Читать книгу TIERE FRESSEN MENSCHEN. - Roy Koepsell - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL VIER.
Mit Ende zwanzig war Knut ein geselliger und aufgeschlossener Kerl. Fast wäre er als extrovertiert durchgegangen, so hätten es zumindest seine Freunde, Bekannten und Kollegen geschildert. Nach dem Abitur und seiner Ausbildung zum Uhrmacher wurde Knut im Vertrieb einer berühmten sächsischen Uhrenmanufaktur angestellt. Der Kundenkontakt gefel ihm sehr, denn dieser bescherte Knut über die Zeit den Status eines Erfolgsmenschen, der jedes Jahr mehr Umsatz generierte als in den abgelaufenen zweiundfünfzig Wochen zuvor. Er pries die Uhrenmodelle der Edelschmiede wie ein frisch ausgegrabenes Weltkulturerbe an, das die Geschichte der Menschheit in ganz neuem Licht präsentierte. Einem Schmuckhändler in Leipzig erzählte er beispielsweise, dass es nur eine Uhr in diesem Universum gäbe, die den Herzschlag der Erde einfangen und als Zeitimpuls würdevoll auswerfen könne. Natürlich offerierte Knut in diesem Moment das teuerste Modell der sächsischen Nobelmanufaktur, für die er am liebsten mithilfe der hellsten Superlativen verkaufte. Von allen Seiten erhielt er Schulterklopfer und warme Worte. Manchmal waren die Lobpreisungen so blumig und umschmeichelnd, dass Knut negierte, woher er kam und was für ein Mensch er gerade wurde. Einzig entscheidend war für ihn der berufiche Erfolg, das angesammelte und ausgegebene Geld und der ständige Drang nach neuer und frischer Bestätigung. Dass unsere moderne Welt dieses Lebenskonzept forciert und bis in die entferntesten Winkel des Planeten trägt, sei an dieser Stelle erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt.
Abends, wenn der Verkauf gut lief, gönnte sich Knut in hoher Regelmäßigkeit sein Lieblingsessen. Dazu fuhr mit seinem nebelgrauen Flitzer aus Ingolstädter Produktion in die Innenstadt und parkte unweit seines Stammlokals. Serviert wurden ihm anschließend die Filetspitzen des Kobe-Rindes. Mit fein marmorierten Fettäderchen durchzogen und von unbeschreiblicher Saftigkeit – zweifelsohne eine der teuersten Varianten, auf unserer Erde Fleisch zu verzehren. Gereicht wurden ihm dazu in Rosmarin-Schmalz geschwenkte „La Ratte“ – eine alte französische Kartoffelsorte mit nussigem Geschmack. Selten war er allein unterwegs. Häufg gesellte sich sein Arbeitskollege Jens dazu, der in der Entwicklungsabteilung der Uhrenmanufaktur tätig war und sich immer wieder fasziniert über Knuts Verkaufsmethoden zeigte. Manchmal unterhielten sich die beiden über profane Privatangelegenheiten, doch Knut wusste genau einzuschätzen, an welcher Stelle er seine wahre Vergangenheit verschleiern wollte. Niemand sollte wissen, was damals im Garten seiner Großeltern geschah und kein Mensch ging es etwas an, warum er den Namen Thilo nie wieder positiv assoziieren wird. Er war der Meinung, dass es ausreiche, wenn er selbst bestimmt, welche Informationen bezüglich seiner Person maßgeblich sind. Wer mehr Fragen hatte, sollte Philosophie studieren oder Gedichte interpretieren. Da gäbe es mehr zu erfahren als bei ihm.
Knut und Jens plauderten an diesem Abend über die aktuellen Neuigkeiten aus der Firma. Welche Zeigerfarbe bekommt das künftige Modell? Welches Edelmetall wird für den Rotor verwendet? Wird das Werk mit Genfer Steifen oder mit einem Sonnenschliff verziert? Es war 19.27 Uhr, als Knuts Handy die Ankunft einer Kurznachricht vermeldete. Sein Smartphone lag zentral auf dem Tisch positioniert. Jens saß ihm gegenüber und Knut zeigte keine Reaktion auf das leuchtende Display. Die Sekunden standen förmlich im Raum des Restaurants. Knut schloss die Augen, senkte gleichmäßig seinen Kopf und verharrte in dem Gefühl, das ihn überbordend futete. Jens schien erschrocken über die ungewohnte Reaktion seines Kollegen zu sein und konnte Knuts Mimik nicht deuten. Er fühlte sich unsicher und blieb deshalb sprachlos ruhend. Über eine Minute hinweg saßen sich die beiden gegenüber. Null Worte wechselnd, keine Blicke tauschend. Eine Szene fast wie aus einem Theaterstück. Nur dass die handelnden Personen keine Schauspieler waren, sondern Menschen wie du und ich. Mit einem kräftigen Schwung stand Knut auf, schnappte sich sein Handy und verließ kommentarlos den gemeinsamen Tisch. Jens blickte ihm desillusioniert hinterher, doch Knuts Schritt wurde fortwährend schneller, bis er schließlich die Tür erreichte und nichts von ihm blieb. Nur der fnale Schwall seines französischen Parfums schwebte noch im Raum und hinterließ eine akzentuierte Note aus kräftigem Eichenmoos und süßlichem Patschuli. Nach dreißig Minuten endete das Warten. Jens zahlte die Rechnung, verabschiedete sich vom Kellner und zog seine dunkelblaue Daunenjacke über. Er hatte mehrfach versucht, Knut auf seinem Handy zu erreichen, doch dieser reagierte nicht. Stumm schritt Jens in die Nacht hinaus.
Es war Mitte Dezember und der Wind verbreitete arktische Winterluft. Dass Weihnachten vor der Tür stand, war sofort ersichtlich. Das Fest der Liebe sollte bald folgen. Im Kreise der Familie.
Dich selbst zu erkennen,
ist eine lebenslange Etappe.
Doch vergisst du die Zeit,
zeichnen sich die klarsten Konturen
von ganz allein.