raumes geschickt wo ich auf dem Boden sitzen bleiben musste bis meine Mutter mich abholte. Ja das war keine schöne Zeit. Ich war allein. Keiner spielte mit mir oder wollte mit mir zu tun haben. Die Zeit in dem Kindergarten sind meine ersten Erinnerungen und auch meine ersten Erinnerungen wie ich ausgegrenzt wurde. Während alle Kinder miteinander spielten, beschäftigte ich mich am liebsten damit, mit diesen kleinen Holzbauklötzern einen Turm um mich herum zu bauen. Das war das einzige was ich dort immer „spielte“ und ich war froh, wenn grad kein anderes Kind mit diesen Bauklötzern spielen wollte. Ich stapelte sie solange um mich herum bis alle Klötzer aufgebraucht waren. Dann baute ich den Turm wieder ab und begann von neuem. Nachmittags war ein Mädchen oft mit mir eine der letzten die auf ihre Eltern warteten. Auch ihren Namen weiß ich noch. Sie sagte, wenn kein anderes Kind da ist, spielt sie mit mir, aber das durfte auch keiner wissen. Und so hatte ich wenigstens nachmittags kurz jemanden als Spielpartner. Zu Hause war ich auch nur allein in meinem Zimmer. Ich habe zwar einen Bruder, aber der ist vierzehn Jahre älter und konnte mit mir nicht viel anfangen. Außerdem war er selten da, weil er die meiste Zeit in Velten war. Ich glaube er machte da eine Ausbildung. Und er hatte eine Freundin dort, mit der er dann auch später in Velten zusammenzog. Bis das aber soweit war bestand mein „Zimmer“ aus einer Ecke im Schlafzimmer meiner Eltern wo eben mein Bett stand. Mein Bruder und ich hatten nicht viel mit einander zu tun. Aber einmal wollte er mit seinen Freunden auf einen Rummel gehen und meine Mutter sagte, dass er mich mitnehmen muss. Es war nur dieses eine Mal aber ich fand es toll und vergesse das nie. Es war schon dunkel und die vielen Lichter des Rummels und die Fahrgeschäfte fand ich toll. Ich bin mit nichts mitgefahren, sondern immer, wenn mein Bruder und seine Freunde fuhren, blieb einer bei mir und passte auf. Und damit ich lieb war kaufte mein Bruder mir alles an Süßigkeiten was ich haben wollte.

Ansonsten saß ich allein in meinem Zimmer mit ganz vielen Spielsachen. Ja, damit wurde ich von meinen Eltern überschüttet. Alles, an materiellen Dingen was ich wollte und wann ich es wollte, bekam ich. Dadurch hatten auch Geburtstage und Weihnachten keine große Bedeutung für mich. Ich wurde diesbezüglich sehr verwöhnt. Nur Liebe, Aufmerksamkeit, Zuneigung, familiäre Wärme und ein offenes Ohr bekam ich nicht. Ich erzählte meinen Eltern nie was ich an schlimmen Dingen erlebte. Zum einen weil ich immer der Auffassung war das ich selbst daran Schuld hatte wie ich behandelt wurde und zum anderen weil mir eh niemand zuhörte. Zu Hause wollten meine Eltern ihre Ruhe haben und ich musste in meinem Zimmer bleiben. Essen bekam ich ins Zimmer gestellt und aß allein. Ich begann mit Selbstgesprächen und war mein bester Zuhörer. Auf meinem Bett sitzend diskutierte ich mit mir selbst die Geschehnisse des Tages aus. Ungefähr zu der Zeit war ich eines Tages mit meiner Mutter am Bahnhof unterwegs, als ich eine Frau mit einem Yorkshire Terrier sah. Ich habe davor bestimmt schon mehrmals Hunde gesehen aber ich weiß, das, ich von dem Moment an auch einen Hund wollte. Den bekam ich aber nicht.

Im Sommer 1992 wurde ich eingeschult. Ich besitze ein Einschulungsvideo auf dem ich ganz stolz meine Schultüte durch die Gegend trage. Ich laufe zu dem Zeitpunkt schon schlecht. Ich hinke stark und mein linkes kürzeres Bein ist nach außen gedreht. Aber ich strahle und freue mich auf die Schule. Der Einschulungstag ist auch der einzige Tag gewesen, bei dem die ganze Familie zusammenkam. Auch deshalb habe ich das Video noch. Die erste Klasse lief gut. Bis auf das früh aufstehen war ich gut drauf und optimistisch das jetzt alles besser wird, denn ich war endlich von dem doofen Kindergarten weg. In der Schule ignorierten mich die Kinder größtenteils. Manche beleidigten mich aber ich ignorierte es und versuchte allem aus dem Weg zu gehen. Ich blieb für mich und nahm artig am Unterricht teil. Ab der zweiten Klasse durfte ich kein Sport mehr mitmachen. Während der ersten Klasse sagte die Sportlehrerin immer, dass ich nur das mitzumachen bräuchte, was ich kann. Und ich habe alles mitgemacht. Habe nie gesagt das ich etwas nicht kann. Ich habe immer mein Bestes gegeben und war auch super. Sport machte mir sehr viel Spaß. Und dann durfte ich es nicht mehr. Das war hart für mich. Ich durfte nur noch zusehen oder mal das Maßband halten. Die anderen Kinder meckerten mit mir, dass ich nur keine Lust hätte auf Sport und deshalb mein Bein vorschiebe. Ja, es waren die dicken Kinder die selber keine Lust hatten und neidisch waren. Ich hätte so gern mit denen getauscht. Irgendwann hatten wir auch Fahrradfahrer Unterricht. Das durfte ich natürlich auch nicht. Ich war immer die Markierung wie weit die anderen Kinder fahren durften. Das war auch schlimm für mich. Alle fuhren freudig ihre Strecke ab und ich stand nur da und musste zusehen. Ich hätte so gern mitgemacht. Auch heute noch stelle ich mir vor, das Fahrradfahren toll sein muss, wenn ich sehe wie Leute Radtouren durch die Natur machen. Aber bis heute darf ich das nicht. Im Hort wurde viel gebastelt. Das war nichts für mich. Ich war ein schlankes, quirliges Kind und wollte mich bewegen. Dieses dasitzen und mit den Händen etwas basteln war mir absolut nichts. Mir fehlte es an Kreativität und Geduld. Außerdem war es aus meiner Sicht völlig Sinnlos. Die anderen Kinder nahmen immer ihre Werke mit nach Hause um sie ihren Eltern zu schenken. Bei mir interessierte sich niemand dafür. Ich hatte mal für meine Eltern einen Weihnachtsbaum aus Pappe gebaut und aus kleinen Serviettenkugeln den Weihnachtsbaumschmuck. Als ich den dann meinen Eltern präsentierte kam keine Reaktion. Da sie ihn nicht wollten behielt ich den Baum selbst. Ich habe ihn auch heute noch und stelle ihn jedes Jahr zu Weihnachten hin. Aber an einer anderen Sache nahm ich beim Basteln im Hort teil. Da ging es darum aus Luftballons mit Zeitungspapier Ostereier zu machen. Das fand ich klasse denn dazu gehörte das man mit den Händen im Leim rumpantschen durfte. Ich wusste zwar das ich es niemandem schenken konnte aber für mich selbst gab ich mir viel Mühe das es hübsch wurde. Das machte mir riesig Spaß, so dass ich vor einem Jahr auch mal wieder so ein Osterei gemacht hatte. Ansonsten ging ich immer zur Bastelzeit mit einem Ball auf den Schulhof und spielte gegen die Schulwand Volleyball. Das war alles was mir blieb an Sport. In meiner Klasse war ein Mädchen mit einem großen Muttermal auf der linken Gesichtshälfte. Und ich meine wirklich über die Gesichtshälfte. Sie konnte mich auch nicht ausstehen, beleidigte mich und stellte mir Beine damit ich hinfiel. Wenn ich heute so an das Mädchen denke, denke ich, dass sie es in ihrem weiteren Leben auch nicht leicht gehabt haben wird. Aber damals war sie sehr gemein zu mir. Die Horterzieherin setzte sich mit uns an einen Tisch und besprach das alles mit uns. Sie zeigte uns auf, dass wir beide anders waren als die anderen und es uns nicht unnötig schwer machen sollten. Das hatte irgendwie geholfen und irgendetwas verändert. Sie ließ mich von da an in Ruhe. War sogar nett. Sie zog mit ihren Eltern weg, als wir in der dritten Klasse waren. Von da an war ich die Einzige die anders war. Ab der dritten Klasse habe ich verstanden, dass ich anders bin als die anderen Kinder, sagt mein Vater immer. Von da an wurden meine Noten in der Schule schlechter und ich wurde immer dicker. Aus der Sicht meiner Eltern lag meine Veränderung an dem begreifen meiner Behinderung. Sie wissen bis heute nicht, dass es mich die anderen Kinder deutlicher spüren ließen. Ignoriert zu werden war ich vom Kindergarten gewohnt. Nun nahmen Hänseleien und Beleidigungen zu. Die Kinder äfften nach wie ich lief und lachten mich aus. Sie nannten mich Hinkefuß, Humpelbein, Krüppel, Behindi; Omi (was sich auch so schön auf meinen Namen reimte), Plattfuß, aber auch das meine Eltern wohl Geschwister seien, weil Geschwister wohl behinderte Kinder bekommen. Wir hatten neben unserer Grundschule auch eine Oberschule von wo aus auch ältere Schüler zu uns ins Gebäude kamen. Auch für die war das anders laufende Mädchen interessant. Eines Tages war ich nach dem Unterricht auf dem Weg nach Hause als ich an einer Gruppe Jugendlicher vorbeigehen musste. Sie lachten mich aus und beleidigten mich. Ich senkte den Kopf und ging einfach weiter. Ich musste oft an solchen Jugendgruppen vorbeigehen und jedes Mal wurde ich ausgelacht und beleidigt. Eine Gruppe bestehend aus mal fünf und mal sechs Mädchen hatte es besonders auf mich abgesehen und lauerte mir fast täglich auf. Einen anderen Weg nach Hause gab es auch nicht. Ich musste an ihnen vorbei. Wie viele es immer waren wusste ich nicht genau, weil ich immer auf den Boden sah um den Blickkontakt zu vermeiden. Sie fingen mich ab, drückten mich gegen die Hauswand und ließen mich nicht weitergehen. Dann umkreisten sie mich, beleidigten und schupsten mich. Wenn sie sich dann genug amüsiert hatten ließen sie mich weitergehen. Sie waren immer darauf aus, dass ich reagierte. Aber das tat ich nie. Ich wusste das es nichts bringen würde oder denen sogar noch mehr Freude bereiten würde, wenn ich mich wehren oder weinen würde. Ich sah einfach immer nur auf den Boden, hielt die Tortur aus und hoffte, dass ich bald weitergehen konnte. Ich hoffte auch, dass es der Gruppe bald langweilig werden würde, wenn ich nicht reagierte aber dem war nicht so. Nach einer kurzen Weile kamen auch andere Übergriffe dazu. Sie boxten und traten mich. Ich hatte große Angst und zitterte am ganzen Körper. Aber ich dachte nie daran ob die mich umbringen oder ob ich das überlebte. Ich hatte immer nur im Kopf meine linke Hüfte zu schützen. Bei jedem Tritt drehte ich mich so, dass mein rechtes Bein den Tritt abbekam. Das rechte Bein musste immer alles abfangen. Ich wurde bespuckt und an den Haaren gezogen. Sie hatten mich mit Dreck, Steinen, Bananenschalen oder anderen Gegenständen beworfen. Sie drohten mir, dass ich niemanden etwas sagen solle, denn sonst würden sie mir noch vielschlimmere Dinge antun. Ich lag oft auf dem Boden und ließ immer alles lautlos über mich ergehen. Innerlich schrie ich vor Schmerzen und Angst. Mein Gesicht wurde auch meist verschont. Aber auch wenn ich mal Blutergüsse im Gesicht hatte interessierte das niemanden. Ich hätte eh nirgendwo hingehen können um Hilfe zu bekommen. Es interessierte schlichtweg niemanden. Bei einem Übergriff eines Mitschülers guckte die Lehrerin zu. Es war zum Schulschluss und alle waren auf dem Weg nach Hause. Nur der Junge und ich waren noch in dem Klassenzimmer. Ich packte gerade meine Schulsachen in meinen Schulranzen als er anfing mir gegen die Beine zu treten. Zum Schutz drehte ich wieder mein rechtes Bein hin und bekam die Tritte immer wieder in der Kniekehle ab. Die Tritte waren so heftig und taten so weh, das ich auf den Boden sank. Ich schrie ihn an er solle aufhören, aber das tat er nicht. Er wurde dadurch nur noch mehr ermutigt mit einem breiten Grinsen noch fester zuzutreten. Das Schreien galt eigentlich nicht dem Jungen, sondern ich hoffte, dass dadurch die Lehrerin, die auch noch im Raum war, etwas unternahm, aber das tat sie nicht. Die Lehrerin stand gelangweilt an der Tür, guckte auf ihre Uhr und sagte nur, wir sollen endlich gehen. Dann ließ er ab und ging. Ich rappelte mich auf und ging auch. Wortlos. Die Lehrerin hatte nichts getan oder gesagt. Also hätte ich in der Schule keine Hilfe bekommen. Und zu Hause. Ich weiß es nicht wie es gewesen wäre, wenn ich etwas gesagt hätte, aber ich habe es nie getan. Bis heute nicht. Ich wurde gefühlt nur einmal im Monat in die Badewanne gesetzt. Und ansonsten interessierte sich keiner für mich. Hauptsache ich war artig und vor allem ruhig in meinem Zimmer. Meine blauen Flecke zeigte ich nie jemanden und wenn ich welche hatte bei Arztbesuchen, sagte ich immer, dass ich hingefallen sei. Meine Mutter, die immer mit bei im Arztzimmer war, bestätigte das dann auch immer in dem sie dann noch sagte, ich hätte wieder zu wild getobt. Damit war es immer gut und keiner fragte weiter nach. Ich weiß vor allem aus der Zeit, dass ich immer große Schmerzen hatte. Nicht nur an meiner Hüfte durch die Hüftdysplasie, sondern mir tat auch ansonsten jeder Zentimeter meines Körpers weh. Aber ich klagte nie laut. Ich hielt die Schmerzen aus. An Schmerzmittel dachte ich als Kind nicht aber ich hätte eh keine bekommen. Ich hatte einmal zu meinen Eltern gesagt, dass ich schmerzen hätte. Sie sagten ich solle mich nicht so anstellen und mich mehr zusammenreißen. Und wenn ich heirate sind die schmerzen weg.

Mein Bruder zog irgendwann in der Zeit zurück nach Velten. Ich bekam sein Zimmer. Und mit dem Auszug meines Bruders begann meine Mutter regelmäßig Alkohol zu trinken. Ihr Vater starb am Alkohol und eine ihrer Schwestern trinkt auch, wird aber dann eher so übertrieben lustig. Meine Mutter wurde durch den Alkohol aggressiv. Man durfte sich nicht in der Wohnung bewegen. Wenn sie merkte, dass man rumlief gab es Ärger. Sie meckerte immer gleich los, wo man hinwill. Wenn man sagte, dass man auf die Toilette möchte, durfte man schnell gehen. Mein Essen bekam ich immer ins Zimmer gestellt. Wenn ich trotzdem Hunger hatte, schlich ich in die Küche und klaute mir was ich schnell greifen konnte und was keine Geräusche machte. Ich muss zugeben ich hatte da auch meinen Spaß dran. Ich wusste genau wo der Dielenboden im Flur knarrte und auf welcher Stelle ich nicht auftreten durfte. Ich habe an Spielzeug und Technik alles bekommen. Mein Zimmer war mit einem Fernseher und einem Computer ausgestattet. Wann und ob ich schlief, ob und wann ich meine Hausaufgaben machte, blieb mir überlassen. Hauptsache ich blieb im Zimmer. Aber ich lernte auch sehr schnell was gut für mich war und was nicht. Um keine große Aufmerksamkeit durch den Lehrer in der Klasse zu bekommen, machte ich immer artig meine Hausaufgaben. Ich verstand vieles nicht und oft war etwas falsch aber ich konnte auch niemanden fragen. Ich schottete mich emotional ab und lernte vorauszudenken und zu planen. Zum Beispiel eben, dass es gut war die Hausaufgaben zu machen oder niemals ein Buch oder der Gleichen zum Unterricht zu vergessen. Ich war immer sehr ordentlich und strukturiert. Mein Zimmer war nie unaufgeräumt oder unordentlich.

Jede Nacht machte ich ins Bett. Und jedes Mal haute meine Mutter mir das nasse Lacken um die Ohren. Sie meinte ich tue das mit Absicht, um sie zu ärgern. Aber das Bett wurde auch nicht immer frisch bezogen. Das Lacken und der Bettbezug wurden zum Trocknen hingehangen und dann wurde das Bett damit wieder bezogen. Und wenn wir schon dabei sind ich habe auch am Daumen genuckelt. Nur zu Hause natürlich. Heutzutage erklärt meine Therapeutin es so, dass ich das tat um mich oral zu beruhigen. Eine Bindung zwischen Mutter und Kind festigt sich durch das trinken an der Brust. Das hatte ich als Baby im Krankenhaus nicht. Und da meine Mutter zwar täglich aber immer nur kurz mich besuchen kam, lag ich die meiste Zeit des Tages in meinem Bettchen und da war nuckeln das einzige was ich hatte. Mit dem Bettnässen erklärt es meine Mutter heutzutage so, dass ich das tat, weil ich es durch die Zeit im Gips gewohnt war alles einfach laufen zu lassen. Das ich also nicht gelernt hatte es zu halten und deshalb ins Bett machte. Die Krankenkasse bezahlte mir pro Jahr das Anfertigen von zwei Paar Schuhe. Der Absatz, der immer unter den linken Schuh geklebt wurde, löste sich jedes Mal mit der Zeit ab. Das interessierte auch niemanden. Eine Zeitlang lief ich mit einem Schuh herum bei dem sich der Absatz vom Hacken an ablöste. Der Absatz hing nur noch vorne an der Fußspitze und schlabberte vor sich hin. Im Unterricht schmierte ich Klebstoff zwischen Absatz und Schuh und drückte die ganze Unterrichtszeit mit meinem Fuß auf den Schuh. Aber es brachte nichts. Auf dem Weg nach Hause nervte mich der Absatz einmal so sehr, dass ich ihn Abriss und an eine Häuserwand warf. Das Gefühl war dann den Rest des Weges total befreiend. Ich hatte normale Schuhe an. Zu Hause gab es dann Ärger und ich musste den Absatz holen gehen. Papa klebte den Absatz mit einem Spezialleim an den Schuh und klemmte ihn über Nacht in so eine Presse. Seitdem reparierte er jede sich lösende Sohle sofort. Bei kleineren Luftlöchern im Absatz drang bei jedem Schritt Luft hervor und machte peinlich laute Quietschgeräusche. Einmal rettete mir der Absatz auch meinen Fuß. Ich stellte ein Klack Geräusch beim Laufen fest und bat Papa sich das anzusehen. Man sah auf den ersten Blick nur eine Metallplatte. Papa fummelte sie ab und zum Vorschein kam ein dicker Nagel der genauso lang war wie mein Absatz zu der Zeit dick war. Wäre ich in den Nagel ohne meinen Absatz getreten, hätte der sich durch meinen linken Fuß gebohrt. Da hatte ich echt Glück. Ich durfte niemanden mit nach Hause bringen, aber ich durfte woanders sein. Ein Mädchen aus meiner Klasse schenkte mir Aufmerksamkeit und lud mich öfter zum Spielen zu sich nach Hause ein. Sie hieß Maria. Aber sie wollte immer nur spielen, dass wir eine Familie sind. Ich musste immer ihren Mann spielen und eine Babypuppe war unser Kind. Nur Maria drehte das Spiel immer mehr in die intime Richtung. Sie wollte immer öfter küssen und überall angefasst werden. Wenn ihre Eltern nicht da waren, zog sie sich richtig aus und wollte das ich ihre noch nicht vorhandene Brust küsste und ihr zwischen die Beine fasste, um ihren Intimbereich zu streicheln. Sie sagte mir immer, was sie wie wollte und wo sie wie angefasst werden wollte. Und wenn ich mich sträubte, nahm sie meine Hand und legte sie an die Stelle, wo sie sie haben wollte. Ab und zu konnte ich Maria überreden mal Lehrerinnen zu spielen und wir unterrichteten eine Klasse, die aus lauter Kuscheltieren bestand, die die Kinder darstellen sollten. Aber auch dieses Spiel drehte sie schnell so, dass wir verliebte Lehrer waren. Ich der Mann und sie die Frau und dann wollte sie wieder Intim werden. Ich schäme mich heutzutage dafür, dass ich das mitgemacht hatte und denke, dass María wohl krank war oder psychisch schlimmer dran, als ich zu dem Zeitpunkt. Aber damals machte ich mit. Ich war froh über Zuwendung und das jemand sich mit mir beschäftigte. Auch wenn ich diese Art von Spiel nicht mochte. In der vierten Klasse kam ein neues Mädchen zu uns. Sie hieß Schenja und war von Anfang an freundlich und offen zu mir. Vor allem bei einer Sache half sie mir, wofür ich ihr noch heute dankbar bin. Ich hatte an den Händen und am linken Ellenbogen sehr viele Warzen. Es waren zwölf Stück und Schenja ging mit mir zu einem Arzt, der die Warzen weg laserte. In jede bekam ich eine Betäubungsspritze. In die am Ellenbogen und in eine am Nagelbett des linken Daumens bekam ich gleich zwei Spritzen. Macht insgesamt vierzehn Spritzen. Sehr viel für mich damals. Zu der Zeit habe ich bei jeder Spritze ein riesengroßes Gewese gemacht. Auch bei Impfungen und Blutabnahmen bei der Kinderärztin musste mich immer die Arzthelferin festhalten. Als ich damals mit Schenja zu dem Arzt ging wusste ich gar nicht was genau geschieht und bin einfach mitgegangen. Heutzutage hätte ich mich nicht getraut das machen zu lassen. Nicht mehr wegen den Spritzen, sondern einfach so. Bei der dicken Warze am Ellenbogen hatte ich oft Angst das ich sie ausversehen abreiße und die kleinen Warzen an den Handflächen malte ich meistens während des Unterrichts mit meinem Tintenfüller aus. Meine Warzen sind weg und dafür bin ich Schenja echt dankbar. So war ich ab und zu bei ihr zum Spielen. Das ging nicht oft, weil auch ihre Eltern streng waren. Aber wenn ich da war, waren sie sehr nett. Mit Schenja konnte ich normal mit Puppen spielen. Ich habe nie mit jemandem über Maria und ihre Art zu „spielen“ gesprochen. Selbst den ganzen Psychiatern, die ich im Laufe meines Lebens hatte, habe ich nie etwas gesagt. Die Nachmittage bei Maria zogen sich über Jahre. Ich war da zwischen neun und elf Jahre alt. Das ging sehr lange. Bis ich einmal Schenja mitnahm. Da waren wir in der fünften Klasse. Schenja wollte mit Puppen spielen. Maria nicht. Und obwohl Schenja da war und allein mit einer Puppe spielte, wollte Maria das ich sie anfasste. Ich habe nie etwas gesagt. Immer nur getan was Maria sagte. Am nächsten Tag meckerte Schenja mit Maria und sagte ihr, dass sie mich in Ruhe lassen soll sonst erzählt sie den Lehrern, was sie mit mir macht. Von da an waren die „Spieletreffs“ vorbei. Und ich habe nie wieder darüber gesprochen. Ich überstand Tag für Tag. An einem Tag machten wir mit der Klasse einen Ausflug in ein Museum wo wir uns ansahen wie es vor vielen Jahren in Schulen aussah. In der Zeit mit den Holzbänken, wo jeder eine kleine Tafel zum Schreiben hatte. Wir sollten uns auf die Bänke setzen und eine Frau mit einem Schlagstock in der Hand erzählte wie das früher so war. Das Kind neben mir und die Kinder auf der Bank vor mir spielten mit dem Tintenfass herum, das sich auf jedem Holztisch in der Mitte befand. Sie spielten mit dem Deckel und durch das Klappern des Deckels und dem Gerede konnte ich die Frau nicht mehr verstehen. Ich fand das eigentlich interessant wie das früher so war. Ich sagte denen gerade, dass sie aufhören und ruhig sein sollen. Zur Demonstration des Schlagstocks und der Strafen von früher schlug die Frau mit dem Stock auf das Tintenfass. Ich hatte dort gerade meine Hand, um die Hände der anderen Kinder weg zu machen und somit schlug mir die Frau auf meine Hand. Das tat höllisch weh. Aber sie guckte mich nur böse an und sagte, dass wir jetzt ruhig sein sollen. Ich war immer der Sündenbock.

Auch Schwimmunterricht hatten wir während der Grundschulzeit. Ich versuchte es in dem seichten Wasser, aber ich blieb nicht oben. Mehrere Male ging ich richtig unter. Trotz dieser ganzen Schwimmflügel und diesem Schwimmbrettchen, welches man zum Festhalten bekam, ging ich unter. Zum einen konnte ich diese Bewegungsabläufe mit den Beinen nicht und zum anderen bekam ich Angst, sobald ich den Boden unter den Füßen verlor. Die Schwimmlehrer konzentrierten sich auf die anderen Kinder und gingen ihrem Lehrplan nach. Während alle schon im tiefen Becken schwimmen konnten plantschte ich immer noch allein in dem flachen Becken herum. An einem Tag warfen mich die Schwimmlehrer in das tiefe Wasser und hielten mir eine Metallstange hin. Ich klammerte mich an der Stange fest und weinte. Seitdem habe ich Angst im Wasser und war dann auch vom Schwimmunterricht befreit. Eigentlich ist das der einzige Sport, den ich machen darf, aber das geht halt nicht. Witzig ist dabei der Gedanke, dass die ehemalige Weltmeisterin im Schwimmen Katrin Meißner meine Cousine ist und auch meine andere Cousine Andrea Voeltz ist früher für Rostock geschwommen. Heute macht sie Babyschwimmen. Und ich kann das nicht. Aber meine Mutter kann auch nicht schwimmen, obwohl sie ein Fischkopf ist. Es wäre schon schön, wenn ich schwimmen könnte. Das muss ein schönes, freies Gefühl sein. Ich guckte auch gern Arielle, die kleine Meerjungfrau auf Video. Da fand ich besonders schön, wie die Haare von Arielle sich im Wasser bewegten. Ich hatte und habe so einen kleinen Haartick. Ich finde schöne, gesunde, kräftige, lange Haare toll. Ich hatte auch nur Barbiepuppen, um ihnen die Haare zu kämmen und sie hin und her zu schwingen, um zu sehen wie die Haare im Wind wehten.

Meine Eltern unterhielten sich wohl mal mit dem Hausmeister der auch eine Tochter hatte. Dabei kamen sie wohlmöglich auf die Idee, dass sich die Kinder mal kennenlernen könnten. Sie hieß Rebeca und war etwas jünger und ging auch nicht auf meine Grundschule. Ich war oft bei denen zu Hause. Sie waren eine gläubige Familie. Ich weiß nicht mehr ob evangelisch oder katholisch. Ich kenne mich mit diesen ganzen Religionssachen nicht aus. Ich bin nicht gläubig. Und wenn es doch einen Gott gibt, dann kann der mich nicht leiden. So dachte ich damals noch nicht. Aber heutzutage. Ich fing auch an in meinem Leben eine Erklärung für alles was war und noch kommt zu finden. Auch wenn ich nicht gläubig bin, war ich der Meinung, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Oder das man wiedergeboren wird. Und so stellte ich für mich die Erklärung auf, dass ich schon einmal gelebt haben muss, aber in meinem vorigen Leben ein sehr schlechter Mensch gewesen sein muss. Vielleicht habe ich schlimme Dinge getan und sehr viel Elend und Leid verursacht, sodass dieses Leben meine Strafe ist. Das ist die Theorie, die ich für mich mit ungefähr vierzehn Jahren aufstellte und bis heute halte ich daran fest. Denn anders kann ich mir das alles nicht erklären. Mit der Familie des Hausmeisters war ich öfter in der Kirche. Ich machte mit, um die Freundschaft zu Rebeca nicht zu gefährden, und war auch in so einer Art Musikgruppe. Ich spielte Blockflöte. Meine Mutter kaufte mir extra eine der Marke Schneider. Die Frau in der Kirche sagte freudig, dass Schneider eine gute Marke ist. Ich verkündete darauf ganz stolz, dass mein Fernseher auch von Schneider ist. Die Frau nickte bloß und guckte mich irritiert an. Ich spürte, dass das nicht angebracht war. Aber zu spät. Ich bin da häufig in solche Fettnäpfchen getreten, mit Sachen die ich einfach sagte und mir dann mit einem Kopfschütteln erklärt wurde, dass man so etwas nicht in einer Kirche sagt. Was ich sagte, weiß ich heutzutage nicht mehr. Es waren auch keine schlimmen Sachen. Zu Hause mit der Blockflöte üben durfte ich natürlich nicht. Aber bei der Familie des Hausmeisters. Nur irgendwann fragte mich Rebeca immer öfter, ob sie nicht auch mal mit zu mir kommen kann. Ich sagte immer nein und dass ich das nicht darf. Ich denke, dass sie mir damals nicht glaubte. Irgendwann durfte ich da nicht mehr hin und somit war der Kontakt zu der Familie weg. Und auch in die Kirche bin ich nicht mehr gegangen. Das war eh nicht so meins.

Darum bin ich wie ich bin

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