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Herzklopfen an der Weltkarte

Marcus hatte in der Schule ein Lieblingsfach: Geografie. Das hatte wenig mit dem Stundenplan zu tun, mehr mit dem Lehrer. Rolf Behrens* stammte aus Gotha. Er war ein Mann von beachtlicher Statur, hatte eine tiefe Stimme. Er war um die vierzig, groß, graumeliert, sein Hemd spannte an seinen kräftigen Oberarmen, sein Brusthaar ragte über dem Hemdkragen hervor. Herr Behrens, ein ehemaliger Zehnkämpfer, war witzig, nie langweilig. Manchmal sprang er aus dem Stand auf den Tisch, einfach so, das beeindruckte Marcus. Er mochte ihn, er mochte ihn sogar sehr.

Marcus genoss die Zeit mit Herrn Behrens. Er freute sich, wenn sein Lehrer ihm anerkennend auf die Schulter klopfte oder beiläufig seinen Haarschopf berührte. Diese Zuneigung hielt er für normal. Er wusste, wann er zum Essen ging, wenn etwas dazwischen kam, war er enttäuscht. Marcus überlegte sich, wie er sich beliebt machen konnte. Er war zurückhaltend, schüchtern. Herr Behrens aber mochte Schüler wie Lars*, die schlagfertig waren, frech. Lars durfte die Lehrertasche tragen, Kreide und Kaffee bringen, Marcus wurde von Herrn Behrens kaum wahrgenommen.

Er versuchte auf andere Art in den Mittelpunkt zu rücken. Er lernte und lernte und lernte. Als er nach vorn an die Weltkarte gebeten wurde, schlug seine große Stunde. Er musste Länder zeigen und deren Hauptstädte nennen. Marcus zitterte, er war nervös. Die Klasse staunte, als er ohne Zögern die Hauptstädte von Mauretanien, Niger oder Kamerun benennen konnte. Herr Behrens klatschte in die Hände, er gab ihm die Note eins, die dreizehnte hintereinander in jenem Schuljahr. Marcus freute sich über die Aufmerksamkeit, ein anderes Mal scherzte Herr Behrens, jemand möge doch bitteschön ein Lied für ihn singen. Marcus sprang auf und sang „Send Me An Angel“, einen Hit der achtziger Jahre. Für Herrn Behrens war ihm alles egal. Er strengte sich an, mehr als sonst.

Im Winter mussten sie vor den Oberligaspielen der Männermannschaft das Steigerwaldstadion von Schnee und Eis befreien. An einem Tag war es besonders kalt. Doch Marcus biss die Zähne zusammen, die Temperatur lag weit unter dem Gefrierpunkt. Marcus konnte seine Hände kaum noch bewegen, aber er blieb bis zum Schluss. Später, in der Kantine, traf er Herrn Behrens. Marcus schilderte ihm die Eiszeitbedingungen. Herr Behrens antwortete: „Hab dich nicht so, du bist doch ein Mann.“ Marcus war enttäuscht. Er hatte sich Bedauern gewünscht, wenigstens Anerkennung.

Vielleicht hatte Marcus einen Vaterkomplex. Nie hatte er eine Bezugsperson gehabt, der er uneingeschränkt vertrauen konnte. Seinen leiblichen Vater sah er kaum, sein grober Stiefvater hatte mit sich selbst zu kämpfen. Herr Behrens dagegen war sein Vorbild, er wirkte irgendwie unbezwingbar. Hätte er ihn gern als Vater gehabt? Oder war da doch mehr? Einmal besuchten Marcus und drei Mitschüler ihn zu Hause. Im Unterhemd stand ihr Geografielehrer da, barfuß, in blauer Trainingshose. Marcus stand starr, seine Arme presste er an den Körper, er versuchte kontrolliert zu sprechen. Nach fünf Minuten waren sie wieder weg. Er drehte sich noch einmal um und warf einen Blick auf das Haus, wo Herr Behrens wohnte. Marcus merkte die Anziehung, er wäre am liebsten zurückgegangen.

Marcus war vierzehn Jahre alt und hatte sich zum ersten Mal verliebt. In einen Mann. Eingestehen wollte er sich das nicht. Wie konnte er auch? Ein Junge empfindet Gefühle für einen verheirateten Vater? Das gibt es nicht, das darf es nicht geben, davon hatte Marcus nie gehört, darüber hatte er nie gelesen. Aber warum träumte er dann von ihm? Und warum schrieb er ihm ein Gedicht? Das passte für ihn nicht zusammen. Oder doch? Plötzlich machten einige seiner Erinnerungen Sinn. Der Urlaub in Boltenhagen zum Beispiel, als er fünf war und am Strand dem Ball hinterherrannte. Immer suchte er Kontakt zu Onkel Georg, einem kräftigen Mann mit dunkel behaarten Armen. Marcus mochte ihn mehr als alle anderen. War das Zufall?

Es musste Zufall gewesen sein, sagte er sich nun. Fußballer war er, Mitglied eines Männersports, zu Hause im größten Machokosmos. Schwule existierten vielleicht jenseits der Seitenlinien, wenn überhaupt. Aber in der KJS? In diesem Testosterontempel? Unmöglich! Marcus hämmerte sich diese Vorurteile ins Bewusstsein, bis er sie für die Wahrheit hielt – und nichts als die Wahrheit. Er war nicht schwul. Basta! Schwul waren höchstens die anderen. Weit weg. Die er nicht kannte. Nicht kennen wollte.

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