Читать книгу Im Schatten des Spiels - Ronny Blaschke - Страница 5
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Mit einer Reklametafel prügelten sie auf ihn ein, später mit seinem eigenen Gewehraufsatz. Der französische Gendarm Daniel Nivel lag bewusstlos am Boden, das Blut war auf dem Asphalt verteilt. Doch die deutschen Schläger wollten nicht von ihm lassen. Bis sein Gesicht zertrümmert und sein Schädel gebrochen war. Diese Bilder aus Lens während der Fußball-WM 1998 in Frankreich gingen um die Welt. Daniel Nivel lag wochenlang im Koma, er wird nie wieder sein altes Leben führen können. Seine Peiniger wurden zu Haftstrafen zwischen dreieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Die meisten von ihnen sind längst wieder frei, einer wurde schon wieder bei einer Prügelei in Brandenburg erwischt. Daniel Nivel wurde am 21. Juni 1998 zu einer Symbolfigur. In Deutschland setzten Hysterie und Panik ein. Die öffentliche Diskussion war geprägt von den Fragen: Hat der Anschlag auf Nivel die Renaissance des Hooliganismus eingeleitet? Wird die Gewalt in die Stadien zurückkehren?
Beide Fragen deuten auf Aktionismus und Kurzsichtigkeit hin. Wie so oft nach vergleichbaren Tragödien. Dabei ist die Gewalt im Fußball eine Konstante, nur ihre Form hat sich gewandelt: Der in die Jahre gekommene Hooligan, der sich verwegen gab, als unpolitisch bezeichnete und eine Sucht nach Schmerz verspürte, dominierte in Deutschland die 1980er und frühen 1990er Jahre. Er hatte sich gelöst von den Fankurven, legte Schal und Kutte in den Schrank. Er kleidete sich kostspielig, betrachtete sich als Teil der Elite. Toni Meyer, ein ehemaliger Hooligan aus München, wird in diesem Buch davon berichten. An jenem Sommertag in Lens wurde das Ende einer schwarzen Ära eingeleitet: Der Hooligan hatte seine eigenen Grenzen gesprengt, er schlug einen unbeteiligten Polizisten zum Krüppel, dabei wollte er seine Kräfte stets nur unter seinesgleichen messen. Der ohrenbetäubende Aufschrei in den deutschen Medien gab ihm zu denken. Er wollte seine Zukunft nicht mehr aufs Spiel setzen für ein bisschen Adrenalin.
Der klassische Hooliganismus trat in einen Auflösungsprozess, das ist in England, dem Ursprungsland, oder in den Niederlanden nicht anders. Auch dort hatten erst Katastrophen einen Bewusstseinswandel auslösen können. In England war es die Randale von Liverpooler Fans im Heysel-Stadion von Brüssel 1985 und die Massenpanik von Sheffield 1989, die 96 Menschen das Leben kostete. In den Niederlanden war es der Mord an Carlo Picornie 1997, einem führenden Hooligan von Ajax Amsterdam. Es scheint, als müsste erst die Welt vor dem Untergang stehen, damit eine Subkultur ihre Gefahren entdeckt und eine Gesellschaft reagiert. Beispiele dafür gibt es viele.
Die Gewalt ist nicht verschwunden – sie hat sich gewandelt. Die letzten Nostalgiker flüchten vor dem Licht der Öffentlichkeit. Sie prügeln sich im Verborgenen. Auf Wiesen, Parkplätzen oder Industrieanlagen. Sie sind mehr zu Kampfsportlern als Hooligans geworden. Die großen Stadien haben sie aufgegeben, die kleinen noch nicht ganz. Vor allem im Osten Deutschlands, in Dresden oder Leipzig, kämpft ein neuer Schläger-Typus um Aufmerksamkeit. Er kommt aus einem schwierigen sozialen Umfeld, schon in jungen Jahren fehlt ihm die Perspektive. Der Frust ist groß, und so ist er empfänglich für die Lockrufe von rechts. Die ostdeutschen Amateurligen verdeutlichen die Fremdenfeindlichkeit und den Antisemitismus der Gesellschaft wie unter einem Brennglas. Sie wird in der anonymen Masse offener ausgelebt. Die Grenze zwischen Hooligan und Rassist ist fließend. Daher ist die Form der Gewalt schwer zu greifen. Zumal Rassisten und Antisemiten subtil auftreten. Sie marschieren nicht mehr in Springerstiefeln und Reichkriegsflagge auf und ab, sie wählen Codierungen und streuen ihre Propaganda verdeckt. Auch in den Stadien. Eine neue Dimension? Für eine Antwort ist es noch zu früh.
Der Öffentlichkeit ist das nicht genug. Nach der rosaroten WM 2006, bei der es kaum Zwischenfälle gegeben hatte, wird jeder Krawall und jede rassistische Parole als neue Stufe der Eskalation oder als Wiederkehr des Hooliganismus interpretiert. Komplexe Hintergründe werden vermengt und unsinnige Vergleiche gezogen. Die Fanarbeit, die lange von Politikern und Funktionären vernachlässigt wurde und sich nun langsam positiv entwickelt, gerät immer wieder unter Rechtfertigungsdruck. Es entsteht der Eindruck, als wäre die Gewalt im Fußball eine vorübergehende Mode, die Jahr für Jahr aufs Neue aufgeregt diskutiert werden müsste. Langfristige und vernünftige Konzeptvorschläge gehen in dieser Wolke des Populismus verloren. Auch das lässt sich nicht nur in Deutschland beobachten. Der italienische Fußball, der durch Gewalt und Korruption wie in einer Zwangsjacke gefangen ist, gilt als Paradebeispiel. Faschistische Ultras beherrrschen seit Jahren die Kurven des Calcio.
Auch in Deutschland hat sich die Ultra-Bewegung ausgebreitet, allerdings unterscheidet sie sich enorm von ihrem italienischen Vorbild. Die Mehrheit der deutschen Ultras distanziert sich von Gewalt und politischen Hintergründen. Stattdessen predigen sie ihr oberstes Ziel: die bedingungslose Unterstützung ihres Vereins. Durch Gesänge, Choreographien und bengalische Feuer. Ihre Beziehung zu Sicherheitskräften und DFB aber ist stark belastet. Das wirft die Frage auf, ob dieses Reizklima zu einer neuen Gewaltwelle führen könnte? Schließlich nehmen manche Ultras Gewalt in Kauf, um ihre Ziele zu erreichen. Kann dieses Mittel zum Zweck wie bei den Hooligans zum Selbstzweck werden? Zu purer Lust?
Es ist oberflächlich, den Ultras die Merkmale der Hooligans überzustülpen. Beide Kulturen unterscheiden sich klar voneinander. Doch in Einzelfällen können sie sich solidarisieren und z.B. einen gemeinsamen Mob gegen die Polizei bilden. Bei Ausschreitungen in Leipzig war das Anfang Februar 2007 zu beobachten. Allerdings kann es auch zwischen Ultras und Hooligans handfeste Konflikte geben. Im Januar 2007 wurde die Party einer antirassistischen Ultra-Gruppe des SV Werder Bremen von rund 20 rechtsradikalen Hooligans gestürmt. Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen waren die Folge. Die Opfer erstatteten keine Anzeige. Hatten sie Angst vor Rache? Ähnliche Machtkonflikte gibt es in vielen Fanszenen. Wie sich die Kraftverhältnisse entwickeln werden, hängt von vielen Faktoren ab. Jugendliche Subkulturen modernisieren sich ständig.
Dieses Buch soll keine Reportage aus dem Untergrund rechtsradikaler Schlägerbanden sein, es verzichtet auf die Dokumentation der reinen Gewaltorgien und soll aktiven Hooligans und Rassisten nicht als Mitteilungsforum dienen. Vielmehr beleuchtet es die Entwicklung in Deutschland seit dem Anschlag auf Nivel. Schildert aber auch die Szene der Hooligans in England, Italien oder Polen. Und es wagt einen Vergleich mit Südamerika. Welche Rituale, Motive und Ursachen liegen den Fankulturen zu Grunde? Welche Rolle spielt das soziale Milieu? Wie groß ist der Einfluss aus Wirtschaft, Politik und Geschichte? Dieses Buch legt Wert auf die Verflechtungen zwischen den Gewaltphänomenen im Fußball und den Krankheiten der Gesellschaft. Es lässt Beobachter zu Wort kommen, Fans, Aktivisten, Sozialarbeiter, Wissenschaftler, Funktionäre, Politiker, Polizisten – und es nimmt die Perspektive der Opfer an. Zugleich prüft es Gegenstrategien von Fanprojekten und Ordnungskräften. Und es setzt sich mit Versäumnissen von Politikern und Funktionären auseinander – denn davon hat es mehr als genug gegeben.