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Ohrfeige für den Blitzableiter

Marcus führte elegant den Ball, er schleppte ihn nicht mit sich, er betrachtete ihn als Partner. Er drehte sich wie ein Kreisel, schlug Haken, dribbelte, fühlte sich unschlagbar. Die Gegner beobachteten ihn bewundernd und liefen ins Leere. Wer wollte ihm etwas anhaben? Im Mittelfeld, in seinem Revier? Es gab jemanden. Langes Bein, Grätsche von rechts, alles fair, der Ball war weg. Marcus stand starr, er konnte es nicht glauben. Wer hatte es gewagt, seine Show zu unterbrechen? Er war wütend, atmete schnell, sein Puls raste. Den Ball hatte er aus den Augen verloren, nur sein Gegner interessierte ihn noch. Er rannte ihm hinterher, als wollte er ein entlaufendes Kaninchen einfangen. Als er ihn eingeholt hatte, gab er ihm einen Tritt in den Hintern. „Das hast du jetzt davon“, sagte er leise, „niemand klaut mir den Ball.“

Der Schiedsrichter zeigte Marcus die rote Karte. Was hatte er getan? Wie konnte er nur so ausrasten? Er schaute nach links, nach rechts, langsam drangen die Rufe von außen in sein Bewusstsein. Die Zuschauer an den Seitenlinien konnten sich kaum beherrschen. Marcus suchte die Reihen nach seinem Stiefvater ab, seinem einzigen Verbündeten. Er entdeckte den massigen Rücken in der Ferne. Sein Stiefvater hatte fast den Parkplatz erreicht, er wollte nach Hause, ohne Marcus, für den er sich zutiefst schämte. „Du gehörst nicht mehr zu mir“, blaffte er Marcus an und machte mit seiner rechten Hand eine abwertende Bewegung. „Du nicht!“ Marcus fühlte sich gedemütigt. Er war ein schmächtiger Junge, gerade zehn Jahre alt. Wie sollte er aus Walschleben, einem Vorort von Erfurt, zurück nach Weimar kommen? Ganz allein? Sein Stiefvater ließ sich doch noch erweichen, auf der Rückfahrt sagte keiner von beiden ein Wort. Marcus schrie trotzdem. Innerlich. Er sollte diesen Tag niemals vergessen. Es war ein Erlebnis von vielen, das seine Kindheit nicht erstrebenswert machte. Im Gegenteil.

Wo beginnt Missbrauch? Wo beginnt Gewalt? Diese Frage hatte sich Marcus, geboren 1971 in Weimar, früh in seinem Leben stellen müssen. Er hat viele Definitionen in dutzenden von Lexika gelesen, doch die glaubwürdigste Antwort gab ihm stets sein Gefühl. Vor allem das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. Es begleitete ihn, seit er denken kann. Marcus war nicht geplant gewesen. Seine Mutter stammte aus Köthen in Sachsen-Anhalt, sie war mit seinem Vater nach Weimar gezogen. Seine Eltern waren jung, füreinander geschaffen waren sie nicht, drei Jahre nach der Geburt von Marcus trennten sie sich. Es war eine räumliche und gedankliche Trennung. Seine Mutter erwirkte einen Gerichtsbeschluss, Marcus sollte seinen Vater nicht oft zu Gesicht bekommen, alle drei Monate, höchstens. Sie glaubte, das sei besser für ihn.

Seine Mutter war eine herzliche Frau, leidenschaftlich, tolerant – und manchmal etwas naiv. Sie arbeitete in Weimar als Laborantin im VEB Limona, einem großen Getränkekombinat, das 1991 von Coca Cola übernommen werden sollte. Dort lernte sie Klaus Schneider* kennen. Er war zehn Jahre älter als sie, ein großer, kräftiger Mann mit schwarzen Haaren und einem buschigen Vollbart. Ohne Probleme konnte er schwere Zuckersäcke durch die Fabrik schleppen. Die beiden trafen sich, schätzten sich, gingen eine Beziehung ein, heirateten. Ob sie sich liebten? Die Trennung von Marcus’ leiblichem Vater lag erst wenige Monate zurück, doch seine Mutter wollte nicht allein sein, sie hatte Angst vor der Einsamkeit. Außerdem brauchte Marcus, damals drei Jahre alt, einen Ersatzvater, einen Versorger, das redete sie sich zumindest ein. Klaus Schneider hatte Geld, wenigstens das, ein guter Stiefvater wurde er nicht. Nicht für einen Tag.

Sie lebten nicht schlecht, 1978 bezogen sie einen Plattenbau, drei Zimmer mit Balkon, gelegen im Westen Weimars. Seine Eltern hielten das für ein Privileg, die Neubauten der DDR waren begehrt, sie galten als modern, ihre Wohnung war eine der ersten, die bezugsfertig war. Eine klobige Schrankwand beherrschte ihr Wohnzimmer, in den Regalen standen verzierte Gläser, aufgereiht wie eine Kette, davor ein heller Tisch. Aus dem Fenster konnten sie die Hubschrauber sehen, die auf der sowjetischen Militärstation landeten. Marcus hatte Angst vor dem Krach, er stellte viele Lebensfragen, dachte an Krieg, Antworten erhielt er nicht.

Auf den ersten Blick konnte er sich nicht beschweren. Marcus hatte genug zu essen, er hatte Spielzeug, trotzdem fühlte er sich einsam in seiner Familie. Sein Stiefvater gab ihm nicht die Liebe, die er eigentlich brauchte und sich so sehr wünschte. An den Wochenenden pflegte er lieber seinen gelben Trabant. Abends saß er im Unterhemd vor dem Fernseher, die Arme auf dem massigen Bauch verschränkt. Wie in einem schlechten Film. Marcus musste ihm Bier holen, das zischende Geräusch, wenn der Deckel von der Flasche sprang, und das Bild, wie er die ersten Schlucke genoss und sich dann zufrieden den Mund abwischte, brannten sich in sein Gedächtnis, ebenso der Geruch von Alkohol und Schweiß. Irgendwann sammelte er die Flaschendeckel und stopfte sie in eine Tüte, er wollte seinem Stiefvater zeigen, wie ungesund er lebte. Der lachte nur.


Streicheleinheit: Marcus, 10 Jahre alt, mit seinem Yorkshire-Terrier.

Klaus Schneider war kein selbstbewusster Mann, er hatte Minderwertigkeitskomplexe, die Ursachen dafür verbargen sich wahrscheinlich in einer schwierigen Kindheit. Er sah in Marcus nie den Jungen, den es zu behüten galt, er betrachtete dessen Erziehung nie als Lebensaufgabe. Für ihn war Marcus ein Konkurrent in den eigenen vier Wänden, er wollte die Aufmerksamkeit seiner Frau, uneingeschränkt. In der Öffentlichkeit brüstete sich Klaus Schneider mit der Intelligenz seines Stiefsohnes, seiner Auffassungsgabe, seiner Neugier. Einmal, im Urlaub an der Mecklenburgischen Seenplatte, fasste er seine Hand, spielte den besorgten Vater und wollte sie nicht mehr loslassen. Marcus schrie, zwei Passanten kamen und forderten Schneider auf, das Kind loszulassen. Zu Hause streifte er die Fassade ab, er schlug Marcus nie, nicht körperlich. Er zeigte ihm, dass er geduldet sei, nicht geliebt, geschweige denn willkommen. Marcus glaubte, das sei normal.

Seine Mutter hatte mit sich selbst zu tun. Sie war unglücklich, sie hatten sich nicht viel zu sagen, aber den Mut für eine Trennung brachte sie nicht auf. Stattdessen bürdete sie die Verantwortung ihrem Sohn auf: „Wenn du nicht da sein würdest, wäre ich längst nicht mehr hier.“ Marcus war jung, leichtgläubig, er dachte lange, nur er würde sie vom Selbstmord abhalten. Dieser absurde Gedanke schwächte, hemmte, blockierte ihn, machte ihn träge. Er glaubte, er sei schuld an der Familienmisere, er allein, niemand sonst, er fühlte sich überflüssig, nutzlos wie Ballast. Marcus speicherte die Empfindungen, legte sie tief ab. Dabei hätte sich seine Mutter nie umgebracht, sie war von Existenzangst befallen. Wer hätte Marcus nach einer Scheidung ernähren sollen? Wer sollte ihr Halt geben? Viele Probleme auf der Arbeit oder in der Ehe, und waren sie noch so klein, erzählte sie ihrem Jungen, sie hatte nicht viele Freunde, er allein war ihre Bezugsperson. Marcus litt unter diesem Druck, für alles verantwortlich zu sein, jahrelang, weitergeben konnte er ihn nicht. An wen auch? An sein Zwergkaninchen Cesar oder seinen Terrier Gessy?

Marcus hatte schöne Erinnerungen, die Reisen zu seinen Großeltern nach Köthen, der Urlaub in der Tschechoslowakei, aber das alles war wertlos, er konnte sich nicht entfalten, nicht freischwimmen, er war zum Mitlaufen gezwungen, er erfüllte seinen Zweck als lebender Blitzableiter. Die Stimmung war oft aufgeladen, sie war geprägt von Unzufriedenheit. Einmal kleckerte sein Stiefvater auf den Tisch, er drehte die Decke im Uhrzeigersinn, bis der Fleck bei Marcus angelangt war. Seine Mutter hatte das bemerkt, dennoch gab sie ihrem Sohn eine Ohrfeige, nicht ihrem Mann, das hätte sie sich nicht getraut. Irgendwann wurde es Marcus zu viel, er wollte ausbrechen. Er packte seine Sachen und ging. Am Fenster stand seine Mutter, sie schaute ihm nach, schweigend, ohne Gestik. Sie wusste, was er wusste: Es gab kein Ziel für ihn.

* Name geändert

Versteckspieler

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