Читать книгу TIERE FRESSEN MENSCHEN. - Roy Koepsell - Страница 9

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KAPITEL DREI.

Es gibt nur einen männlichen Vornamen, der bei Knut für klitschnasse Handfächen sorgt – Thilo.

Knut hatte sich entschieden. Das Tipi sollte direkt am Sandkasten errichtet werden, damit er genügend Material hatte, um nachträglich einen Kamin ins Zelt einbauen zu können. Gemischt mit Wasser (die Regentonne stand links neben der Sandkiste), ergab sich eine tolle Masse, die aus Knuts Sicht bestens geeignet war, um sein neues Versteck an kühleren Tagen mit Wärme versorgen zu können. Der Kamin war schon geplant, doch zuerst musste das Tipi gebaut werden. Knut wusste, dass sein Großvater mit dem Füttern der Hühner beschäftigt war. Er begab sich fotten Schrittes vom Sandkasten hinüber zum Gehege, in dem Werner das Gefügel mit Haferfocken und frisch gekochten Kartoffeln versorgte. Den Tieren ging es prächtig. Mit viel Auslauf versorgt, scharrten sie etwas Sand durch die Gegend, pickten dabei nach etwas Essbarem und legten zufrieden ihre Eier. Werner sah seinen Enkel im Augenwinkel kommen und wusste in jener Sekunde, dass Knut guten Mutes war.

„Mein Junge, da bist du ja wieder. Die Sonne tut deiner Schramme im Gesicht gut. Die ist fast verschwunden.“

Tatsächlich war Knuts Sturz mit seinem „Rot Runner“ einige Tage vorangegangen und die kleine Blessur befand sich auf dem besten Wege der Heilung. Sobald Knut hingegen zurück an seinen Unfall dachte, stellte sich in ihm ein Gefühl der Unruhe ein. Wie war es möglich, dass er den Maulwurfshügel als nicht als Hindernis erkannte? Er ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er inmitten der Abfahrt unbemerkt seine Augen schloss. Und den Erdaushub einfach nicht kommen sah.

„Knut, hast du was gegessen? Hast du dir bei Omi einen Eierkuchen abgeholt?“

Knut nickte eilig, obwohl er mit seinen Gedanken nicht beim Mittagessen war. Werner bemerkte dies und schob, das Thema wechselnd, nach: „Und, wo soll dein Tipi stehen?“

Knut befand sich wieder in der Gegenwart und erzählte seinem Großvater mit kurzen Worten, warum sein neuer Unterschlupf neben dem Sandkasten errichtet werde sollte. Dabei verheimlichte Knut seinem Opa, dass er das Tipi später mit dem Kamin beheizbar machen wollte.

„Dann lass’ uns doch gleich loslegen, mein Junge!“

Knut nickte wieder zügig, diesmal mit einem sanften Lächeln gepaart. Werner hatte schon Wochen zuvor dünne Fichtenstämme und eine halbkreisförmige Plane besorgt. Damit stand dem Bau nichts mehr im Wege. Die beiden arbeiteten Hand in Hand und Knut bereitete es sichtlich Freude, seinem Großvater so nahe zu sein. Er schaute begeistert zu, wie das Tipi Stück für Stück zunehmend Form und Gestalt annahm. Werner wusste genau, was er tat, schließlich war er als Vorarbeiter im Baugewerbe tätig. Jede Schraube saß passgenau und Knut half motiviert beim Festhalten der Nadelholzstämme. Anschließend packten die beiden synchron die glänzende Plane und Werner befestigte diese mit kräftigen Hammerschlägen an den Haltesträngen. Nach nur vier Stunden war das Tipi fertig. Knuts neuer Unterschlupf ragte rund zwei Meter in die Höhe und seine schneeweiße Erscheinung konkurrierte mit dem gleißenden Sonnenlicht der zweiten Tageshälfte. Links neben dem Tipi strahlte der aufgeräumte Sandkasten und rechts thronten und wankten einige herrliche Sonnenblumen im schüchternen Sommerwind. Knut war glücklich. Er umarmte seinen Opa mit einem kindlichen, aber beherzten Druck und ließ Werner – über drei Dutzend Sekunden hinweg – nicht mehr los.

„Mein Junge, gern geschehen – gern geschehen.“

Werner hatte Tränen in den Augen. Zähren, die er ewig nicht mehr nach außen dringen ließ. Knuts Großvater berührte die Geste seines Enkels sehr. Knut war sein Ein und Alles, auch wenn er dies sein Leben lang nie aussprechen wird. Manchmal fehlen Worte auf diesem Planeten – vor allem dann, wenn sie von einem anderen Menschen dringend benötigt werden.

Rund zwei Wochen später saßen Thilo und Knut zusammen im Tipi. Der Nachbarsjunge hatte sich aufgedrängt und wollte Knuts Unterschlupf mit eigenen Augen besichtigen. Noch vor Tagen gelang es Knut, geschickt ausweichen, als Thilo ihn am Gartenzaun ansprach, ob er rüberkomme könnte. Knut erwiderte, dass er zuerst seinen Opa fragen müsste. Doch dieser wäre gerade nicht da, sondern zur Mühle unterwegs, um Haferfocken für die Hühner zu besorgen. Thilo zischte daraufhin sichtlich pikiert ab und spielte mit seinem blauen Metallbagger im Zwiebelbeet der Eltern. Die Dohle fog also weiter. Vorerst.

An diesem wolkigen Tag im August hockte Thilo in Knuts Tipi. Die beiden redeten nicht viel und der Platz im Zelt reichte gerade aus, um nicht in direkten Körperkontakt zu geraten. Thilo schien neidisch zu sein, dass Knut so ein tolles Tipi besaß. Immer wieder stichelte er gegen ihn.

„Hält das Ding, wenn hier mal mehr Wind weht?“

Knut reagierte äußerlich gelassen auf die Anspielungen seines Gastes. Aber gerade diese Reaktion ließ Thilo nicht nachgeben, sondern bestärkte ihn darin, Knuts Unterschlupf weiter madig zu machen.

„Pass bloß auf, dass dein Haus nicht einstürzt.“

Thilo packte seinen dunkelgrünen Rucksack aus, in dem sich drei Äpfel und zwei kleine Packungen Milchschokolade befanden.

„Willst du was davon?“

Knut schaute sich den Inhalt der Schultertasche an und fragte, ob er ein Stück Schokolade bekäme. Thilo lächelte mit gewissem Kalkül.

„Nimm', kein Problem. Aber dann darf ich regelmäßig mit in dein Tipi kommen!“

Knut rückte einige Zentimeter zurück an den Rand des Zeltes, ließ ein Dutzend Sekunden verstreichen und verneinte mit stummem Kopfschütteln.

„Dann nicht, du Trottel!“

Mit diesen kurzen Worten um sich werfend, schnappte sich Thilo die Lebensmittel und legte sie zurück in den Ranzen. Er stand auf und blieb bei seinem Fortgang noch absichtlich an einem Fichtenstamm hängen, der die Stabilität des Unterschlupfes gewährleistete. Die Plane gab ein raschelndes Geräusch von sich und das Zelt wackelte heftig. Doch es hielt dem Angriff stand. Das Tipi trug keinen bleibenden Schaden davon. Knut schloss die Augen und versank in seinen Gedanken. Von innen war noch zu hören, wie Thilo sich draußen Meter für Meter entfernte. Dann wurde es endlich still.

Der Hochsommer näherte sich seinem Ende und in den Gärten roch es nach den verschiedensten Duftrosen. Die Obstbäume trugen satte Fruchtkörper, die sich inmitten ihrer Reifephase befanden. Obwohl es deutlich über zwanzig Grad warm war, wollte Knut an jenem Tag seinen selbst gebauten Kamin ausprobieren. Werner und Ingrid waren zu einem längeren Spaziergang aufgebrochen und der Moment erschien ihm passend. Knut schnappte sich etwas Zeitungspapier aus der Küche und knüllte den Zündstoff zu handlichen Ballen. Ein Feuerzeug befand sich im Wohnzimmer. Unterhalb des Fernsehers sichtete er eine Schublade, in der Metalluntersetzer für Gläser, leere Geburtstagskarten und ein Set Bowlespieße aus Lauschaer Glas lagen. Die dünnen Stäbe waren mit bunten Tierkörpern verziert und zogen sogleich Knuts Interesse auf sich. Den Weißstorch bewunderte er besonders aufmerksam, weil ihn diese Tiere begeisterten. Knut wusste, dass es sich um Zugvögel handelt, die ihren Weg nach Ostafrika ohne Landkarte bestreiten. Wie gern würde er diesen Herbst mit ihnen zusammen fortfiegen und ihr warmes Winterquartier besuchen.

Doch nun wollte er erstmal den Kamin ausprobieren. Knut schnappte sich die benötigten Utensilien und wanderte zu seinem Unterschlupf. Dort angekommen, legte er die Zeitungsballen in den Kamin und verteilte diese geschickt im Heizraum. In den Tagen zuvor hatte er sein Projekt umgesetzt und dafür den Sandkastenkies mit etwas Regenwasser gemischt. Mit beiden Händen formte er den Kamin aus, ließ aber im oberen Bereich des Heizraumes ein Loch offen. Mit einem breiten Kupferrohr, das er in Opas Werkstatt fand, wollte er den Rauch senkrecht aus dem Tipi leiten. Knut schnappte sich das Feuerzeug und zündete etwas Papier an. Minimale Glut war zu sehen, doch ein standhaftes Feuer entwickelte sich nicht. Dafür qualmte es umso heftiger, denn der Kies besaß gewisse Restfeuchte und eine vernünftige Flammenbildung erschien unmöglich. Nach einigen Minuten brach er sein Experiment ab und erstickte das kokelnde Papier mit einem Fetzen Bettlaken, der ihm als Bodenbelag für sein Tipi diente. Etwas niedergeschlagen, beseitigte Knut die Spuren seines Heizversuches penibel und packte das Feuerzeug zurück in die Schublade. Dabei achtete er darauf, dass alles wieder so lag, wie er es vorgefunden hatte. Niemand sollte Verdacht schöpfen und etwas von seinem Geheimnis erfahren.

Als Knut einige Zeit später den Stau auf seiner Sandkastenautobahn aufösen wollte, weil durch den Zusammenprall zweier Fahrzeuge ein Krankenwageneinsatz notwendig wurde, bemerkte er, dass er nicht mehr allein war. Thilo stand am Maschendrahtzaun und beobachtete das Geschehen in der Sandkiste. Die helle Iris seiner Augen spiegelte die Metallautos in Form, Farbe und Detailreichtum exakt wider. Nachdem Thilo wortlos einen kurzen Zeitabschnitt verstreichen ließ, sprach er Knut direkt und unverblümt an:

„Trottel, ich hab’ mitbekommen, was du gemacht hast. Der Qualm war überall.“

Knut schien irritiert, schließlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er beobachtet wurde. Er äußerte sich nicht zu Thilos Anspielung, sondern kümmerte sich stoisch darum, dass der Verkehr nach dem Unfall wieder ins Rollen kommt. Der ungebetene Gast ließ jedoch nicht locker:

„Ich werd’ deinem Opa erzählen, dass du hier den halben Garten abgefackelt hast. Der wird sich freuen. Aber wer so blöd ist, hat das eben verdient.“

Knut wirkte innerlich schockiert. Thilo wusste also von seinem Geheimnis und drohte ihm damit, es seinem Opa unter die Nase zu reiben. Die Situation entwickelte sich in eine beunruhigende Richtung. Was wollte Thilo von ihm? Warum ließ er ihn nicht einfach in Ruhe? Plötzlich stand Knut ruckartig auf und packte Thilo am Hals. Mit seiner rechten Hand drückte er ihm den Kehlkopf zu und für Sekundenbruchteile verwehrte Knuts Daumen jedes weitere schäbige Wort, das Thilo hätte äußern können. Knut war bis zu diesem Nachmittag nie handgreifich geworden. Es platzte deshalb so heftig aus ihm heraus, weil die stechende Ungerechtigkeit Knuts Luftzufuhr abrupt unterbrach. Es handelte sich defnitiv um Notwehr. Thilo rannte winselnd davon, nachdem Knut ihn losgelassen hatte. Doch die Dohle formulierte bereits im fiehenden Modus ihre Rache: „Dich mach‘ ich platt.“

Als Ingrid und Werner von ihrem Spaziergang zurückkehrten, war es kurz nach achtzehn Uhr. Knut plagte seit dem Nachmittag die splitternde Angst, dass Thilo ihn tatsächlich verraten könnte. Was war zu tun? Sollte er seinen Großeltern beichten, was heute Nachmittag geschah? Doch wie würden Oma und Opa reagieren? Würden sie ihn für sein Fehlverhalten tadeln? Knut fühlte sich wie ein Regenwurm, der im Schnabel einer Dohle gefangen war und sich nicht ausmalen konnte, wo er am Ende landen wird. Sicher war nur eines – lebend kommt er hier schwerlich heraus.

Knut schwieg. Zu groß war die Angst, dass es Ärger mit seinen Großeltern geben würde. Nichts wäre schlimmer, als dass sein Opi böse auf ihn ist und fortan nicht mehr mit ihm im Garten bastelt. Und auch Omi sollte so lieb zu Knut bleiben, wie sie es immer war. Die Kinderseele schien spürbar angegriffen zu sein. Knut war sich nicht mehr sicher, ob er Thilo zu grob anfasste. Und ob es der Nachbarjunge infolge seines fesen Verhaltens tatsächlich verdiente, eine schmerzhafte Lektion zu erfahren. Gedanken über Gedanken, die selbst an Kindern rütteln und wanken.

Werner wies seinen Enkel darauf hin, dass es bald Abendbrot gäbe und fragte ihn, ob er seiner Oma bei der Vorbereitung helfen würde. Knut nickte in seiner gewohnten Bewegung und begab sich eifrig in die Küche, um Ingrid unter die Arme zu greifen. Knuts Omi schälte Kartoffeln und bereite nebenher die süßsaure Soße vor, die ihre Senfeier so köstlich machten.

„Oh, Knut, schön dass du kommst. Du willst mich bestimmt unterstützen. Wenn du magst, kannst du die Eier pellen. Pass’ aber bitte ein wenig auf, die Hühner haben sie frisch gelegt. Dann geht die Schale schlechter ab.“

Knut hatte schon einige Male beim Kochen mitgeholfen, doch die Senfeier machte seine Omi am liebsten allein. Sie schätze die Ruhe am Herd, aber auch die Möglichkeit, ohne beobachtet zu werden, ihre Soße nach Herzenslust und wechselndem Gusto verfeinern zu können. Ingrid war eine patente Köchin und ehrbare Ehefrau. Und obendrein eine tolle Omi, von der Knut viel lernte. Ihr Dasein wird ihm zeigen, dass nichts auf dieser Welt ohne Grund geschieht.

An diesem Abend im August war Knut sieben Jahre und siebenundzwanzig Tage alt. Die süßsauren Eier schmeckten wie immer hervorragend – getragen von einer leichten Senfnote und dem liebevollen Abschmecken mit Zucker, passten sie perfekt in die Abendstimmung. Alle drei griffen beherzt zu und Knut nahm seinen Zeigefnger zu Hilfe, um den letzten Klecks Soße vom Teller wischen zu können.

Der Schatten verweilt nur dort,

wo das Licht nicht hingelangt.

TIERE FRESSEN MENSCHEN.

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